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       # taz.de -- Essay Linke und Flüchtlingspolitik: Jeder einzelne Mensch zählt
       
       > Mit der Abschottung Europas sind auch viele Linke erleichtert, weil
       > weniger Flüchtlinge kommen. Aber für Flüchtlinge bedeutet sie neues Leid.
       
   IMG Bild: Müssen wir lernen solche Bilder auszuhalten? Kinder in Idomeni warten auf die Getränkeausgabe
       
       [1][Unter dem Titel „Geständnisse eines Linken“] schrieb am Montag der
       überaus geschätzte Kollege Ulrich Schulte über seine Zweifel, ob es nicht
       doch eine ziemlich gute Nachricht sei, dass derzeit nur noch sehr wenige
       Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Zweifel, die, wie er schrieb,
       innerhalb der liberalen Linken eigentlich tabu sind. Wolle er wirklich,
       fragt der Autor sich selbst, dass „noch viele Millionen Flüchtlinge
       kommen?“ Dass „all die Müden, Armen und Heimatlosen, die Ausgebombten und
       Verzweifelten aus dem Nahen Osten“ nach Deutschland kämen? Und sagt: „Es
       schmerzt, das zuzugeben. Aber die Antwort auf diese Fragen ist: Nein.“
       
       Wer keine Zweifel hat, dessen Überzeugungen sind auch nicht viel wert. Und
       wer in der Hilfe für geflüchtete Menschen aktiv ist, dürfte mehr als einmal
       Zweifel bekommen haben: An der Funktionsfähigkeit der deutschen Bürokratie,
       an der eigenen Rolle, Staatsversagen durch ehrenamtliche Hilfe
       auszugleichen, an den eigenen Fähigkeiten, das Engagement über einen
       längeren Zeitraum durchzuhalten, und letztendlich, ja, auch an der Frage,
       ob „wir“ das wirklich schaffen.
       
       Und es stimmt, auch für viele der Ehrenamtlichen bedeutet es ein
       Durchatmen, nicht mehr jede Nacht unterwegs zu sein, um obdachlos gewordene
       Flüchtlinge irgendwie unterzubringen, bis in die Morgenstunden Feldbetten
       aufzubauen oder täglich Tausende von Essen bereitzustellen.
       
       Aber das ist zu kurz gedacht. Um von unseren Befindlichkeiten wegzukommen:
       Nicht nur für diejenigen, die jetzt in Idomeni im Schlamm stecken, bedeuten
       die geschlossenen Grenzen eine Katastrophe, sondern auch für viele
       derjenigen, die schon hier sind.
       
       ## Zerrissene Familien
       
       Da ist zum Beispiel Ammar A., 26, Computerspezialist aus Damaskus. Vor gut
       sechs Wochen ist er in Berlin angekommen, hat es als einer der Letzten mit
       seiner hochschwangeren Frau über die Balkanroute geschafft. Sein Bruder
       Ramy, 24, ist schon seit einem halben Jahr hier. Beide leben in einer vom
       Roten Kreuz betriebenen Notunterkunft in Berlin-Karlshorst. In Berlin ist
       Ammar Vater geworden. Ramy ist inzwischen als Flüchtling anerkannt, Ammar
       und seine Familie stehen noch am Anfang, aber beide könnten eigentlich zur
       Ruhe kommen, Schwung holen, Deutsch lernen, mit Elan ihr neues Leben in
       Deutschland beginnen.
       
       Könnten. Wenn da nicht Anas wäre, der ältere Bruder, 27 Jahre alt, der mit
       seiner Frau und seiner vierjährigen Tochter im griechischen Idomeni
       festsitzt. Ramy und Ammar wissen nicht, ob Bruder und Familie die
       mazedonische Polizeiaktion vor einigen Tagen unverletzt überstanden haben.
       Mal haben sie Kontakt, mal nicht.
       
       Und da ist ihre Mutter mit den anderen der insgesamt sechs Kinder. Sie ist
       gerade erst aus Syrien heraus- und mit Ramys und Ammars jüngeren Brüdern,
       15 und 17, und ihrer 16-jährigen Schwester in der Türkei angekommen. Nur
       weil sich die Mutter beim Grenzübertritt ein Bein gebrochen hat, wurde sie
       nicht sofort über die Grenze zurückgeschickt, wie es inzwischen, von Europa
       unkommentiert, üblich geworden ist. Jetzt sitzt dieser Teil der Familie in
       einem Lager nahe der syrischen Grenze fest. Auch zu ihnen versuchen Ammar
       und Ramy irgendwie Kontakt zu halten.
       
       Wie soll man sich auf einen Neuanfang konzentrieren, wenn die engsten
       Verwandten in solcher Not sind? „Ich glaube, dass sie nie richtig hier
       ankommen, solange die Familie nicht zusammen ist“, sagt Christian Stegmann.
       Der Physikprofessor ist seit August vergangenen Jahres in der Kleiderkammer
       der Karlshorster Notunterkunft als Helfer aktiv und kennt die Sorgen vieler
       Bewohner_innen.
       
       ## Ist Deutschland so durch-AfD-isiert?
       
       Wo manche Deutsche durchatmen, bleibt den Geflüchteten die Luft weg. Man
       braucht keine Empathie, um zu begreifen, dass uns das erneute Abschotten
       nicht Erleichterung verschafft, sondern mehr Probleme in der nahen Zukunft.
       
       Trotzdem bleibt Empathie ein Kernelement. Wer eine menschlichere Welt will,
       muss menschlich handeln.
       
       Was ist passiert seit Anfang September vergangenen Jahres, als die
       Bundeskanzlerin angesichts der schrecklichen Bilder vom Budapester Bahnhof
       entschied, die Menschen nach Deutschland weiterreisen zu lassen? Warum sind
       die Menschen aus Idomeni nicht schon längst hier? Ist Deutschland
       inzwischen so durch-AfD-isiert, dass wir alle, wie es Innenminister Thomas
       de Maizière (CDU) ausdrückte, „harte Bilder aushalten“, uns nicht mehr
       berühren lassen?
       
       Ich fürchte, ja. Auch in linken Debatten taucht die Frage auf, ob wir denn
       wirklich glaubten, Deutschland könne alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen.
       Mich erinnert das immer an eine Diskussion mit meinem Vater über den
       Wowereit-Ausspruch, er sei schwul, und das sei auch gut so. Nein, empörte
       sich mein Vater, das sei überhaupt nicht gut so! Man möge sich doch einmal
       vorstellen, alle Welt sei schwul, dann sterbe die Menschheit aus! Ja. Aber
       es sind eben nicht alle schwul. Und nicht alle Flüchtlinge wollen nach
       Deutschland.
       
       ## Die Furcht vor den Rechten
       
       Aber die Parolen der AfD sind in den Köpfen und kommen auch so schnell
       nicht wieder heraus. Warum ist ein Innenminister noch im Amt, der unter
       „Vorlegen eines Maßnahmenpaktes zur Integration“ nicht Sonderinvestitionen
       in Deutschkurse, schnellere Anerkennung von beruflichen Qualifikationen und
       vom Bund finanzierten Wohnungsbau versteht, sondern Sanktionen gegen
       „Integrationsunwillige“? Warum ist die Helferbewegung politisch so schwach?
       
       Viele haben Angst, die Rechte könnte stärker werden, wenn immer weitere
       Flüchtlinge kämen. Nach vielen Jahren der politischen Langeweile in der
       scheinbar gefestigten parlamentarischen Demokratie Deutschland macht sich
       Angst breit, das Eis könne womöglich doch sehr dünn sein, auf dem wir uns
       bewegen. Und prompt brechen wir gleich vorsorglich ein.
       
       Ja, Deutschland hat Probleme. Wie fast überall auf der Welt hat hier in den
       1990ern der neoliberale Diskurs den Rückzug des Staates als Allheilmittel
       etabliert, etwa im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Die Mieten in den
       Ballungszentren steigen seit Ewigkeiten, und jetzt fällt das auf? Irrsinn.
       Hat nur mit Flüchtlingen nichts zu tun.
       
       Aber in solchen Dingen offenbart sich ein Problem: Wenn wir immer davon
       sprechen, Deutschland sei ein so reiches Land, dass „wir“ es uns ohne
       Weiteres leisten könnten, große Zahlen Geflüchteter aufzunehmen, dann
       stimmt das statistisch und faktisch, spiegelt aber nicht das Lebensgefühl
       vieler wider, die einen sozialen Abstieg fürchten. Genau deshalb
       funktioniert ja die Selbststilisierung der – nun wahrlich nicht
       antikapitalistischen – AfDler und Pegidioten als „Systemkritiker“.
       
       ## Deutschland, das geht
       
       Linke Politik muss dagegen angehen, sozial Schwache gegen noch Schwächere
       aufzuhetzen. Sie muss aber auch sagen, dass Deutschland, dass Europa als
       Insel des Wohlstands auf Kosten des Restes der Welt nicht zu verteidigen
       sein wird. Man kann es „Bekämpfung der Fluchtursachen“ nennen, was
       eigentlich Binsenweisheiten linker entwicklungspolitischer Ansätze sind:
       Überwindung der ausbeuterischen Verhältnisse, Stopp des Kapitaltransfers
       von Süd nach Nord, Stopfen der Steuerschlupflöcher für nationale Eliten und
       internationale Konzerne, Stopp deutscher Waffenexporte. Und so fort.
       
       Aber um für internationale Umverteilung werben zu können, braucht es
       Umverteilung im eigenen Land – im Grunde eine ganz klassische
       sozialdemokratische Lehre. Diese Vorstellung aber scheint es allenfalls
       noch in Teilen der Linkspartei zu geben.
       
       Ja, es gibt viele unerledigte Aufgaben. Die Flüchtlingssituation ist für
       keine davon die Ursache. Sie führt uns aber direkt vor Augen, dass linke
       Politik keine Wohlfühlspielwiese irgendwo zwischen Bionade und
       evangelischer Grundschule ist.
       
       Es geht um Menschen, ihre Chancen, ihre Rechte, ihr Überleben. Und daran,
       dass es sich dafür einzusetzen lohnt, kann es doch eigentlich keinen
       Zweifel geben. Für den Augenblick heißt das, dass die Grenzen nicht
       geschlossen bleiben dürfen. Wenn der Rest Europas sich verweigert, nimmt
       Deutschland die Menschen eben allein auf. Das geht.
       
       12 Apr 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Essay-Fluechtlingspolitik/!5290251
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Pickert
       
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