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       # taz.de -- TTIP und die Idee vom Freihandel: Deutschland ist der größte Sünder
       
       > Nichts ist liberalen Ökonomen so heilig wie der freie Handel – doch
       > effizienter Freihandel ist unrealistisch. Deutschland ist dafür das beste
       > Beispiel.
       
   IMG Bild: USA! USA? Wie gut ist die freie Handelszone?
       
       Kaum ein Thema bringt mehr Menschen auf die Straße als TTIP, das geplante
       Freihandelsabkommen zwischen den USA und Europa. Die Menschen haben ein
       gutes Gefühl dafür, dass hier einer Ideologie wichtige Werte geopfert
       werden. Auf der anderen Seite steht die große Mehrheit der Ökonomen, die
       den Freihandel mit Zähnen und Klauen verteidigt. Für sie ist die Idee des
       Freihandels absolut zentral für erfolgreiches Wirtschaften. Wenn jedes
       Land, so die Idee, sich auf die Herstellung der Güter spezialisiert, die es
       am günstigsten produzieren kann, gewinnt die Welt insgesamt, weil damit
       alle produktiver werden.
       
       Nichts ist den liberalen Ökonomen und Politikern so heilig wie der freie
       Handel. Der Freihandel ist das Einzige, was die liberalen Ökonomen
       aufgeboten haben, um den Wohlstand der Nationen zu erklären. Die Theorie
       basiert im Kern immer noch auf einer Doktrin, die vor 200 Jahren der
       englische Ökonom David Ricardo postuliert hat. Damals befürchtete man, dass
       der freie Handel schaden könnte, weil einige Länder gegenüber anderen bei
       praktisch jedem handelbaren Produkt Vorteile hätten. Um solche absoluten
       Vorteile auszugleichen, müsste das unterlegene Land durch Protektionismus
       dafür sorgen, dass auch seine Produzenten eine Chance zum Überleben haben.
       
       Dagegen stellte David Ricardo sein berühmtes Prinzip, wonach es im
       internationalen Handel auf die komparativen Vorteile und nicht auf die
       absoluten Vorteile ankommt. Wenn also, das ist ein Beispiel von Ricardo, in
       einem Land ein Produzent besonders gut Schuhe herstellt, der Produzent in
       einem anderen Land aber besonders effizient ist in der Herstellung von
       Tuch, dann können die beiden miteinander Handel treiben, selbst wenn der
       Hersteller von Schuhen auch Tuch günstiger herstellen könnte. Die
       Spezialisierung, also die Konzentration des Schuhherstellers auf die Schuhe
       und des Tuchherstellers auf Tuch, würde für beide ein besseres Ergebnis
       erbringen.
       
       Schon dieses Beispiel zeigt, wie realitätsfern Ricardos Idee ist. Denn
       offenbar unterstellt er, dass der Schuster vollständig ausgelastet ist mit
       der Herstellung von Schuhen, so dass er gar nicht auf die Idee kommt,
       Schuhe und Tuch zugleich herzustellen. Es gibt aber in der Welt keine voll
       ausgelastete Volkswirtschaft. Jeder wird, wenn er absolute Vorteile hat,
       diese Vorteile auch nutzen. Unterstellt ist in der neoklassischen
       Handelstheorie, dass alle Produktionskräfte jederzeit voll beschäftigt sind
       und eine Ausweitung der Kapazitäten nicht möglich ist. Das ist absurd.
       
       ## Währungen sind Spielbälle der Spekulation
       
       Zudem unterstellt die Ricardo’sche Vermutung, dass – bei Vollbeschäftigung
       – die Entlohnung der Arbeitskräfte jederzeit und in allen beteiligten
       Ländern exakt die jeweilige Knappheit von Arbeit und Kapital widerspiegelt.
       Das ist eine nicht weniger heroische Annahme. Für den internationalen
       Handel sind Nominallöhne entscheidend, weil sie – zusammen mit den
       Währungsrelationen – die für den Handel entscheidenden Preise bestimmen.
       Was ist aber, wenn, wie das fast immer zu beobachten ist, in vielen Ländern
       die Inflationsraten weit auseinanderlaufen?
       
       Dann müsste es zumindest einen funktionierenden Mechanismus geben, der
       dafür sorgt, dass die weit auseinanderlaufenden Preise und Löhne – in
       internationaler Währung gerechnet – ausgeglichen werden. Dieser Mechanismus
       könnte die Wechselkursbildung zwischen den nationalen Währungen sein. Das
       aber funktioniert überhaupt nicht. Währungen sind heute zum Spielball der
       Spekulation geworden und werden über Jahre in die vollkommen falsche
       Richtung getrieben, da Spekulanten Inflations- und Zinsdifferenzen
       ausnutzen, um kurzfristige Gewinne zu machen. So gibt es auch hier keine
       rationale Ausgangsbasis für den Freihandel.
       
       Damit aber nicht genug. Die neoklassische Theorie des internationalen
       Handels unterstellt zudem, dass Direktinvestitionen, die von Produzenten
       aus Ländern mit hoher Produktivität in Ländern mit niedriger Produktivität
       und niedrigen Löhnen getätigt werden, jederzeit von den relativen Preisen
       von Arbeit und Kapital gelenkt werden. Man nimmt an, dass der westliche
       Produzent eines mobilen Telefons, der seine Produktion nach China
       verlagert, für die Produktion in China eine völlig neue Technologie
       erfindet, die wesentlich arbeitsintensiver als zu Hause ist, um dem
       niedrigeren Preis von Arbeit in China Genüge zu tun. Das ist nicht mehr
       fragwürdig, das ist lächerlich.
       
       Die neoklassische Gleichgewichtstheorie unterstellt, dass Unternehmen
       keinen Gewinn machen. Vor allem dürfen die Unternehmen keinen Gewinn
       machen, der sich aus einem monopolistischen Vorsprung ergibt. Wenn also
       mobile Telefone in China produziert werden, dann wird, nach dieser
       Vorstellung, die erfolgreiche westliche Technologie weggeworfen, und man
       erfindet für China eine neue, arbeitsintensive Technologie. Mit der stellt
       man das gleiche Produkt in gleicher Qualität her und bietet es auf dem
       Weltmarkt genau zum gleichen Preis und ohne Zusatzgewinn an.
       
       Damit verzichtet der Produzent – laut neoklassischer Theorie – auf den
       Gewinn, den er gemacht hätte, wenn er die hohe westliche Produktivität mit
       den niedrigen chinesischen Löhnen kombiniert hätte. Dann hätte er nämlich
       seine Lohnstückkosten, also die Produktivität dividiert durch die Löhne,
       deutlich senken können. Diese Chance nimmt der Unternehmer nicht wahr, denn
       er darf ja keinen Extragewinn machen.
       
       ## Wir müssen reden
       
       Direktinvestitionen haben heute so gewaltige Effekte, dass man zum Beispiel
       den chinesischen Handel in keiner Weise mehr mit dem normalen Handel eines
       der westlichen Industrieländer vergleichen kann. Der chinesische Handel
       besteht nämlich zum großen Teil aus dem Handel von westlichen Unternehmen,
       die ihren Standort in China haben. Man schätzt, dass 60 bis 70 Prozent der
       gesamten Exporte Chinas nicht Exporte chinesischer Unternehmen sind,
       sondern Exporte solcher ausgelagerten westlichen Unternehmen. Dies zeigt,
       dass die Begründung für den Freihandel nicht auf tönernen Füßen steht,
       sondern auf gar keinen.
       
       Daraus folgt, dass die gesamte Freihandelsideologie dieser Welt auf einer
       Theorie beruht, die nicht nur unrealistisch, sondern falsch ist. Der
       internationale Handel mag folglich frei sein, wir wissen jedoch nichts
       darüber, ob er effizient ist. Die Gleichsetzung von Effizienz und Freiheit
       ist es aber, die für TTIP und die üblichen Freihandelsverhandlungen die
       entscheidende Voraussetzung ist.
       
       Wir wissen nicht, ob die Liberalisierung des Handels effizient ist. Wir
       wissen aber sehr wohl, dass die Idee, jeder Eingriff in den freien Handel
       sei schädlich und ineffizient, einfach falsch ist. Ein Land beispielsweise,
       das sich gegen den massiven Import aus einem anderen Land wehrt, in dem
       Unternehmen mit extrem hohen Monopolgewinnen hohe Produktivität mit
       niedrigen Löhnen kombinieren, ist nicht zu verurteilen. Eine
       protektionistische Maßnahme, die sich dagegen richtet, kann insgesamt die
       Wohlfahrt auf der Welt verbessern, weil sie verhindert, dass durch solche
       Monopolgewinne im Prinzip gesunde Unternehmen im Inland geschädigt werden.
       
       Noch schlimmer als all das oben Erwähnte ist, dass einige Länder versuchen,
       in merkantilistischer Manier viel mehr zu exportieren als zu importieren.
       „Globale Ungleichgewichte“ heißt dieses Phänomen, das in krassem Gegensatz
       zur Freihandelsdoktrin steht. Deutschland ist hier der größte Sünder
       weltweit. Für den wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg, den der
       internationale Handel für die beteiligten Länder hat, sind die Überschüsse
       oder Defizite im Handel viel wichtiger als potenzielle
       „Produktivitätseffekte“. In Wirklichkeit gibt es, sobald nennenswerte und
       dauerhafte Außenhandelssalden auftreten, für die Handelspartner überhaupt
       keinen Anreiz, mit einem Land Handelsabkommen abzuschließen, das seine
       Überschüsse verteidigt.
       
       Weder gewaltige Wechselkursänderungen noch Direktinvestitionen noch
       Lohndumping sind Gegenstand der Freihandelsideologie. Das heißt,
       Handelspolitiker treffen ihre Urteile aufgrund einer Doktrin, die mit der
       realen Welt nichts zu tun hat. Heute mit der Handelspolitik die
       Handelsströme steuern zu wollen, ist so, als ob man mit Uhrmacherwerkzeug
       ein Auto reparieren will. Was die globalisierte Wirtschaft viel dringender
       braucht als eine doktrinäre Auseinandersetzung über Handelspolitik, ist ein
       Währungssystem, das verhindert, dass sich einzelne Länder über Lohndumping
       oder ähnliche Maßnahmen über lange Zeit ungerechtfertigte absolute Vorteile
       verschaffen.
       
       15 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heiner Flassbeck
       
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