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       # taz.de -- Angela Merkel zu Böhmermann: Erdoğan ist wichtiger als die SPD
       
       > Kanzlerin Merkel erlaubt Ermittlungen gegen Böhmermann. Der
       > Koalitionspartner schäumt und überhört die Kritik an Erdoğan.
       
   IMG Bild: Die Kanzlerin auf dem Weg zur Pressekonferenz
       
       Berlin taz | Dass sich Angela Merkel mit dem türkischen Präsidenten anlegt,
       geht im Rauschen unter. Der Lärm klingt, als ob der Hausmeister unten im
       Erdgeschoss des Kanzleramts einen Karren über die Fließen zieht. Neue
       Kaffeesahne vielleicht oder Papier für die Drucker.
       
       „Wir setzen uns gegenüber anderen Staaten dafür ein, Grundrechte zu
       achten“, sagt Merkel, als das erste leise Rasseln heraufschallt. „Wir
       fordern ihre Achtung und ihren Schutz auch von der Türkei ein“, sagt sie,
       als das Rasseln anschwillt.
       
       „Im Rechtsstaat sind Grundrechte elementar“, sagt sie, als das Geräusch
       ihre Stimme schon fast überdröhnt und ihr Leibwächter zur Treppe hastet, um
       für Ruhe zu sorgen.
       
       Wirklich doof. Dass die Kanzlerin die Türkei in einem öffentlichen
       Statement so deutlich angeht, hat es schon lange nicht gegeben. Als die
       türkische Regierung Anfang März eine ganze Zeitungsredaktion
       beschlagnahmte, betonte Merkel nur, dass die Wahrung der Pressefreiheit
       wichtig sei – ganz allgemein gesprochen. Dass sie jetzt Forderungen an
       Ankara stellt, ist gemäß dem fragilen Wörterbuch der internationalen
       Beziehungen eine andere Kategorie. Aber dieser Schwenk geht im Rauschen
       unter.
       
       ## Musterbeispiel für Juristen
       
       Das liegt nicht nur am Hausmeister im Erdgeschoss, sondern auch an den zwei
       Sätzen, die Merkel zuvor ausgesprochen hat. „Mit Schreiben vom 7. April
       2016, eingegangen im Auswärtigen Amt am 8. April 2016, hat die Republik
       Türkei ein Strafverlangen hinsichtlich des Moderators Jan Böhmermann wegen
       dessen Sendungsabschnitt über Präsident Erdoğan gestellt.“ Und: „Die
       Bundesregierung wird im vorliegenden Fall die Ermächtigung erteilen.“
       
       „Unfassbar!“, sagt ein Kameramann, als Merkels Statement zwei Minuten
       später vorbei ist. „Ich hätte von unserer Kanzlerin eine klar andere
       Haltung erwartet. Stattdessen werden wir nun Teil der türkischen Satire von
       Präsident Erdoğan“, schreibt in einer Pressemitteilung Thorsten
       Schäfer-Gümbel, Vizechef des Koalitionspartners SPD.
       
       Und das alles wegen einem Witz im Fernsehen, im ZDF.
       
       Wenn diese ganze Affäre einmal vorbei ist, taugt sie sicherlich wunderbar
       als Beispiel für angehende Juristen im Grundrechtsseminar. In etwa so: Ein
       Fernsehmoderator aus Köln-Ehrenfeld beleidigt in seiner Sendung einen
       türkischen Staatsbürger, hauptberuflich Präsident seines Landes. Er
       behauptet unter anderem, dass das „Gelöt“ des Türken „nach Döner“ stinke
       und dieser „am liebsten Ziegen ficken“ möge. Durch die groben
       Formulierungen, so der Moderator, wolle er den Unterschied zwischen
       zulässiger Satire und verbotener Schmähkritik verdeutlichen.
       
       ## Ambivalenter Spezialfall
       
       Der türkische Staatsbürger zeigt den Moderator daraufhin gemäß Paragraf 185
       des Strafgesetzbuchs an: Beleidigung. Zudem will er, dass der Moderator
       gemäß Paragraf 103 verfolgt wird: Beleidigung eines ausländischen
       Staatsoberhauptes. Dieser zweite Paragraf ist ein Spezialfall, denn bevor
       die Staatsanwaltschaft einem entsprechenden Strafverlangen nachgehen darf,
       muss die Bundesregierung zustimmen.
       
       Der Juraprofessor könnte seinen Studenten zwei Fragen stellen. Erstens:
       Macht es rechtlich gesehen einen grundlegenden Unterschied, dass die
       Bundesregierung jetzt zustimmt? Korrekte Antwort: Nein, wegen der ersten
       Anzeige ermittelt die Staatsanwaltschaft ohnehin schon. Es droht nun nur
       ein etwas höheres Strafmaß.
       
       Zweitens: Sollte die Staatsanwaltschaft demnächst tatsächlich Anklage
       erheben? Korrekte Antwort: Darüber gibt es unter Juristen unterschiedliche
       Meinungen. Ja, sagen manche, der Moderator habe den Türken eindeutig
       beleidigt. Nein, sagen andere, die Szene sei schließlich durch die
       Kunstfreiheit gedeckt.
       
       ## Seminar für Politologen
       
       Die Angelegenheit taugt aber nicht nur als Fallbeispiel für Jurastudenten.
       Nach zwei Wochen mit diversen Wendungen und ungezählten Wortmeldungen wäre
       die Causa Böhmermann auch ein Fall für die politikwissenschaftliche
       Fakultät. Genau genommen könnten Dozenten dort ein ganzes Semester mit der
       Angelegenheit gestalten.
       
       Der erste Tag des Seminars würde sich um den Beleidigten drehen. Darauf,
       dass dessen Geschlechtsorgan tatsächlich nach Döner riecht, weist überhaupt
       nichts hin. Dass Recep Tayyip Erdoğan ein unangenehmer Präsident ist, gilt
       in der Bundesrepublik aber als Konsens – sowohl wegen des Kriegs gegen die
       Kurden als auch wegen des Umgangs mit der Pressefreiheit in der Türkei. In
       der Flüchtlingsfrage hat sich Merkel trotzdem an Erdoğan gebunden. Alles
       zusammen macht ihre Entscheidung nun so unpopulär: Wie sie es auch
       anstellt, sie kann den Anschein nicht verhindern, dass ihre politische
       Zukunft vom türkischen Präsidenten abhängt – und sie deshalb kein Veto
       gegen die Ermittlungen einlegt.
       
       Der zweite Tag des Seminars würde sich um den Koalitionspartner drehen.
       Merkel hat schließlich nicht allein über die Angelegenheit entschieden.
       Formell waren auch Innen-, Außen- und Justizministerium beteiligt.
       
       ## Was heißt schon Heraushalten?
       
       Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, obgleich nicht
       offiziell zuständig, durfte ebenfalls mitreden. Seine Sozialdemokraten
       haben in der zurückliegenden Woche eine beeindruckende Wende zustande
       gebracht. Als das Strafverlangen der türkischen Regierung am Wochenende
       gerade erst im Auswärtigen Amt eingetroffen war, druckste die SPD noch
       herum.
       
       Zustimmen? Ablehnen? „Wir fahren gut mit dem Grundsatz, dass sich die
       Regierung aus der Justiz heraushält“, sagte Generalsekretärin Katarina
       Barley noch am Montag. Heraushalten heißt eigentlich: Die
       Staatsanwaltschaft machen lassen.
       
       Im Laufe der Woche ließen die Sozialdemokraten dann aber durchsickern,
       anderer Meinung zu sein als Merkel. Die beteiligten SPD-Minister
       Frank-Walter Steinmeier und Heiko Maas stimmten am Ende sogar dagegen, die
       Ermittlungen zu erlauben. Zwei Stunden nach Merkel treten sie am Freitag
       dann selbst vor die Kameras. Beide sagen: „Meinungs-, Presse und
       Kunstfreiheit sind höchste Grundgüter unserer Verfassung.“
       
       Das kann sozialdemokratische Überzeugung sein. Vielleicht hat die SPD aber
       auch einfach nur festgestellt, dass sie bei diesem Thema endlich mal gegen
       Merkel punkten kann.
       
       ## Böhmermanns Erfolg
       
       Und damit kommen wir zum dritten Tag des Seminars: Wie kommt Merkel aus der
       Situation raus?
       
       Die komplette Konfrontation mit Erdoğan wollte sie offenbar vermeiden.
       Deswegen überstimmte sie die SPD-Minister. Als Kniefall vor dem Türken soll
       das aber auch nicht erscheinen. Also bereitete sie auch etwas für ihre
       Kritiker vor: Die Forderung an die Türkei, Grundrechte zu schützen. Und die
       Ankündigung, den Paragrafen 103 bald aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
       
       „Wir werden einen Gesetzentwurf zu seiner Aufhebung vorlegen“, sagt die
       Kanzlerin am Ende ihres Statements. Manche Abgeordnete fordern das seit
       Jahrzehnten. Die Union hatte stets widersprochen. Jetzt stimmt sie zu.
       
       Ob geplant oder nicht: Das hat Jan Böhmermann, von dem diese Woche kein
       Wort zu hören war, ganz alleine erreicht.
       
       15 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
       
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