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       # taz.de -- Ausstellung über politische Sticker: „Qualitäts-Wurst“ mit Hetze
       
       > Die Ausstellung „Angezettelt“ präsentiert antisemitische und rassistische
       > Aufkleber von 1880 bis heute. Und sie zeigt, was man dagegen tun kann.
       
   IMG Bild: In der Weimarer Republik und im 3. Reich weit verbreitet: Liebesbriefe, die mit antisemitischen Verschlussmarken beklebt wurden
       
       Wenn es stimmt, dass Antisemitismus und Rassismus mehr über das Selbstbild
       von Antisemiten und Rassisten sagen als über die Objekte ihres Hasses, dann
       dürften einige von ihnen Probleme in Metzgereien und Reisebüros gehabt
       haben. Denn Schweine, Wurst und Fahrkarten ziehen sich konstant durch
       antisemitische und rassistische Aufklebermotive.
       
       Bereits im Jahr 1890 forderte eine antisemitische Kampagne für im Deutschen
       Reich lebende Juden „Freifahrkarten nach Jerusalem“. Mit Rückflugtickets
       für Flüchtlinge und Asylbewerber wirbt 120 Jahre später die NPD im
       Wahlkampf.
       
       Die Fürther Schlachterei Eugen Schönmetzler packte im Dritten Reich ihre
       „Qualitäts-Wurst“ in eine Banderole, die auch als Rabattmarke diente.
       Darauf war zu lesen: „Mein Einkauf hat mit Juden nichts zu tun“. Soll
       heißen, nicht nur die Metzgerei sei fest in deutscher Hand, man garantiere
       auch, dass kein Lieferant jüdisch sei. Einige Jahrzehnte später nimmt der
       „Kameradschaftsbund Barnim“ mit dem Aufkleber „Bratwurst statt Döner“ das
       Wurstmotiv wieder auf.
       
       Und auch das Schwein, das gläubigen Juden und Muslimen als unrein gilt, ist
       ein wiederkehrendes Bild der alten und neuen völkischen Propaganda.
       
       ## Antisemitische Briefverschlussmarken
       
       Das ist kein Zufall. „Nazis kennen ihren Stoff“, sagt Isabel Enzenbach,
       wissenschaftliche Mitarbeiterin am [1][Zentrum für Antisemitismusforschung
       an der TU Berlin] und Kuratorin der [2][Ausstellung „Angezettelt.
       Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute“], die bis
       Ende Juli im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen ist. Seit
       sechs Jahren forscht sie zu diffamierenden Aufklebern, Sammelbildern,
       Vignetten, Briefverschluss-, Schatz- und Rabattmarken.
       
       Enzenbach hat [3][ein Buch zu den Stickern herausgegeben], pädagogische
       Projekte geleitet und bereits 2014 eine [4][Ausstellung im Museum für
       Kommunikation in Frankfurt/M.] kuratiert, in kleinerem Umfang und auf den
       Antisemitismus beschränkt. Die antisemitischen Aufkleber stammen aus der
       Privatsammlung von Wolfgang Haney, einem deutschen Juden, der viele
       Familienangehörige während der Schoah verlor. „Ich will damit bewirken,
       dass die Leute wissen, was war bei den Nazis“, sagt Haney in einem
       Video-Interview, das nun in der Ausstellung zu sehen ist.
       
       Hinzugekommen sind auch Exponate zum Rassismus. Irmela Mensah-Schramm,
       [5][die seit 30 Jahren rassistische Aufkleber entfernt,] hat welche zur
       Verfügung gestellt. Auch ihr Arbeitswerkzeug ist zu sehen: Schaber, Rolle,
       Nagellackentferner, Abtönfarbe, Buntlack. [6][Das antifaschistische
       Pressearchiv Apabiz] hat ebenfalls Material beigesteuert.
       
       ## „Kleinformatige Propaganda“
       
       All das ist nun in vier Themenräumen auf 400 Quadratmetern zu sehen, zu
       begehen und zu lesen – auf deutsch und englisch, in Blindenschrift und
       [7][leichter Sprache], die sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten
       richtet. Die Themenräume heißen „Kampfzonen“, „Weltbilder im Wohnzimmer“,
       „Wessen Heimat?“ und „In guter Gesellschaft“.
       
       Sie veranschaulichen, wie antisemitische und rassistische Aufkleber an
       öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen haften bleiben, in
       Wahlkampf- und Krisenzeiten mehr, sonst weniger. In „Angezettelt“ wird die
       „kleinformatige Propaganda“ oft in großformatige und grob gerasterte
       fotografische Alltagsszenen eingebettet.
       
       Es ist egal, wie herum man die Ausstellung passiert. So oder so erwartet
       einen [8][„gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“] (Wilhelm Heitmeyer), die
       sich anpappen lässt. Man kann sich wahlweise von organisierten Antisemiten
       im späten 19. Jahrhundert anekeln lassen, vom Kolonialrassismus des
       Kaiserreichs, von NSDAP-Propaganda der Jahre 1925 bis 1945 oder davon, wie
       nach 1945 das Feindbild des verarmten Juden dem Motiv eines „Profiteurs des
       Holocaust“ weichen muss.
       
       Es folgen der dumpfe Rassismus von NPD und DVU in den Achtzigern und die
       Antiflüchtlingsslogans „Nein zum Heim“ und „Refugees not welcome“ der
       Gegenwart.
       
       ## Angst bedienen, Angst erzeugen
       
       „Um die eigenen Vorteile zu sichern, werden unterschiedliche Register
       gezogen“, sagt Kuratorin Enzenbach. Die Gestaltung ziele darauf ab, eine
       unkritische, musealisierende oder erhöhende Präsentation der Exponate zu
       unterlaufen. Das gelingt gut.
       
       Vielmehr wird die Alltagsgeschichte der Judenfeindschaft und des Rassismus
       sichtbar und wie reale oder angebliche Ängste bedient werden, um
       gleichzeitig Angst bei Juden und Migranten zu erzeugen – auf der Straße,
       vor einem Flüchtlingsheim, im Kegelverein, auf Toilettentüren und an
       Stromkästen.
       
       „Angezettelt“ ist eine gelungene Ausstellung und doch fehlt einiges. Linker
       Antisemitismus kommt nicht vor, es verschwimmen die Unterschiede von
       Antisemitismus und Rassismus, von Auslöschung und Ausgrenzung.
       
       Enzenbach betont: „Antisemitismus und Rassismus haben eine unterschiedliche
       Bildsprache. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Selbstbilder durch Abgrenzung
       erzeugen.“ In der Ausstellung stehe die Vergleichbarkeit über das Medium
       Aufkleber im Vordergrund, wie also Sticker Stigmata erzeugen oder
       verstärken. Und wie sie manchmal das Gegenteil erreichen.
       
       ## Reaktionen und Strategien der Gegenwehr
       
       Ein großer Teil der Ausstellung widmet sich Reaktionen und Strategien der
       Gegenwehr. Bereits 1920 erwirkt der [9][Centralverein deutscher
       Staatsbürger jüdischen Glaubens], dass der Reichspostminister alle
       Dienststellen anweist, Briefe mit antisemitischen Aufklebern nicht zu
       befördern – oft erfolglos.
       
       Über andere jüdische Verbände und [10][die „Eiserne Front“] um die SPD in
       der Weimarer Republik bis zu heutigen zivilgesellschaftlichen Gruppen zieht
       sich eine Klebespur des Widerstands, die sich aus Gegenpropaganda,
       juristischen Mitteln, kreativen Verfremdungen und ironischen Brechungen
       speist.
       
       Die Ausstellung hat Folgen. Schon nach wenigen Metern außerhalb des Museums
       fällt der Blick auf Abwasserrohre und eine Bushaltestelle, die beklebt
       wurden. Werbung, Konzerthinweise, kleine Gags, eine Faust zerschlägt ein
       Hakenkreuz, einmal „Refugees welcome“. Keine Nazi-Spuckis, aber einige
       Stellen, wo etwas abgerissen wurde. Man weiß nicht, was. Ist vielleicht
       auch besser so.
       
       19 Apr 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tu-berlin.de/fakultaet_i/zentrum_fuer_antisemitismusforschung/
   DIR [2] https://www.dhm.de/ausstellungen/vorschau/angezettelt.html
   DIR [3] http://www.zvab.com/buch-suchen/autor/isabel-enzenbach/
   DIR [4] http://www.mfk-frankfurt.de/angezettelt-antisemitismus-im-kleinformat/
   DIR [5] http://www.hassvernichtet.de/index.php?ks=k01s01
   DIR [6] http://www.apabiz.de/
   DIR [7] https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/LeichteSprache/leichteSprache_node.html
   DIR [8] http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/die-stiftung-aktiv/themen/gegen-gmf/definitiongmf/
   DIR [9] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/antisemitismus/centralverein.html
   DIR [10] http://www.150-jahre-spd.de/meilensteine/107932/1931_eiserne_front.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maik Söhler
       
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