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       # taz.de -- Parlamentswahl in Serbien: Glaube und Hoffnung
       
       > Regierungschef Aleksandar Vučić will sich am Sonntag erneut legitimieren
       > lassen. Der Nationalist Seselj könnte ihm die absolute Mehrheit nehmen.
       
   IMG Bild: Der Nationalist Vojislav Seselj auf Wahlkampftour in Subotica.
       
       Belgrad taz | Serbiens Premier Aleksandar Vučić mag Wahlen. Seitdem sich
       der Ultranationalist vor sechs Jahren in einen prowestlichen Politiker
       verwandelte, musste er kaum Niederlagen einstecken. Seine Serbische
       Fortschrittspartei (SNS) kam 2012 an die Macht, musste jedoch in der
       Koalition den Premierposten der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS)
       überlassen. Vučić setzte daher 2014 Wahlen an und gewann mit seiner SNS die
       absolute Mehrheit.
       
       Dennoch lässt Vučić zwei Jahre vor Ablauf des Mandats am 24. April wählen.
       Seinen Worten zufolge wollten Tycoons und Kriminelle ihn beseitigen. Daher
       wolle er sich und seine Reformpolitik abermals vom Volk legitimieren
       lassen.
       
       Die Soziologin Vesna Pešić sieht darin das Kalkül „autoritärer Machthaber,
       ihre Macht zu verlängern, indem sie „alle Medien erdrosselt und alle
       Institutionen zerstört haben“.
       
       Auch für den rechtskonservativen Politikanalytiker Đorđe Vukadinović gibt
       es keine plausible Erklärung dafür, die Menschen vorfristig an die Urnen zu
       rufen: Die Regierung sei stabil, auch gebe es keine größeren Proteste oder
       Streiks. Die Wahlen seien ausgeschrieben worden, um sie mit regulären
       Kommunalwahlen zu verbinden und so der SNS, vor allem in der autonomen
       Provinz Vojvodina, unter die Arme zu greifen. Die SNS und Vučić seien auf
       dem Höhepunkt ihrer Popularität. Diese könne jedoch bis zu regulären Wahlen
       2018 erheblich sinken.
       
       ## Ruhige Wahlkampagne
       
       Obwohl manche Kritiker diese Wahlen als rechtswidrig und als
       Machtmissbrauch bezeichneten, verläuft die Wahlkampagne ruhig. Die
       Opposition wirft zwar der SNS und Vučić Medienunterdrückung,
       Vetternwirtschaft, Machtusurpation und Unfähigkeit vor. Der kontert, dass
       die Oppositionsführer Serbien ausgeplündert und an die Schwelle des
       wirtschaftlichen Ruins gebracht hätten, als sie an der Macht waren.
       
       Stimmung will bei der Wahlkampagne nicht aufkommen, weil der Sieger
       feststeht: Laut Umfragen liegt die SNS zwischen 48 und 54 Prozent, der
       mitregierende SPS werden 10 Prozent vorhergesagt, gefolgt von der
       ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS) mit 8 Prozent.
       Alle anderen Parteien könnten an der Fünfprozenthürde scheitern.
       
       Trotzdem sagt Vučić, er „sei nahe daran, die Wahlen zu verlieren“. Das
       trifft den Punkt: Alles andere als die absolute Mehrheit wäre eine
       Niederlage. Denn er schöpft seine Macht aus der Unterstützung des Volkes,
       aufgrund derer er sich das Recht nimmt, sich über staatliche Institutionen
       zu stellen und jede Kritik zurückzuweisen. Vučić weiß: Sollte das Volk auch
       nur im Geringsten an ihm zweifeln, könnte sich das als der Anfang vom Ende
       seiner Alleinherrschaft erweisen.
       
       Der Chef der proeuropäischen Demokratischen Partei (DS), Bojan Pajtić,
       spricht von „nordkoreanischen Verhältnissen“. Das Politmagazin Vreme
       schreibt, dass Vučić 2014 Wahlen ausgeschrieben habe, um staatliche
       Institutionen seiner Partei und seinen persönlichen Interessen
       unterzuordnen, die Medien weitgehend gleichzuschalten und „der Politik
       jeden Sinn zu nehmen“. Die diesjährigen Wahlen hätten das Ziel, „die
       Überreste der kritischen Öffentlichkeit auszuschalten“.
       
       ## Kosovo ist kein Thema mehr
       
       Doch das sind vereinzelte Stimmen. In den serbischen Medien gibt es fast
       keine politischen Debatten Andersdenkender. Sowohl die SNS als auch die
       prowestliche Opposition bringen keine Ideologie ins Spiel. Es ist egal, wer
       sich als christdemokratisch oder sozialdemokratisch ausgibt. Kosovo ist
       kein Thema mehr, auch unbeglichene Rechnungen aus den Kriegen der 90er
       Jahre nicht. Selbst Demokratie an sich scheint den meisten Menschen in
       Serbien egal zu sein. Einem Großteil der Serben ist nur eines wichtig: ein
       besserer Lebensstandard.
       
       So dreht sich alles nur um den Glauben an Vučić, den Reformer, den
       unermüdlichen Kämpfer für das Wohlergehen Serbiens. Für die Opposition ist
       er ein Meister der Massenillusion, der dem Volk geschickt Hoffnungen auf
       ein besseres Leben verkauft. Die meisten Serben sehen in ihm den einzigen
       Hoffnungsträger. Das Motto der SNS ist einfach: Wirtschaftswachstum,
       Investitionen, Jobs – Vučić.
       
       Nur auf dem nationalistischen Flügel spielt Ideologie noch eine Rolle. Die
       SRS, deren Chef Vojislav Šešelj das UN-Tribunal für Kriegsverbrechen im
       Exjugoslawien Ende März freigesprochen hatte, sowie das Bündnis von
       Demokratischer Partei Serbiens (DSS) und Dveri sind gegen die EU, für ein
       Bündnis mit Russland und einen Kampf für das „serbische Kosovo“.
       
       Genau von dieser Seite wittert der starke Mann Serbiens Gefahr für seine
       absolute Mehrheit: Šešelj war sein politischer Ziehvater. Ein Teil der
       SNS-Wähler könnte sich dem alten Idol zuwenden. Aus Sicht der EU ist das
       irrelevant. Im Parlament werden mit großer Mehrheit proeuropäische Parteien
       vertreten sein und die nächste Regierung wird die EU-Integration
       fortsetzen. Mit Vučić an der Spitze.
       
       23 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrej Ivanji
       
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