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       # taz.de -- Film „Der Schamane und die Schlange“: Folgenreiche Taten im Urwald
       
       > Ciro Guerras Schwarz-Weiß-Film „Der Schamane und die Schlange“ über zwei
       > Expeditionen wirft einen neuen Blick auf den Kolonialismus.
       
   IMG Bild: Manduca (Yauenkü Migue), Theo (Jan Bijvoet), Karamakate (Nilbio Torres) auf dem Amazonas
       
       Seit sich die Digitaltechniken beim Drehen wie beim Zeigen von Filmen
       endgültig durchgesetzt haben, ist das schwarzweiße Bild verwaist. Soll
       heißen: Es hat die Verbindung zu seinem materiellen Ursprung, dem
       silberhaltigen Ausgangsmaterial, verloren. Im Kino ist es nur noch Effekt,
       Stilmittel. Ein Stilmittel, das Rechtfertigung braucht, weil es,
       vereinfacht gesagt, nur eines Knopfdrucks bedarf, um es einzusetzen.
       
       Wenn über den ersten Bildern von „Der Schamane und die Schlange“ die in den
       Wahnsinn treibende Schönheit des Dschungels gepriesen wird und dieser
       Dschungel aber „nur“ in Schwarz-Weiß – wenn auch in feinstimmig
       kontrastreichem – zu sehen ist, dann bewirkt das weniger Enttäuschung als
       Verfremdungsschock.
       
       Von dem Schock gehen mehrere Signale aus: Als erstes wird der Zuschauer
       gleichsam aufgefordert, die Farbe hinzuzudenken und damit seine eigenen
       Projektionen von Amazonas und Dschungel ins Spiel zu bringen, zum Zweiten
       wandelt sich der Film spielerisch den fotografischen Zeugnissen an, die die
       Expeditionen, von denen er erzählt, hinterlassen haben.
       
       Das künstliche „Neo-Schwarz-Weiß“ des Films ergibt aber noch auf einer
       weiteren Ebene Sinn. Auch die Figuren in „Der Schamane und die Schlange“
       haben die Verbindung zu ihren jeweiligen Ursprüngen verloren. Sie spüren
       ihnen nach in Träumen, Rekonstruktionen und Bildern.
       
       Zu Beginn ist da der hohläugige deutsche Forscher Theo (Jan Bijvoet), der
       zusammen mit seinem indigenen Begleiter Manduca (Yauenkü Migue), einem
       entlaufenen Kautschukplantagensklaven, ins kolumbianische Amazonasgebiet
       vorgedrungen ist. Zeit der Handlung sind die nuller Jahre des 20.
       Jahrhunderts und Theo fürchtet, dass er sterben könnte, ohne noch einmal
       sein Zuhause zu sehen.
       
       ## In den Dschungel hinein
       
       Gemeinsam suchen Theo und Manduca nach einer seltenen Pflanze, von der es
       heißt, sie könne Theos Krankheit heilen. In Karamakate (Nilbio Torres)
       treffen sie den letzten Überlebenden eines vernichteten Amazonasvolkes, der
       ihnen den richtigen Weg weisen soll. So brechen sie schließlich zu dritt
       auf, weiter den Amazonas hinauf, weiter in den Dschungel hinein.
       
       Dann greift der kolumbianische Regisseur Ciro Guerra zu einem
       erzählerischen Kniff: Er überblendet Theos Expedition mit einer anderen,
       Jahrzehnte später stattfindenden. Kaum sind Theo, Manduca und Karamakate
       aufgebrochen, schneidet der Film zu einem anderen Forscher, dem Amerikaner
       Evan (Brionne Davis), der irgendwann in den 40er Jahren denselben Weg
       kommt. Auch Evan trifft auf Karamakate (nun verkörpert von Antonio
       Bolívar), und auch Evan möchte von dem inzwischen schwer Gealterten zu
       ebenjener Pflanze geführt werden, die er aus Theos in Europa verlegten
       Büchern kennt.
       
       Aus der parallelen Erzählung der zwei Expeditionen gewinnt der Film seine
       besondere Spannung, wobei es ihm gelingt, das Phänomen des Kolonialismus in
       neuen und überraschenden Facetten aufzuschlüsseln. Man kann die beiden
       Forscherfiguren gegeneinander halten (Guerra ließ sich von den
       Reisetagebüchern von Theodor Koch- Grünberg, 1872–1924, und Richard Evans
       Schultes, 1915–2001, inspirieren), die beide als Naturkundler auf den
       ersten Blick nicht ins böse Bild vom weißen Eroberer und Vernichter passen,
       deren Taten aber trotzdem ihre gewichtigen Folgen im Urwald hinterlassen.
       
       ## Verhältnis von Weißen und Indigenen
       
       Ohne plakativ zu werden, zeigt Guerra auf, wie sich das Verhältnis von
       Weißen und Indigenen über die Jahrzehnte verändert hat. Wo der steife
       Naturkundler alter Schule Theo von seinen Gegenübern so manches Mal noch
       verlacht wird in herzlichem Unverständnis, hat sich gegenüber dem viel
       lockerer und selbstbewusster auftretenden Evan das Misstrauen verhärtet.
       Karamakate selbst ist als junger Mann ein zwar einsamer, aber stolzer
       Vertreter seiner Traditionen, als alter Mann aber beklagt er, nur noch eine
       leere Hülle zu sein und am Ende einer unterbrochenen Linie zu stehen.
       
       Natürlich hat sich auch das Terrain verändert in den 40 Jahren zwischen
       Theos und Evans Expedition. An einer Stelle wird das besonders deutlich,
       als nämlich Theo, Manduca und Karamakate auf ein Kloster stoßen, in dem
       Mönche die davongelaufenen Kinder der Kautschuk-Sklaven unter strengster
       Disziplin zu spanisch sprechenden Katholiken umerziehen. Die drei
       „befreien“ die Kinder und überlassen sie gezwungenermaßen doch ihrem
       Schicksal.
       
       Vier Jahrzehnte später finden Evan und der greise Karamakate an derselben
       Stelle ein nicht weniger repressives Regime vor. Es ist eine bittere kleine
       Parabel darauf, welche Folgen selbst die gut gemeinten Taten im fremden
       Terrain entfalten können.
       
       20 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Schweizerhof
       
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