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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Reaktionäre unter sich
       
       > Der Erfolg der Rechten in Europa beruht auf ihren Antworten zu Migration
       > und Sparpolitik. Es braucht eine solidarische Internationale.
       
   IMG Bild: Leider gar nicht süß, die Schweinchen: Pegida in den Niederlanden
       
       Sparpolitik und Migration sind in Europa seit einiger Zeit die
       beherrschenden Themen. Aber erst 2015 haben sich die beiden Fragen
       miteinander verschränkt und dabei zwei ganz unterschiedliche Antworten
       produziert: Die politische Reaktion auf die Sparpolitik war ein –
       mittlerweile gescheiterter – Aufstieg der radikalen Linken; die
       Migrationswelle dagegen führte zu einem – bislang ungebremsten – Aufstieg
       der radikalen Rechten.
       
       Die Rechtsradikalen verdanken ihre Erfolge großteils der Tatsache, dass sie
       auf beide Fragen umfassende und in sich logische Antworten bieten. Für die
       Linke bedeutet dies, dass ihre Zukunft wahrscheinlich davon abhängt, ob sie
       der radikalen Rechten ihre eigenen umfassenden und stimmigen Antworten
       entgegenzusetzen vermag. Das wäre umso wichtiger, als die traditionelle
       politische Mitte an Boden verliert und selbst zunehmend extremistische
       Positionen bezieht.
       
       Am 17. November 2015, wenige Tage nach den Anschlägen in Paris durch die
       Terrormiliz Islamischer Staat, bei denen 130 Menschen getötet wurden, fand
       in Prag eine Kundgebung statt, bei der Tschechiens Präsident als
       Hauptredner auftrat. Der ehemalige Sozialdemokrat Miloš Zeman – von 1998
       bis 2002 Ministerpräsident – forderte seine Mitbürger auf, sich der
       Gehirnwäsche durch die Massenmedien zu widersetzen, die ihnen Toleranz
       gegenüber Muslimen einreden wollten. Stattdessen forderte er Toleranz
       gegenüber Leuten, „die eine andere Meinung vertreten“ – um das Mikrofon
       sogleich an solche „Andersdenkenden“ weiterzureichen. Zu denen gehörte
       Martin Konvička vom „Block gegen den Islam“, der die „Meinung“ vertritt,
       man solle Muslime in Konzentrationslager stecken, die Bürgerrechte von
       „Moslem-Sympathisanten“ einschränken und ideologische Gegner verbrennen.
       
       Die Rede Konvičkas wurde nicht nur von Leuten bejubelt, die an die
       Überlegenheit der weißen Rasse und alle möglichen Verschwörungstheorien
       glauben, sondern auch von Hunderten ansonsten redlicher Bürger. Offizieller
       Anlass der Kundgebung war der nationale „Feiertag für Freiheit und
       Demokratie“, der an zwei Ereignisse erinnert: an den 17. November 1939 und
       die blutige Niederschlagung von Studentenprotesten durch die Nazibesatzer
       und an die Demonstrationen für Demokratie vom 17. November 1989. Offenbar
       lässt sich im heutigen Europa fast jeder Anlass für Hetzreden gegen die
       Diktatur des Multikulturalismus und insbesondere gegen die Muslime
       ausbeuten.
       
       ## Schwache Sozialdemokraten
       
       Politische Gruppen, die gegen die Einwanderung protestieren, sind in Europa
       schon seit Jahrzehnten aktiv. Größeren Einfluss erlangten sie jedoch nur in
       Ländern, in denen es tatsächlich viele Migranten gibt, und auch hier war
       die weltanschaulich begründete Xenophobie auf die extreme Rechte
       beschränkt. Heute zeigen Politiker wie Zeman, dass auch angebliche
       Vertreter der Linken und der Mitte auf fremdenfeindliche Parolen setzen.
       Und zwar auch in Ländern, die Masseneinwanderung nur vom Hörensagen kennen.
       
       Im heutigen Europa sieht sich die liberal-konservative bis
       sozialdemokratische Mitte, deren politische Hegemonie bis vor Kurzem mehr
       oder weniger unbestritten war, sowohl von außen unter Druck gesetzt als
       auch von innerer Auflösung bedroht. Zugleich schwenken die linken Parteien,
       die einst als linksradikal galten, auf den politischen Mainstream ein,
       während die alten Mainstream-Parteien rechtsradikale Positionen übernehmen
       oder zumindest mit ihnen liebäugeln.
       
       Extremistische und populistische Rechtsparteien sind auch in West- und
       Nordeuropa auf dem Vormarsch, etwa in den Niederlanden (Geert Wilders’
       Partei für die Freiheit), in Österreich (FPÖ) und seit den Landtagswahlen
       vom 20. März in Deutschland (AfD). In Frankreich könnte der Front National
       (FN) die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnen; in Finnland gehört die
       rechtspopulistische Partei „Die Finnen“ seit Mai 2015 der Regierung an;1 in
       Dänemark verschärft die neue, von der Dänischen Volkspartei (DF) tolerierte
       Regierung ihren Kurs gegen die Migranten; im Nachbarland erstarken die
       (antidemokratischen) Schwedendemokraten (SD). Und die britische
       Tory-Regierung orientiert sich mit ihren Maßnahmen gegen EU-Immigranten an
       der Politik und Rhetorik der EU-feindlichen Ukip.
       
       ## Die Rückkehr des Faschismus
       
       In Mittelosteuropa ist die extreme Rechte bereits an der Macht. Ungarns
       Ministerpräsident Viktor Orbán inszeniert sich seit 2015 als Verteidiger
       Europas gegen die „Migrantenhorden“. In Polen kam im Oktober 2015 eine
       Partei an die Macht, die das Orbán-Regime bewundert und offensichtlich
       nachahmen will. In Tschechien und der Slowakei haben (nominelle)
       Mitte-links-Regierungen die Rhetorik der xenophoben Rechten übernommen. Es
       ist schon seltsam, dass die nationalistischen Politiker der ehemaligen
       jugoslawischen Republiken, die zum Teil aus den Genozidparteien der 1990er
       Jahre hervorgegangen sind, heute als vergleichsweise moderate und
       vernünftige Politiker erscheinen.
       
       Zum ersten Mal seit 1945 beschäftigt die Rückkehr des Faschismus nicht nur
       eine rebellische Jugend oder alarmierte Linke oder Kriegsreporter aus den
       ost- und südosteuropäischen Krisenregionen. Bezüge zu den 1930er und 1940er
       Jahren sind auch in den Mainstream-Medien an der Tagesordnung, und die
       Angst vor einer Wiederkehr der Vergangenheit spielt auch in privaten
       Gesprächen eine immer größere Rolle.
       
       Die Parallelen sind tatsächlich unübersehbar: Wieder wird eine nach
       Religion und Rasse etikettierte Gruppe zum Objekt von Hass und
       Denunziation. Hunderttausende, die vor Unterdrückung und Krieg fliehen,
       werden in Lager gepfercht und an den Grenzen von der Polizei angehalten und
       schikaniert. Und selbst wenn sie eine anständige Unterkunft finden, leben
       sie in Angst vor Übergriffen fremdenfeindlicher Wutbürger.
       
       Die Regierung von Dänemark, wo die Juden unter der Nazibesatzung auf
       bewundernswerte Weise geschützt wurden, lässt den Besitz von Flüchtlingen
       konfiszieren. Frankreichs Präsident François Hollande wollte Terroristen
       die Staatsbürgerschaft entziehen. Und das Gerede vom ewigen Konflikt
       unvereinbarer Kulturen, von fremden Elementen, die eine Gefahr für die
       nationale Reinheit darstellen, ist erneut in Mode gekommen. Im Namen der
       Sicherheit werden Bürgerrechte beschnitten und an vielen Grenzen
       Stacheldrahtzäune hochgezogen.
       
       ## Die Idylle des einfachen Lebens
       
       Dass sich die Geschichte nicht einfach wiederholt, ist ein schwacher Trost.
       Die neue radikale Rechte will zwar nicht in die 1930er Jahre zurück. Doch
       einige der aufsteigenden Rechtsparteien verbreiten romantische Visionen
       einer nationalen Erneuerung, die eine glorreiche Vergangenheit, das
       vergossene Blut und den fruchtbaren Boden beschwören. Das gilt etwa für die
       ungarische Jobbik, die griechische Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) und die
       „Volkspartei Unsere Slowakei“, die seit den jüngsten Wahlen im Parlament
       von Bratislava vertreten ist.
       
       Zumeist formulieren diese Bewegungen jedoch bescheidenere Ziele und
       maßvollere Forderungen. Man bestreitet jegliche Sympathien für den
       Faschismus und bekennt sich zur Idylle des einfachen Lebens, das durch die
       Ankunft der Einwanderer und den Einfluss des Islams zerstört werde. Die
       erfolgreichsten dieser fremdenfeindlichen Kräfte propagieren eher ein
       unverhüllt materialistisches Programm: Sie wollen, dass der Reichtum und
       der Wohlstand Europas den Europäern vorbehalten bleiben.
       
       So gesehen ist die „neue Rechte“ – im Gegensatz zu den Faschisten und
       Nationalsozialisten der 1930er Jahre – eine durch und durch bürgerliche
       Bewegung, verankert vor allem in den Mittelschichten. Ihr Thema ist nicht
       die Wiederherstellung nationaler „Größe“, sondern die Wahrung bestehender
       Privilegien auch unter Bedingungen einer zunehmend vernetzten Welt. Deshalb
       kommt in ihren Verlautbarungen das „Volk“ viel seltener vor als das Wort
       „Freiheit“.
       
       Diese neue Rechte hütet sich auch, ihre Anhänger dazu aufzufordern, ihre
       Gegner auf der Straße zu verprügeln – das tun nur die Sympathisanten an den
       radikalen Rändern. Ihre Forderung lautet, dass der Gegner gar nicht erst
       auf der Straße auftauchen darf. Deshalb ist der Hinweis auf die drohende
       Masseneinwanderung „fremder Elemente“ für die neue Rechte das ideale
       Vehikel: Sie muss die gutbürgerlichen Massen gar nicht zu Pogromen
       aufhetzen; die Leute laufen ihr fast von selbst zu, weil sie sagen: „Die
       Not der anderen geht mich nichts an. Schickt sie weg.“
       
       ## Preisgabe des Sozialvertrags
       
       Diese neue Rechte hat sich in einem längeren Prozess herausgebildet. Wenn
       Menschen sich auf ökonomischer Ebene den Marktgesetzen hilflos ausgeliefert
       fühlen, setzen sie auf die kulturelle Ebene. Das heißt, sie identifizieren
       sich mit kleineren Einheiten (Nationen oder Kulturen), von denen sie sich
       Schutz gegen eine Globalisierung versprechen, die sie als Bedrohung von
       außen wahrnehmen.
       
       Diese Politisierung ethnisch-kultureller Unterschiede wird durch eine
       andere Entwicklung begünstigt: durch die Preisgabe des europäischen
       Sozialvertrags, dem sich Christdemokraten wie Liberale und Sozialdemokraten
       traditionell verpflichtet gefühlt hatten. Mit der Folge, dass
       selbstverständliche und allgemein akzeptierte staatliche Sozialleistungen
       zu einem knappen Gut wurden – und damit zum Objekt politischer Konkurrenz.
       
       Als die politische Klasse der EU das Problem der Staatsverschuldung an der
       europäischen Peripherie anpackte, wurden ganze Staaten zu Gläubigern ihrer
       Nachbarn. Dadurch wurde die Konkurrenz um den Wohlstand des Kontinents
       weiter verschärft und „europäisiert“. Wenn aber Nationalstaaten das
       Wohlergehen ihrer Bürger nicht mehr garantieren können, wenn die
       innerstaatlichen demokratischen Verfahren durch eine übernationale
       EU-Bürokratie ausgehöhlt werden, beginnt das Vertrauen ins parlamentarische
       System zu schwinden. Im Süden bestrafen die Wähler die alten Parteien für
       den „Ausverkauf“ an die Gläubiger; umgekehrt werden in Mittel- und
       Nordwesteuropa die alten Parteien abgestraft, weil sie dem
       „verschwenderischen“ Süden zu sehr entgegengekommen sind.
       
       Das Europa, das viele Migranten im Sommer 2015 als Fluchtziel ansteuerten,
       war also ein durch innere Konkurrenz zerrissener Kontinent. Viele nahmen
       die Migranten nur als eine weitere Gruppe wahr, mit der man teilen sollte.
       Und die Nationalstaaten projizierten ihre Angst vor einem weiteren Verlust
       nationaler Souveränität auf eine Gruppe völlig machtloser Menschen.
       
       ## Die Kultur sicherer Straßen
       
       Diejenigen, die durch die Globalisierung bereits verunsichert waren, sahen
       die „Migrantenflut“ als Resultat von Marktmechanismen, die zumindest
       teilweise schuld an den Hungersnöten und Kriegen waren, vor denen diese
       Menschen flüchteten. Verstärkt wird diese Angst durch die Wahrnehmung einer
       muslimischen Gefahr, die durch Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht und
       Attentate wie die in Paris und Brüssel immer wieder wachgerufen wird.
       
       Die Anti-Islam-Rhetorik und der „Kampf der Kulturen“ prägen inzwischen die
       Programme der neuen Rechten. Dabei spielt die Kraft der eigenen
       Nationalkultur, die für viele ältere Nationalismen so wichtig war, kaum
       noch eine Rolle. Für die neue Rechte ist die eigene Kultur nicht die der
       Masaryks und Goethes, der Wiener Staatsoper oder der Budapester Cafés,
       sondern die Kultur ausgeglichener Staatshaushalte und sicherer Straßen –
       also von Recht und Ordnung, abgerundet durch die Freiheiten der hart
       arbeitenden Mittelklasse.
       
       Obwohl die neue Rechte den Hass auf die EU pflegt, gibt sie sich als ein
       idealisiertes Europa von Menschen, deren materielle Errungenschaften durch
       die Eindringlinge bedroht seien. Und selbst lang verfeindete EU-Länder eint
       heute die Angst vor Muslimen und Flüchtlingen. In Ostmitteleuropa zum
       Beispiel war der Zusammenhalt zwischen den Nationalisten vielleicht noch
       nie so stark wie heute, da die Regierenden in Ungarn, Polen, der Slowakei
       und Tschechien sich gegenseitig zu ihrer harten Politik gratulieren.
       
       Auch in den anderen Ländern der Region spielt die neue Rechte die
       Mittelklasse gegen die unteren und marginalisierten Schichten aus. Sie
       beruft sich dabei auf eine sehr spezielle Vorstellung von Egalitarismus,
       die Ausländer ebenso ausschließt wie angeblich unproduktive Menschen im
       eigenen Land – beispielsweise Roma, Arbeitslose und verweichlichte
       Intellektuelle. Und wenn sie von „Freiheit“ spricht, meint sie vor allem
       die Freiheit der Erfolgreichen, ihren redlich verdienten Reichtum zu
       genießen.
       
       ## Verlustängste der Wohlhabenden
       
       Viele vernünftige Europäer sind entsetzt über diese neue, grassierende
       Fremdenfeindlichkeit, die dem etablierten liberal-demokratischen Konsens
       zutiefst widerspricht. Im Westen und im Norden Europas lässt sich die neue
       Rechte den faschistischen Restbeständen zurechnen, die nie ganz von der
       politischen Szene verschwunden waren. Im Osten kann man darauf verweisen,
       dass die Menschen nur begrenzte Erfahrungen mit Demokratie und Multikulti
       haben und das liberale Wertsystem noch nicht internalisiert haben.
       
       Allerdings besteht kein erkennbarer Zusammenhang zwischen zunehmender
       Fremdenfeindlichkeit und einem Defizit an liberalen Werten. Westliche
       Medien berichten zwar ausführlich über die Angstmache der politischen
       Führer in Ostmitteleuropa, aber in den alten Demokratien des Westens und
       Nordens scheint die Xenophobie auch nicht viel schwächer ausgeprägt zu sein
       als in den weniger demokratieerprobten postkommunistischen Ländern. Und
       auch das könnte sich bald ändern.
       
       Auffällig ist weiterhin die äußerst schwache Korrelation zwischen
       Fremdenfeindlichkeit und der tatsächlichen Anzahl von Migranten – die in
       den meisten postkommunistischen EU-Staaten sehr niedrig ist. Und auch als
       Reaktion auf ökonomische Not und die Konkurrenz um Arbeitsplätze wird man
       die Xenophobie kaum sehen können. Sie erscheint eher als die Ideologie von
       Menschen, die weder sehr reich noch sehr arm sind, sondern zu den relativ
       Wohlhabenden gehören und große Angst vor dem Verlust ihres Wohlstands
       haben. Das sieht man etwa an der italienischen Lega Nord, die Ressentiments
       gegenüber dem ärmeren Süden bedient, oder in Frankreich, wo der Front
       National Ängste vor einem Niedergang des Landes schürt. Entsprechend findet
       die neue Rechte in Ländern, die lange einen großzügigen Sozialstaat und
       gesicherte Arbeitnehmerrechte hatten, mehr Zuspruch unter einheimischen
       Arbeitern, die Angst um ihre Zukunft haben.
       
       In den postkommunistischen Ländern Ostmitteleuropas kommt der Aufstieg der
       neuen Rechten kurz nach einer Phase der langen Depression, die beschönigend
       als „Übergang zur Marktwirtschaft“ bezeichnet wurde. Hier biedert sich die
       neue Rechte einer Mittelklasse an, die nicht verlieren will, was sie sich
       so hart erkämpft hat – und die nach 1989 der Idee verfallen ist, dass sie
       ihren Wohlstand mit niemanden teilen müsse.
       
       ## Rigorose Sparpolitik
       
       Eine wesentliche Rolle für die Entstehung dieser Vorstellungen haben die
       liberalen Werte gespielt. Am deutlichsten wird der Zusammenhang zwischen
       Liberalismus und Fremdenhass bei Parteien wie der niederländischen
       „Freiheitspartei“ unter Führung des Rechtspopulisten Geert Wilders und der
       slowakischen „Freiheit und Solidarität“ (SaS), die heute die zweitstärkste
       Partei im Parlament ist. Beide treten für Unternehmerfreiheit wie für
       Homosexuellen- und Transgender-Rechte ein, die sie zu Merkmalen
       europäischer Überlegenheit erklären. Erinnern wir uns auch, dass sowohl die
       Freiheitliche Partei Österreichs als auch der Ungarische Bürgerbund
       (Fidesz) als liberale Parteien begonnen haben.
       
       Die liberalen Eliten jammern über die neuen illiberalen Tendenzen, lassen
       aber wenig Einsicht erkennen, dass sie selbst zu dieser Entwicklung
       beigetragen haben. Jahrzehntelang haben diese Eliten das Evangelium der
       Eigenverantwortung verkündet, besonders inbrünstig in Ostmitteleuropa. Aber
       jetzt fallen sie aus allen Wolken, dass niemand mehr für die Not der
       anderen zuständig sein will. Diese Eliten haben ständig gepredigt, dass man
       um des künftigen Wohlstands willen Opfer bringen und den Gürtel enger
       schnallen müsse. Aber nun, da ihre Volkswirtschaften endlich wachsen,
       wundern sie sich, dass die Leute ihr Geld zusammenhalten wollen.
       
       In den etablierten Demokratien Europas hat der Liberalismus, während er
       gegen den Rechtsextremismus kämpft, selbst extreme Formen angenommen:
       konservative, sozialdemokratische und liberale Parteien haben sich dem
       Marktfundamentalismus und rigoroser Sparpolitik verschrieben und von ihren
       sozialen Verpflichtungen verabschiedet. Und ein wachsender Teil der
       Bevölkerung findet sich mit den neoliberalen Rechtfertigungen für
       Ausgrenzung und Ungleichheit ab, kann jedoch das liberale Credo kultureller
       Gleichheit und Integration überhaupt nicht akzeptieren.
       
       ## Zwangsarbeit für Arbeitslose
       
       Im entscheidenden Moment der Verhandlungen über das griechische
       Rettungsprogramm im Juli 2015 bezog der slowakische Ministerpräsident
       Robert Fico eine harte Haltung gegenüber Athen, die er mit den eigenen,
       schmerzhaften Erfahrungen der Transformationsperiode rechtfertigte: „Die
       Griechen können sich gar nicht ausmalen, was die Slowakei damals
       durchgemacht hat.“ Statt die absurden ökonomischen Begründungen des
       deutschen Finanzministers zu übernehmen, ließ er die Griechen knallhart
       wissen: Wir haben gelitten und werden dafür sorgen, dass ihr auch leidet.
       Was wir heute besitzen, haben wir uns verdient – und euch geben wir davon
       nichts ab.
       
       Einige Monate später stand Fico an der Spitze der Opposition gegen die
       Aufnahme von Flüchtlingen – und konnte sich dabei praktisch derselben
       Rhetorik bedienen. Dabei muss man wissen, dass Ficos Partei Smer-SD
       (Richtung – Sozialdemokratie) die Wahlen von 2012 mit einem
       Antiausteritätsprogramm gewonnen und dieses Programm dann bis zu einem
       gewissen Grad auch erfüllt hat – nämlich für die anständigen, hart
       arbeitenden Bürger der Slowakei.
       
       Derselbe Robert Fico, der lautstark härteste Bedingungen für die Griechen
       und die totale Abschottung seines Landes gegen muslimische Flüchtlinge
       fordert, hat im eigenen Land für Arbeitslose eine Art Zwangsarbeit
       eingeführt, die speziell auf die slowakischen Roma zielt. Ficos Regierung
       will auch die Mittel für Forschungsprojekte in den Sozial- und
       Geisteswissenschaften drastisch kürzen, weil es sich dabei nicht um
       produktive Aktivitäten handle – wodurch implizit den Akademikern nachgesagt
       wird, sie seien ebenso faul wie Roma, Einwanderer und Griechen.
       
       ## Das Versagen der Mitte-links-Parteien
       
       Im März 2016 konnte Ficos Smer sich an der Macht behaupten, nachdem sie im
       Wahlkampf nur noch auf befestigte Grenzen und nationale Sicherheit gesetzt
       hatte. Doch diese Strategie hatte nicht das erhoffte Ergebnis. Die Wähler
       bedankten sich für die Angstkampagne, indem sie massenweise von der Smer zu
       noch radikaleren Parteien überliefen. Zum Beispiel zur libertären „Freiheit
       und Solidarität“ und der radikal-nationalistischen Slowakischen
       Nationalpartei (SNS); oder zur antiislamischen Partei „Wir sind eine
       Familie“, die der Unternehmer Boris Kollár nur drei Monate vor der Wahl
       gegründet hatte, oder gleich zur neofaschistischen „Volkspartei Unsere
       Slowakei“. Dadurch fiel die Smer auf 28 Prozent, nachdem sie 2012 noch 44
       Prozent der Stimmen erhalten hatte. An der Macht halten konnte sie sich
       nur, indem sie eine Koalition mit SNS und zwei weiteren rechten Parteien
       einging.
       
       Zwischen dem liberalen Establishment und der neuen Rechten, zu der auch die
       Smer gehört, obwohl sie sich offiziell der Sozialdemokratie zurechnet,
       besteht jedoch ein entscheidender Unterschied: Die Liberalen verkünden
       „Austerität für alle“, die neue Rechte dagegen verspricht „Austerität für
       die anderen“ und „Wohlstand für uns“. Der Unterschied zwischen der neuen
       Rechten und der Linken wiederum besteht darin, dass die Linke „Wohlstand
       für alle“ fordert – wobei inzwischen bedauerlicherweise auch offiziell
       linke Parteien zunehmend Positionen der neuen Rechten übernehmen.
       
       Das Jahr 2015 hatte mit der Hoffnung begonnen, dass Europa einen humaneren
       Ausweg aus der politischen und ökonomischen Krise finden könnte. Doch die
       Wahlerfolge der Linken – die in Griechenland mit der politischen Demütigung
       der Syriza-Regierung endete – werden inzwischen längst von den Erfolgen der
       fremdenfeindlichen Rechten überschattet. Der Widerstand gegen die
       Sparpolitik ist erlahmt – oder äußert sich vor allem als Widerstand gegen
       die Zuwanderer.
       
       Schuld an dieser Entwicklung sind auch die europäischen
       Mitte-links-Parteien, weil sie das wirtschaftsliberale Credo teilen, aus
       dem sich die migrantenfeindliche Rhetorik nährt. Durch ihr Mitwirken am
       Abbau des Sozialstaats haben sie sich – mal stillschweigend, mal
       ausdrücklich – der neoliberalen Logik unterworfen, derzufolge Wohlstand für
       alle nur über eine zeitweise Verarmung von Teilen der Gesellschaft zu
       erreichen sei.
       
       ## Die Armen und Ausgeschlossenen
       
       Jede linke Politik beruht jedoch darauf, dass es prinzipiell nicht zu
       rechtfertigen ist, wenn das Wohlergehen und die Macht von ein paar wenigen
       nur auf Kosten aller anderen zustande kommen. Wohlstand darf kein Privileg
       sein. Für genau dieses Privileg tritt jedoch die Rechte, egal welcher
       Spielart, seit jeher ein. Sie verfolgt die Strategie, die gesellschaftliche
       Mitte gegen die unteren Schichten und deren Untergruppen auszuspielen,
       während die Oberschicht ihre Privilegien ungestört genießen kann.
       
       Die Linke ist die politische Kraft, die in ihrem Kampf für Fortschritt und
       Emanzipation die Privilegien der wenigen in Errungenschaften für alle
       verwandeln will. Aber diese Linke muss immer wieder zusehen, wie ihre
       Teilsiege zu Niederlagen werden: Sie setzt sich für die Armen und
       Ausgeschlossenen ein und schafft es, dass bestimmte Gruppen nicht mehr ganz
       so arm und ausgeschlossen sind. Aber die Linke bleibt nur links, wenn sie
       auch für jene kämpft, deren Siege noch nicht gekommen sind.
       
       Was könnte für einen so verstandenen „Klassenkampf“ wichtiger sein als der
       Begriff der Exklusion? Was definiert „Klasse“, wenn nicht die Beschränkung
       von materiellen Gütern und Privilegien auf die eine Gruppe und den
       Ausschluss der anderen? Im globalisierten Kapitalismus gilt dies auch für
       die Exklusion ganzer Regionen und für die Ausgrenzung nach ethnischen oder
       religiösen Kriterien, die darüber entscheiden, wer zu welchen Bedingungen
       Arbeit findet und ob diese Arbeit angemessen bezahlt wird. Klassen- und
       Migrationspolitik gehören zusammen. Die Arbeitskräfte werden immer mobiler,
       und doch werden ihre Wanderungsbewegungen in einer globalisierten
       Weltwirtschaft, die auf ebendiese Mobilität angewiesen ist, durch
       arbeitsrechtliche Bestimmungen eingeschränkt.
       
       Hier liegt der Grundwiderspruch in der liberalen Konzeption von
       Bürgerrechten und Zivilgesellschaft: Sie beruhen auf dem Prinzip der
       Staatsbürgerschaft. Aber von den Gütern, die in einem Land konsumiert
       werden, sind nur wenige von den Bürgern dieses Landes erzeugt. Die Linke
       müsste sich gerade um diejenigen kümmern, die von den Privilegien der
       Staatsbürgerschaft ausgeschlossen sind.
       
       ## Fixierung auf Wahlen
       
       Doch auf diese Aufgabe ist die Linke heute in keiner Weise vorbereitet. Wo
       sie auf Teilnahme an Wahlen setzt, ist sie von den Wahlberechtigten
       abhängig – in einer Welt, in der Staatsbürgerschaft ein
       Exklusionsmechanismus ist. Wobei die am meisten ausgebeuteten Arbeiter in
       Ländern, die von ihrer Arbeitskraft leben, keinerlei Anspruch auf
       Staatsbürgerschaft haben.
       
       Ein Haupthindernis für die praktische internationale Solidarität ist
       heutzutage die Fixierung auf Wahlen. Und zwar nicht, weil das Streben nach
       politischer Macht jedes zivilgesellschaftliches Engagement korrumpieren
       würde, sondern weil noch die ehrenwerteste Konzeption von
       Bürgergesellschaft darauf beruht, Bürger gegen Nichtbürger auszuspielen.
       
       Aber selbst die Linken, die Solidarität mit Migranten und dem globalen
       Süden üben, sind angesichts der anstehenden Aufgaben zu schwach. Es müsste
       ihnen gelingen, den Anstoß für eine breite, weltweite Bewegung zu geben, so
       dass eine neue „Internationale“ entsteht, die sich – anders als die alte
       „proletarische Internationale“ – nicht an nationale Grenzen hält, sondern
       endlich auch die Arbeiter einbezieht, die auf der ganzen Welt herumwandern.
       
       12 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joseph Grim Feinberg
       
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