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       # taz.de -- Pro & Contra zum Kopftuchverbot: Neutralität vs. Glaubensfreiheit
       
       > Bei dem Kopftuchprozess vor dem Arbeitsgericht am Donnerstag werden
       > gewichtige Prinzipien abgewogen. Für beide gibt es gute Argumente.
       
   IMG Bild: Für Berliner Lehrerinnen verboten.
       
       ## Negative Glaubensfreiheit
       
       Was wiegt schwerer: die Glaubensfreiheit von LehrerInnen oder PolizistInnen
       – oder die staatliche Neutralität in Sachen Weltanschauung? Bei so einer
       großen Frage muss man wohl schwere Geschütze auffahren. Bitte schön: Wem
       die Errungenschaften der Aufklärung, allen voran die Trennung von Kirche
       und Staat, von Glaube und Vernunft, etwas bedeuten, kann nur für Letzteres
       stimmen. In einem demokratischen Rechtsstaat kann es nur eine „Bibel“
       geben: das Grundgesetz.
       
       Zwar ist es nicht per se erwiesen, dass Frauen mit Kopftuch oder
       Nonnenhabit oder Männer mit Kippa gegen die freiheitliche demokratische
       Grundordnung eingestellt sind. Aber wie soll jemand, der sein Handeln
       danach ausrichtet, was ihm Gott, Allah oder das Spaghettimonster
       einflüstern, Kinder zu mündigen Bürgern erziehen und ihnen beibringen,
       alles zu hinterfragen – inklusive der Dogmen ihrer LehrerInnen?
       
       Ähnliche Zweifel gab es auch beim Bundesverfassungsgericht (BVG), auf
       dessen Urteil sich nun die Kopftuchfreunde berufen. Zwei Richter schrieben
       in ihrer abweichenden Meinung, es sei „nicht realitätsgerecht“ zu meinen,
       die negative Glaubensfreiheit von SchülerInnen und Eltern bleibe
       unbeeinträchtigt, wenn LehrerInnen religiös konnotierte Kleidung tragen.
       Wir reden schließlich von Kindern, einem Abhängigkeitsverhältnis – und
       einer Vorbildfunktion!
       
       Zudem: Wenn der Staat zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist,
       was das BVG bejaht, sind das auch seine Amtsträger, seien es LehrerInnen
       oder PolizistInnen. Denn sie sind es, durch die der Staat handelt. Zwar ist
       es richtig, dass die Trennung von Kirche und Staat hierzulande nicht
       konsequent realisiert ist – Stichwort Religionsunterricht oder
       Kirchensteuer. Aber das ist kein Argument, den Laizismus nun komplett über
       Bord zu werfen. Susanne Memarnia
       
       ***
       
       ## Berliner Pseudolaizismus
       
       Ausgerechnet Berlin zögert, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
       umzusetzen. Das liegt an der Feigheit der Hauptstadt-SPD, die fürchtet,
       andernfalls bei der Wahl im September Stimmen an die AfD zu verlieren, wenn
       sie das Kopftuch bei Lehrerinnen erlaubt.
       
       Dabei steht das muslimischen Lehrerinnen in Deutschland nicht nur rechtlich
       längst zu. Berlin würde davon auch profitieren. Denn jede Frau mit
       Kopftuch, die als Lehrerin diesen Staat repräsentiert, ist ein Symbol für
       die Offenheit unserer Gesellschaft. Nichtmuslimische Schüler und Eltern
       könnten sehen, dass Frauen mit Kopftuch einen eigenen Kopf haben. Nicht
       jeder mag das ja glauben, gerade manche Atheisten sind sehr von ihrer
       eigenen geistigen Überlegenheit überzeugt. Lehrerinnen mit Kopftuch leben
       aber auch vor, dass sich muslimischer Glaube und die Identifikation mit
       diesem Staat nicht ausschließen müssen. Das ist das beste Argument gegen
       islamistische Rattenfänger, die das Gegenteil behaupten.
       
       Die Berliner SPD versteckt sich hinter einem Pseudolaizismus, um den Status
       quo zu wahren. Wenn sie es mit der Trennung von Staat und Religion ernst
       meinen würde, dann müsste sie auch Weihnachtsfeiern, Nikolaus und Ostern an
       Schulen verbieten: So „neutral“ müsste sein, wer Religion per se für obskur
       hält. So weit geht sie aber nicht, denn das würde ja eine Mehrheit
       verärgern. Mit ihrer Doppelmoral gibt sie privaten Arbeitgebern, die sich
       sträuben, Frauen mit Kopftuch anzustellen, weil sie Angst vor den
       Reaktionen ihrer Kunden haben, ein schlechtes Vorbild ab.
       
       Natürlich dürfen Lehrer und Lehrerinnen im Unterricht nicht missionieren.
       Aber das gilt für alle – nicht nur für Kopftuch tragende Lehrerinnen. Ein
       liberaler Staat sollte seinen Beamten aber auch keine diskriminierenden
       Bekleidungsvorschriften auferlegen. Daniel Bax
       
       14 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
   DIR Daniel Bax
       
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