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       # taz.de -- Beleidigung ausländischer Staatschefs: Der Schah, der Papst und Erdoğan
       
       > Der Paragraf 103 ist eine Erinnerung an die Willkürjustiz. Meist kümmern
       > sich Staatschef nicht um Witze, deutsche Behörden aber umso mehr.
       
   IMG Bild: Untrennbar sind Soraya (l.) und Schah Reza Pahlavi mit dem §103 verbunden
       
       Berlin taz | Angestaubt in der Requisitenkammer des deutschen Strafrechts
       lagernd und lange vergessen, ist er ein Relikt aus vordemokratischen Tagen:
       der Paragraf 103 StGB. Lange brütete die Bundesregierung darüber, ob sie
       dem Begehren des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nachkommen
       sollte und die Justiz zur Strafverfolgung des ZDF-Satirikers Jan
       Böhmermanns wegen „Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer
       Staaten“ ermächtigt, was sie am Freitag schließlich tat.
       
       Die Entscheidung, die ihr der nicht minder anachronistische Folgeparagraf
       104a abverlangt, ist weder eine juristische noch eine rein formale, sondern
       eine der Staatsräson: Ist eine juristische Aufarbeitung der Causa im
       politischen Interesse der Bundesrepublik oder nicht?
       
       In den 1950er Jahren wäre das überhaupt keine Frage gewesen. Ohne mit der
       Wimper zu zucken hätte die damalige Bundesregierung der Strafverfolgung
       zugestimmt. Denn genau um diese zu ermöglichen, hatte sie ja den Paragrafen
       103 wieder eingeführt. 1953 war die aus der Kaiserzeit stammende Vorschrift
       zur Ahndung der Beleidigung ausländischer Monarchen, die die Alliierten
       nach 1945 – wie das gesamte deutsche politische Strafrecht – suspendiert
       hatten, wieder in Kraft gesetzt worden, nun ergänzt um den Schutz auch
       ungekrönter Staatsoberhäupter.
       
       Gerne wären Adenauer und sein Außenminister Heinrich von Brentano sogar
       noch weiter gegangen: Es sollte endgültig Schluss sein mit despektierlichen
       und die diplomatischen Beziehungen störenden Artikeln über ausländische
       Potentaten. Deswegen planten sie 1958, auch noch einen Paragrafen 103a
       einzufügen: Wer öffentlich „eine herabwürdigende Behauptung tatsächlicher
       Art aufstellt oder verbreitet, die das Privat- oder Familienleben eines
       ausländischen Staatsoberhauptes oder eines seiner Angehörigen betrifft und
       geeignet ist, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu
       stören, wird ohne Rücksicht darauf, ob die Behauptung wahr oder unwahr ist,
       mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“.
       
       Um auch überhaupt keinen Zweifel an dem Willkürcharakter aufkommen zu
       lassen, schloss der Paragraf mit dem Satz: „Eine Beweisführung über die
       Wahrheit der Behauptung ist unzulässig.“
       
       ## Sensibler Schah
       
       Der Anlass für Adenauers und Brentanos Initiative, die für große
       öffentliche Empörung sorgte, waren die in schöner Regelmäßigkeit wieder
       kehrenden Beschwerden des persischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi, ein
       Geistesverwandter Erdoğans, über die „schrankenlose Zügellosigkeit“ der
       deutschen Presse. Aktueller Auslöser war eine Reportage im Stern mit dem
       Titel „Tausend und eine Macht“, in dem es unter anderem um die Scheidung
       des schillernden Despoten von seiner zweiten Frau Soraya Esfandiary
       Bakhtiari ging.
       
       Die „Ehre des Schahs“ sei verletzt, teilte der persische Botschafter per
       Verbalnote mit und drohte mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen,
       falls nicht in Deutschland gegen die verantwortlichen Journalisten
       strafrechtlich vorgegangen werde. Das jedoch war ein Problem. Zwar
       übermittelte die Bundesregierung ihr tiefstes Bedauern sowie ihre schärfste
       Missbilligung und genehmigte auch umgehend die Strafverfolgung nach dem
       Paragrafen 103 – aber leider enthielt der Stern-Artikel überhaupt keine
       inkriminierbaren Beleidigungen: Das Verfahren vor dem Landgericht Hamburg
       wurde eingestellt.
       
       Mit der Ausweitung der Ahndungsmöglichkeiten wäre eine Verurteilung
       trotzdem möglich gewesen. Doch der als „Lex Soraya“ verspottete
       Gesetzentwurf Adenauers scheiterte im Bundesrat. So musste sich Reza
       Pahlavi auch in den Folgejahren darauf beschränken, mit dem Paragrafen 103
       gegen ihm nicht genehme Presseveröffentlichungen vorzugehen. Was er auch
       tat, weswegen das fragwürdige Rechtskonstrukt bis heute als
       „Schah-Paragraf“ firmiert.
       
       ## Teurer Fotospaß
       
       Mitte der 1960er hatte der persische Menschenschlächter Erfolg. Sein
       Protest gegen eine witzig gemeinte Bildmontage des österreichischen
       Cartoonisten und Satirikers Harald Rolf Sattler, die im Dezember 1964 im
       Kölner Stadt-Anzeiger erschienen war, führte zu einer dreijährigen
       juristischen Auseinandersetzung, die im Januar 1968 mit der rechtskräftigen
       Verurteilung Sattlers und des verantwortlichen Ressortleiters Rolf
       Elbertzhagen zu niedrigen Geldstrafen endete.
       
       Die Fotocollage hatte den Schah im Gespräch mit dem saudischen saudischen
       Herrscher Abd al-Aziz ibn Saud gezeigt und war mit der Unterzeile versehen:
       „Also gut, gib mir die 30 000.-, und du kannst Farah Dibah haben!“ Bei der
       Strafzumessung hielten die Richter den beiden zugute, dass der schale
       „Fotospaß“ um die dritte Frau des Schahs keine politische Absicht gehabt
       und kein abwertendes Urteil enthalten habe.
       
       Gerne hätte der Schah noch ein weiteres Mal prozessiert: gegen die
       Studenten, die gegen seinen skandalösen Staatsbesuch in Deutschland im Juni
       1967 protestiert hatten. In ihrer Verbalnote bat die persische Botschaft,
       „alle rechtlichen Grundlagen und gesetzlichen Möglichkeiten zu benutzen, um
       die Verantwortlichen nach dem Gesetz zur Rechenschaft zu ziehen“. Das
       Bundesjustizministerium erbat daraufhin von denjenigen Bundesländern, in
       denen Anti-Schah-Demonstrationen stattgefunden hatten, Auskünfte über
       Majestätsbeleidigungen.
       
       Doch die politische Situation hatte sich verändert. So deckte sich in
       Hamburg die Staatsanwaltschaft erst einmal mit „Literatur über die
       politische Lage in Persien“ ein. „Wenn darüber entschieden werden muss, ob
       ein Plakat mit der Aufschrift ‚Persien ein KZ‘ als Beleidigung gegen das
       Staatsoberhaupt dieses Landes gewertet werden muss, ist es notwendig, die
       Situation zu kennen“, argumentierte der Hamburger Staatsanwalt Helmut
       Münzberg. Schließlich reiste Bundesinnenminister Paul Lücke nach Teheran
       und bewegte den Schah zu einem Verzicht auf die Strafverfolgung.
       
       ## Ermittlungen ohne Anlass
       
       Es gab und gibt viele ausländische Potentaten, die wenig mit Presse- und
       Meinungsfreiheit anfangen können und schnell beleidigt sind. Doch anders
       als der persische Schah und jetzt der türkische Präsident haben andere
       Staatsoberhäupter lieber darauf verzichtet, ihr „Strafverlangen“ offiziell
       der Bundesregierung vorzutragen. So ließ der damalige polnische
       Staatspräsidenten Lech Kaczynski lieber in Polen gegen die taz ermitteln.
       Anlass war eine 2006 erschienene Satire mit der Überschrift „Polens neue
       Kartoffel“. Der Artikel sorgte für heftige diplomatische Turbulenzen,
       Kaczynski sagte sogar ein Gipfeltreffen mit dem französischen Präsidenten
       und der deutschen Kanzlerin ab. Doch juristisch blieb die „Kartoffelaffäre“
       für die taz letztlich folgenlos.
       
       Die generelle Zurückhaltung der Staatschef hat die deutschen
       Strafverfolgungsbehörden allerdings nicht davon abgehalten, immer mal
       wieder von sich aus zu prüfen, ob der Paragraf 103 möglicherweise greifen
       könnte. So ermittelte 1987 die Polizei vorsorglich und völlig
       überflüssigerweise in der Berliner Hausbesetzerszene, weil der damalige
       US-Präsident Ronald Reagan auf Transparenten als „Mörder“ und „Faschist“
       bezeichnet worden war.
       
       2003 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen einen Marburger Metzger, der
       anlässlich des Irakkriegs den US-Präsidenten George W. Bush als
       „offensichtlich durchgeknallt“ und „blutgierig“ bezeichnet hatte. Das
       Verfahren wurde eingestellt. Weder Reagan noch Bush hatten eine
       Strafverfolgung gefordert.
       
       1994 konfiszierte die Münchner Polizei ein Transparent, mit dem eine
       Schülerin gegen den Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Li Peng
       protestiert hatte. „Mörder“ hatte darauf gestanden. Falls sich Li Peng
       beschwere, sei ein Verfahren gegen die 14-Jährige möglich, begründete die
       Beamten ihre Aktion. Er beschwerte sich nicht.
       
       ## Diplomatie vor Redefreiheit
       
       Durch mehrere Instanzen ging der Fall von Demonstranten, die im Juli 1975
       vor der chilenischen Botschaft in Bonn gegen die Pinochet-Diktatur
       protestiert hatten. Auf Intervention des chilenischen Botschafters nahm die
       Polizei ihnen ihr Spruchband weg, auf dem handgeschrieben stand: „Italien,
       Schweden, England, Niederlande – Kein Geld für eine Mörderbande. Warum
       zahlt die BRD?“ Gegen die Beschlagnahmung klagten die Demonstranten – und
       verloren. Die Bezeichnung „Mörderbande“ erfülle „den objektiven Tatbestand
       des §103 StGB“, entschied das Verwaltungsgericht Köln 1976.
       
       Im Übrigen hätte „bei einer Abwägung das Interesse der Klägerin, ihrer
       Auffassung über das gegenwärtige Regime in Chile uneingeschränkt Ausdruck
       geben zu können, hinter dem öffentlichen Interesse an ungestörten
       diplomatischen Beziehungen zurückstehen müssen“. Sowohl das
       Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen 1977 als auch das
       Bundesverwaltungsgericht 1981 bestätigten das erstinstanzliche Urteil.
       Weder ein Strafverlangen der chilenischen Regierung noch die zur
       Strafverfolgung erforderliche Ermächtigung der Bundesregierung sei für das
       polizeiliche Vorgehen nötig gewesen.
       
       Anders entschieden hingegen bayrische Richter neunzehn Jahre später. Ein
       katholischer Priester hatte die Polizei alarmiert, weil auf dem Christopher
       Street Day im August 2006 in München ein „Papamobil“ mitgefahren war, auf
       dem das damalige katholische Kirchenoberhaupt Joseph Ratzinger geschminkt
       mit gefärbten Haaren und mit Aids-Schleife sowie über die Finger gezogenen
       Kondomen abgebildet war.
       
       Wegen des „Anfangsverdachts der Begehung einer Straftat der Beleidigung von
       Organen und Vertretern ausländischer Staaten“ holte der Einsatzleiter der
       Polizei den Wagen aus der Parade. Das Ermittlungsverfahren wurde jedoch im
       Oktober 2006 eingestellt, „da ein Strafverlangen der ausländischen
       Regierung nicht vorlag“.
       
       2010 urteilte der Bayrische Verwaltungsgerichtshof, dass die ganze
       Polizeiaktion rechtswidrig war. Das „Papamobil“ hätte nicht aus dem Verkehr
       gezogen werden dürfen, denn ihm sei „kein Angriff auf die Ehre des
       Karikierten zu entnehmen“ gewesen. „Die satirische Kritik hält sich in den
       Grenzen des Zumutbaren“, befanden die Richter. „Eine Beleidigung ist darin
       nicht zu sehen.“
       
       16 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pascal Beucker
       
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