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       # taz.de -- Die Wahrheit: Nix zu lachen
       
       > Am Sonntag ist Weltlachtag. Vorab tagt der Bundesverband Deutscher
       > Gelotophobiker. Ein Besuch beim Vorsitzenden des BDG.
       
       Der Mann, der das Lachen hasst, lächelt uns an, als er uns mit konzilianter
       Geste hereinbittet – und als wir das Haus des Bundesvorsitzenden der
       deutschen Gelotophobiker nach einem quälend langen Tag völlig verstört
       wieder verlassen, wird er noch immer dieses eingemeißelte Lächeln in seinem
       Gesicht tragen, das eigentlich der Totenmaske eines Mannes ähnelt, der nach
       endlosem Siechtum an einer verschleppten Gesichtslähmung verstorben ist. Zu
       diesem Zeitpunkt wird Neidhardt Hartwigsen stundenlang so konzentriert
       gelächelt haben, dass seine Wangenmuskulatur unkontrolliert zu zucken
       beginnt und seine Mimik Amok laufen lässt.
       
       Denn Neidhardt Hartwigsen hat ein Humorproblem. Wo immer gescherzt wird,
       fühlt sich der Allgemeinmediziner aus Husum persönlich herabgesetzt. Zwar
       könnte man Hartwigsen mit dieser Diagnose in Gesellschaft mit
       Staatenlenkern und Kirchenfürsten wähnen, doch leidet der Mann nicht unter
       albernem Cäsarenwahn, wie ihn die dünne Luft der oberen Gehaltsklassen
       hervorruft, sondern an einer ernsthaften, da medizinisch einwandfrei
       diagnostizierbaren Krankheit.
       
       Neidhardt Hartwigsen hat panische Lachangst. Hinter jeder flapsigen
       Bemerkung wittert der Gelotophobiker demütigende Absicht. Gerade harmlose
       Scherze, etwa über das Wetter, stürzen ihn in tiefe Seelenpein.
       
       ## Panische Lachangst
       
       „Ich spüre dann, dass ich gerade tief beleidigt worden bin, habe aber keine
       Ahnung wovon“, gibt der asketisch wirkende Mann mit dem grauen Haarkranz zu
       und tritt an den Spiegel, um sein messerscharfes Lächeln mit dem Winkelmaß
       nachzujustieren.
       
       Die Krankheit hat Hartwigsen einsam werden lassen. Das Familienvermögen hat
       er bei dem Versuch verschleudert, die Witzseite der Kreiszeitung
       gerichtlich verbieten zu lassen und noch immer laufen etliche
       Strafverfahren gegen ihn, weil er sämtliche Autoaufkleber mit sogenannten
       Fun-Motiven in der Umgegend mit der Drahtbürste zu entfernen pflegt.
       
       Seinen Bewährungshelfer hat Hartwigsen sogar tätlich angegriffen, weil er
       sich von dessen Kaffeetasse mit der Aufschrift „Morgen-Latte“ verhöhnt
       fühlte. In diesem Fall ließ das Gericht allerdings Notwehr gelten.
       
       „Ich habe erst spät gemerkt, wie krank ich wirklich bin“, erklärt
       Hartwigsen. „Immerhin bin ich in einer norddeutschen Pastorenfamilie und
       damit ohne belastende Scherzerfahrung aufgewachsen. Bei uns galt
       Humorlosigkeit noch als gottgefällig, doch war meine Familie mit einem
       Makel befleckt, weil ein Vorfahr mütterlicherseits im Dreißigjährigen Krieg
       ein humoristisches Sonett verfasst haben soll. An dieser Schande trug ich
       schwer. Außerdem musste ich mir viel Spott wegen meines Namens gefallen
       lassen.“ – „Das glauben wir gern“, antworten wir und können uns das
       pubertäre Kichern gerade noch verkneifen. „Hartwigsen zu heißen, das war
       bestimmt nicht einfach.“
       
       „Der Neidhardt war das Problem. Was soll komisch an Hartwigsen sein?“,
       fragt der Gelotophobiker ehrlich erstaunt, und da geht es mit uns durch.
       Die herrliche Zote kugelt uns schier aus den Sesseln, wir rollen prustend
       über den Boden. Immerhin hatte uns der Gelotophobiker vor unserem Treffen
       eingeschärft, keinerlei Rücksicht auf seine Behinderung zu nehmen.
       Hartwigsen rammt das zornesrote Haupt mehrmals gegen die Wand, wie er es
       beim Deeskalationstraining mit seinem Humortherapeuten gelernt hat und
       setzt sich für eine halbe Stunde in den Schrank, um ein wenig Ibsen zu
       lesen. Dessen depressive Frauenfiguren beruhigten ihn, weil sie ihn an
       seine Mutter erinnerten, erklärt Hartwigsen.
       
       „Meinen ersten Witz habe ich erst kurz vor dem Abitur gehört“, führt er
       weiter aus. „Es ging um eine Dame, die einen Arzt aufsuchen will und dabei
       eine falsche Präposition benutzt. Da war mir klar, dass ich unbedingt
       Medizin studieren muss, um solche Entgleisungen künftig zu verhindern.“
       
       Wie viele Gelotophobiker fühlt sich auch Hartwigsen von einer zunehmend
       witzaffinen Gesellschaft an den Rand gedrängt – zum Beweis legt der Single
       einen dicken Ordner mit ausgedruckten Kontaktanzeigen vor, die allesamt
       nach einem „humorvollen Partner“ fahnden.
       
       „Erst wurde diese verdammte Spaßgesellschaft ausgerufen, und seit
       Böhmermann gilt Deutschland sogar international als ernst zu nehmender
       Humorstandort. Mittlerweile schicken sie sogar Clowns in die Sterbehospize.
       Man ist doch nirgends mehr sicher.“ Eher notgedrungen hat sich Hartwigsen
       jetzt zu einer brachialen Immuntherapie entschlossen und lädt heute, am
       Vorabend des Weltlachtags, erstmals Komiker, Kabarettisten und Comedians
       zur Benefizgala des Bundes Deutscher Gelotophobiker (BDG) in sein Haus –
       eine Grenzerfahrung für alle Beteiligten.
       
       ## Stille Humorphobie
       
       Eine Stunde später sitzen wir in einer Runde schweigsamer Humorphobiker,
       die allesamt mit festgefrorenem Lächeln und argwöhnisch flackernden Augen
       das Bühnengeschehen verfolgen. Ein vollbärtiger Mann mit dem Habitus eines
       Studienrates predigt stundenlang verbissen wider die Ränke des
       amerikanischen Großkapitals. Die Gelotophobiker nicken pflichtschuldig und
       quittieren seinen Vortrag mit einem Geräusch, das sie für Lachen halten. Es
       klingt wie affirmatives Gebell, und zu unserem Erstaunen stellen wir fest,
       dass verblüffend viele der lachungeübten Gelotophobiker Hundebesitzer sind.
       
       Als Nächster betritt ein Comedian die Bühne, der die sprachlichen
       Eigenheiten der Unterschicht geißelt, weil sie vom Schriftdeutschen
       abweichen. „Es ist lustig, weil diese Menschen sehr dumm sind, nicht
       wahr?“, flüstert Hartwigsen aufgeregt.
       
       „Ihr seid eine geile Crowd“, brüllt der Comedian in das mechanische Gebell
       der Phobiker, das mittlerweile eine aggressivere Note angenommen hat. Uns
       wird blümerant, es ist, als hätten wir die alte Tante Komik zum ersten Mal
       nackt gesehen, doch Hartwigsen referiert hochzufrieden: „Das habe ich doch
       schon immer gesagt: Lachen ist ein Erziehungsmittel, um Gruppenidentität zu
       stärken und soziale Devianz zu bestrafen.“
       
       Wir wollen den Gelotophobiker vorsichtig auf das anarchische Moment in der
       Komik hinweisen, doch finden wir auch nach drei Stunden Spaßbeschallung
       kein Beispiel dafür, zumal wir Hartwigsen nicht seinen „Therapiererfolg“
       vermiesen wollen. „Ich habe endlich gemerkt: Ich habe gar nichts gegen
       Komik, nur ambivalent darf sie nicht sein“, lächelt er mit zuckenden
       Mundwinkeln und hebt selbst zu einem Witz an, dessen lahme Pointe er uns
       anschließend haarklein erklärt.
       
       ## Geregelte Spaßarbeit
       
       „Sehen Sie, Humor ist lediglich eine Frage der Technik. Wichtig ist, dass
       man bei der Pointensetzung jede Irritation vermeidet. Die Arbeit an
       vollständiger humoristischer Erwartbarkeit muss endlich als
       gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen werden.“
       
       Um die Inklusion der Gelotophobiker in die deutsche Spaßgesellschaft zu
       forcieren, will Hartwigsen in Zusammenarbeit mit Kirchen, Gewerkschaften,
       Arbeitgeberverbänden und Rundfunkräten einen verbindlichen Humorleitfaden
       erstellen, in dem ein für alle Mal geregelt ist, was in diesem Land als
       komisch zu gelten hat und was nicht. Als Vorbild sollen die internen
       Qualitätskriterien des ZDF für Satiresendungen gelten.
       
       30 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Bartel
       
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