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       # taz.de -- Das Theater der unfertigen Formen
       
       > GENERATIONENKUNST „Exodus“ heißt das Finale der Trilogie über Konsum und
       > Überfluss, die das Performance-Duo Skart auf Kampnagel in Hamburg
       > gemeinsam mit Kindern entwickelt hat. Die erzählt auch vom Untergang und
       > Neuanfang des Theaters
       
   IMG Bild: Mit dem Müll in die Zukunft: „Exodus“ ist ein spielerischer Theater-Befreiungsschlag
       
       von Robert Matthies
       
       Was ist das, was sie da hochhalten? Schief geratene Schilder, auf denen
       aber gar nichts steht? Symbole oder nur geometrische Formen, die sonst
       nichts bedeuten? Ist das eine Prozession eines Kultes, eine politische
       Demonstration oder ein Trauerzug? Immer im Kreis herum tanzt eine Handvoll
       Kinder in Kostümen irgendwo zwischen verlotterter Ballerina und
       Schlafanzug-Party hintereinander her. Auch auf dem Boden liegen diese
       Formen herum, lauter versprengte Versatzstücke, aber von was bloß?
       
       ## Gruselige Glückseligkeit
       
       Auf der Leinwand im Hintergrund der Bühne gibt‘s dazu rasant
       zusammengeschnittene Szenen mit lauter Musik und Gejohle, in denen
       konsumgeile Massen in Ekstase Flachbildschirme aus den Tempeln der
       Unterhaltungselektronik schleppen, Tablet-Käufer im Apple-Store durchs
       Spalier aus frenetisch jubelnden Verkäufern hüpfen oder völlig
       gaga-glückliche Passanten irgendwelche albernen Werbefigürchen ganz, ganz
       fest in den Arm nehmen. Ganz schön gruselig, diese Collage der
       verrücktesten Formen der Glückseligkeit in der Überflussgesellschaft. Und
       zwischendurch immer wieder diese Schlange, die versucht, sich selbst
       aufzufressen.
       
       Ein bedrohlich wirkender Auftakt für diesen „Exodus“, mit dem nach „Lucky
       Strike“ und „Schlaraffenland“ die Performance-Trilogie über
       Besitzansprüche, Konsumdenken und Materialismus ihren Abschluss findet.
       Entwickelt hat sie das aus den Theaterwissenschaftlern Mark Schröppel und
       Philipp Karau bestehende Duo Skart gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen
       aus Nenas Neuer Schule Hamburg, der Erich-Kästner-Schule in Hamburg-Farmsen
       und der Freien Schule Frankfurt in den vergangenen zwei Jahren auf
       Kampnagel in Hamburg.
       
       ## Kaputtes Schlaraffenland
       
       Dann wird es ganz still auf der Bühne, langsam robbt ein merkwürdiges
       Gebilde auf die Bühne, das sich erst im Licht als aufblasbare Rettungsinsel
       entpuppt. Ein kleines blondes Mädchen steckt seinen Kopf heraus und beginnt
       eine eindringliche Ansprache: All die Teile, die hier herumliegen, das
       waren einmal unsere Häuser gewesen. Jetzt ist alles kaputt. Selbst schuld!
       Immer mehr wollten wir doch immer von allem haben – nun ist nichts mehr da,
       sind auch wir nichts mehr, erzählt uns dieses kleine „Wesen der Zukunft“.
       All der Überfluss: Nur noch ein riesiger Müllhaufen aus der Form geratener
       Einzelteile ist davon übrig.
       
       Kurze, professionell produzierte Breaking-News-Videoschnipsel erzählen dann
       immer wieder vom Aufstand im Schlaraffenland. Da macht eine dionysisch
       feiernde Barbie-Bande ausgelassen kichernd Jagd auf Yuppies. Ein irgendwie
       verdellt wirkender Sesamstraßen-Ernie zieht seinen SUV mühevoll selbst
       durch die Straßen, weil kein Benzin mehr da ist. In einem wirklich
       romantischen Filmchen finden ein Müll-Godzilla-Monster, das die Welt mit
       seinem Feueratem in Brand steckt, und eine kleine rote Mülltonne
       schließlich zusammen.
       
       ## Collage unfertiger Formen
       
       Auf der Bühne werden derweil die herumliegenden Formen neu zusammengesetzt,
       wieder auseinandergenommen, verschoben und wieder zusammengesetzt. Ganz
       sorgfältig wird jede Verbindung immer wieder überprüft. Bald wird daraus
       ein kleines Haus, dann wieder eine Mauer, schließlich ein Schiff, auf dem
       alle am Ende Richtung Zukunft segeln.
       
       Ein Spielplatz für lauter kleine choreografische Bilder und Texte, die in
       ganz einfacher Sprache, aber beeindruckend verdichtet vom ewigen Nichtstun
       beim Couchsurfen und Youtube-Clips-Gucken erzählen oder vom Verwählen in
       der Death-Box-Telefonzelle, in der man sich die schönste Selbstmordvariante
       aussuchen kann.
       
       Das ist alles abwechselnd erschütternd und voller Furor, dann wieder
       nachdenklich und ganz reduziert und nicht zuletzt auch niedlich anzusehen,
       wenn die Kleinsten mit einer Bühnenpräsenz und Textsicherheit, von der
       Erwachsene sich eine gute Scheibe abschneiden können, als
       Zigarettenschachtel auf Mülltonnen balancieren oder mit Laserpointern
       verlängerten Fingern vorsichtig den Theaterraum abtasten.
       
       Keine abgeschlossene Geschichte erzählt der Abend, sondern stellt ein
       opulentes offenes Theater der unfertigen Formen aus, das ebenso viel von
       der Leere der Konsumgesellschaft erzählt wie vom Ende und Neuanfang des
       Theaters.
       
       ## Neue Theatergeneration
       
       Denn Ziel des Projektes ist es, ein Theater der neuen Generation und eine
       neue Generation von Theater zugleich zu erproben: radikal
       basisdemokratisch, anarchisch postdramatisch und leidenschaftlich
       antipädagogisch. Kinder und Skart-Performer sind alles zugleich: Ideengeber
       und Regisseure, Darsteller und Autoren, Bühnen- und Kostümbildner. Ein
       emanzipiertes gemeinsames Lernen voneinander statt machtbasierter
       verdummender Pädagogik.
       
       Heraus kommt tatsächlich weder ein Theater nur für Kinder und Jugendliche
       noch eine eitle Veranstaltung für Theaterwissenschaftler, sondern eine
       soziale Plastik, die man als eigenständigen Beitrag zur kulturellen Bildung
       unbedingt ernst nehmen darf.
       
       Dieses Finale der Trilogie wirkt reduzierter als der noch etwas
       herumtastende erste Teil und der zweite mit seiner an Verweisen und Bildern
       überreichen Üppigkeit. Und dass es, dem nicht immer flott vorangehenden
       Bühnenbildbasteln geschuldet, ein paar Längen gab, das mag man gern
       verzeihen. Beim groß angelegten Theaterumbau muss ja erlaubt sein, dass man
       sich dafür Zeit nimmt.
       
       Fr, 29.4. und Sa, 30.4., 19 Uhr, Kampnagel
       
       29 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Matthies
       
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