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       # taz.de -- Schulfach „Wirtschaft“ in BaWü: Versicherungsnehmen lernen
       
       > Ab 2017 lernen SchülerInnen im neuen Fach Wirtschaft. Die Industrie freut
       > sich. Kritiker fürchten jedoch einen einseitigen Unterricht.
       
   IMG Bild: Mit der Wirtschaft im Rücken die Schulbank drücken – in Baden-Württemberg wird's Wirklichkeit
       
       Berlin taz | Am Wochenende haben Grüne und CDU in Stuttgart ihren
       Koalitionsvertrag vorgestellt. Das Schulfach Wirtschaft kommt darin kein
       einziges Mal vor. Wenn das neue Fach ab 2017 an Schulen in
       Baden-Württemberg unterrichtet wird, soll es wohl nicht für ein Projekt der
       neuen grün-schwarzen Landesregierung gehalten werden.
       
       Die Entscheidung für das neue Schulfach stammt noch aus grün-roter Zeit.
       Seit die Pläne bekannt sind, SchülerInnen zu „mündigen Wirtschaftsbürgern“
       zu erziehen, kritisieren BildungsexpertInnen, die Wirtschaftslobby stehe
       hinter dem Lehrplan für das neue Fach.
       
       Die Vermutung liegt nahe. Arbeitgebernahe Einrichtungen wie das Institut
       der Deutschen Wirtschaft oder die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
       werben seit Langem für das Fach Wirtschaft in Schulen. Dafür sind die
       Wirtschaftsverbände in vielen Kultusministerien der Republik vorstellig
       geworden, auch im wirtschaftsstarken Südwesten. Im seinerzeit SPD-geführten
       Kultusministerium Baden-Württembergs hatten sie offenbar Erfolg.
       
       „In dieser Form wurden die Vorstellungen wirtschaftsnaher Verbände erstmals
       in einem Unterrichtsfach umgesetzt“, sagt Dirk Lange, Vorsitzender der
       Deutschen Vereinigung für politische Bildung, dem Fachverband für
       politische Bildung mit mehr als 2.000 Mitgliedern. „Die Landesregierung
       sollte dem Eindruck entgegenwirken, dass das Fach Wirtschaft den Interessen
       der Wirtschaft dient. Politische Bildung steht nicht zum Kauf“, sagt der
       Professor, der an der Universität Hannover Didaktik der Politischen Bildung
       lehrt.
       
       ## Fünf Stunden ab der 7. Klasse
       
       Das neue Fach ist Teil des neuen Bildungsplans, der ab 2017 gilt. In den
       Gymnasien steht es mit drei Wochenstunden ab dem 8. Schuljahr auf dem
       Stundenplan, in Werkrealschulen, Realschulen und Gemeinschaftsschulen sogar
       mit fünf Stunden ab der 7. Klasse. Das ist für Schulen mit frühem Eintritt
       in das Berufsleben „pädagogisch sinnvoll“, sagt eine Sprecherin des
       Kultusministeriums. Das Fach soll SchülerInnen helfen, „sich reflektiert
       und selbstverantwortlich für einen Beruf zu entscheiden“.
       
       Je nach Schulart verfolgt das Fach unterschiedliche Ziele. Für die Klasse
       10 der Werkrealschulen, Realschulen und Gemeinschaftsschulen ist zum
       Beispiel eine Lerneinheit „Versicherungsnehmer“ vorgesehen. Laut
       Bildungsplan sollen die SchülerInnen Individualversicherungen wie
       Haftpflicht- oder Lebensversicherung als „Möglichkeiten zur Absicherung
       vermögens‑, sach- und personenbezogener Risiken beurteilen,
       Vertragsangebote vergleichen und die Rollen der Vertragspartner erklären.“
       
       Den GymnasiastInnen bleibt der Werbeblock für Versicherungen erspart. Sie
       lernen dafür unter anderem die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft
       kennen oder lernen, welche Folgen „protektionistische Maßnahmen“ wie
       Subventionen, Zölle oder Quoten auf die internationale Arbeitsteilung
       haben.
       
       Didaktikexperte Lange hält die Ausrichtung des Fachs für falsch. Ihm fehlen
       gesellschafts- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen: „So wie das
       Fach angelegt ist, geht es weniger um die Wirtschaft an sich als um eine
       normative Ausrichtung“, sagt er. „Das bestehende Wirtschaftsmodell wird
       nicht mehr hinreichend hinterfragt.“ SchülerInnen erwürben so nicht die
       Fähigkeit, das bestehende Wirtschaftssystem kritisch zu reflektieren.
       
       ## Wirtschaftsfreundliche Ausrichtung
       
       „Diese Kritik wird dem neuen Fach nicht gerecht“, weist das
       Kultusministerium zurück. „Der Bildungsplan sieht vor, dass die Schüler
       lernen, ökonomisches Verhalten unter sozialen und ökologischen
       Nachhaltigkeitsaspekten zu beurteilen“, so die Sprecherin.
       
       Das Ministerium habe Wert darauf gelegt, die Inhalte ausgewogen und
       multiperspektivisch zu gestalten. Und schließlich würde die Kritik auch den
       LehrerInnen nicht gerecht, die für eine „neutrale und ausgewogene
       Gestaltung des Unterrichts“ und für die Verwendung von geeignetem
       Unterrichtsmaterial verantwortlich seien.
       
       Doch Didaktik-Experte Lange sieht ein grundsätzliches Problem. „Es geht um
       die modellhaften Perspektiven der Wirtschaftswissenschaften“, sagt er. Das
       heißt: Der Unterricht dreht sich um Aspekte wie Effizienzsteigerung,
       Erschließung neuer Märkte oder Nutzenmaximierung von Unternehmen, aber
       nicht um die mögliche Regulierung globaler Player, die ökonomischen
       Auswirkungen des Klimawandels oder das Recht von Arbeitnehmern auf einen
       Betriebsrat. „Gerechtigkeit, Solidarität oder gesellschaftliche
       Umverteilung werden dabei vernachlässigt“, kritisiert er.
       
       Auch der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ist die Ausrichtung des
       Fachs zu wirtschaftsfreundlich. Sie lehnt die Einführung ab. „Das geht
       zulasten anderer Fächer wie Politik, Sozialwissenschaften oder Geografie“,
       sagt Matthias Schneider, Geschäftsführer der GEW Baden-Württemberg. So
       bleibe viel weniger Zeit für politische Bildung.
       
       ## Ungeprüfte Unterrichtsmaterialien
       
       Die Gewerkschaft beobachtet einen steigenden Einfluss von Unternehmen wie
       EnBW oder Daimler in den Schulen. Von den 20 umsatzstärksten Unternehmen in
       Deutschland stellen 16 kostenlose Unterrichtsmaterialien her. 2013 zählten
       Augsburger Wissenschaftler rund 17.000 Onlineangebote von
       Wirtschaftsunternehmen. 2011 waren es gerade mal 845. Die Unternehmen
       wollen so ihre Botschaften an den Schüler und die Schülerin bringen – an
       der staatlichen Kontrolle vorbei.
       
       Anders als Schulbücher werden solche Materialien nicht von den Ministerien
       geprüft. Die deutsche Vereinigung für politische Bildung fordert, dass
       kostenlose Schulmaterialien wenigstens die Geldgeber benennt.
       
       Die Industrie in Baden-Württemberg begrüßt das neue Schulfach. Gegner wie
       Professor Lange hoffen jetzt noch auf die CDU, die das Kulturministerium
       von der SPD erbt. „Ich hoffe, dass der konservative Bürgersinn innerhalb
       der CDU noch Veränderungen im Fach Wirtschaft bewirken wird.“
       
       5 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anja Krüger
       
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