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       # taz.de -- Pressefreiheit in der Türkei: Der sanfte Druck eines Pistolenlaufs
       
       > Aus dem Südosten der Türkei zu berichten heißt, den eigenen Tod in Kauf
       > zu nehmen. Doch Öffentlichkeit kann Leben retten.
       
   IMG Bild: Freund und Helfer? Zwei Polizisten einer Spezialeinheit der türkischen Polizei in Diyarbakir
       
       [1][Yazının Türkçesi için lütfen buraya tıklayın.] 
       
       Repressionen gegenüber JournalistInnen gibt es an vielen Orten der Welt. In
       zahlreichen Ländern wird versucht, die Stimmen von JournalistInnen zu
       schwächen. Sie werden mit den unterschiedlichsten Methoden zum Schweigen
       gebracht. Oder man macht gleichgeschaltete Marionetten aus ihnen. Im
       Südosten des Landes aber, in Kurdistan, ist die Sache eskaliert.
       
       Als JournalistIn im kurdischen Gebiet zu arbeiten bedeutet, den Tod in Kauf
       zu nehmen. Jeden Moment kannst du eine Kugel in den Kopf bekommen. Oder
       eine Bombe explodiert neben dir. Auch Festnahmen und Verhaftungen gehören
       zu den Risiken.
       
       Die Polizei beschlagnahmt deine technische Ausrüstung. Sicherheitskräfte
       zwingen dich in ein gepanzertes Fahrzeug zu steigen, und machen eine
       Stadtrundfahrt mit dir. Einen Kaffee spendieren sie dir ganz sicher nicht.
       
       Stattdessen wirst du höflich bedroht – besonders höflich ist es, einen
       Pistolenlauf am Kopf zu spüren – und du wirst dazu gedrängt, deinen Beruf
       aufzugeben.
       
       ## Krieg gegen die Bevölkerung
       
       Repression und Angriffe auf die Bevölkerung im überwiegend von Kurden
       bewohnten Südosten der Türkei sind alltäglich, doch seit einem Jahr sind
       sie extrem. Die Regierung führt Krieg gegen die kurdische Bevölkerung.
       
       Deshalb hat sich der Druck der Sicherheitskräfte gegenüber Journalisten
       enorm erhöht. Weil sie es sind, die versuchen, die Angriffe auf die
       Bevölkerung in den Provinzen und Kreisen, die im Sommer 2015 die
       Selbstverwaltung ausgerufen haben, öffentlich zu machen.
       
       Meine KollegInnen werden bei ihren Recherchen von Polizisten geschlagen.
       Einer von ihnen wurde der Arm gebrochen. In Sur, der Altstadt von
       Diyarbakır – nach Gaziantep die zweitgrößte Stadt im Südosten – wurde
       Şehriban Aslan, eine Reporterin unserer Nachrichtenagentur von
       Scharfschützen angeschossen.
       
       KollegInnen werden festgenommen, ohne dass anschließend Auskunft über sie
       zu bekommen ist. Kurz bevor die Selbstverwaltung ausgerufen wurde, nachdem
       die Regierung die Friedensverhandlungen mit den Kurden abgebrochen hatte,
       wurde Kadir Bağdu, ein Kollege der Zeitung Özgür Gündem, auf dem Heimweg
       niedergeschossen – nur weil er einen Presseausweis besaß.
       
       ## Sonderkommandos
       
       Als der Agentur-Reporter Serhat Yüce während der Ausgangssperre für
       Dreharbeiten in Silvan, einer Stadt in der Provinz Diyarbakır, unterwegs
       war, hielten ihm Polizisten eines Sonderkommandos eine Pistole an den Kopf
       und drohten, ihn umzubringen.
       
       Der TV-Reporter Refik Tekin berichtete gerade von der Beerdigung mehrerer
       Menschen, die in Cizre – ebenfalls in Südostanatolien – bei einem
       Polizeieinsatz getötet worden waren. Dabei wurde auch er verletzt. Als er
       verwundet im Krankenhaus lag, wurde er von Polizisten geschlagen, die ihn
       festnehmen wollten.
       
       Wir JournalistInnen in Kurdistan sind Zeugen historischer Ereignisse. Aller
       Repression zum Trotz weichen wir nicht zurück. Unseren Beruf auszuüben,
       bedeutet höchstes Risiko für uns. Leider schweigen zahlreiche Länder zu dem
       Geschehen, internationale Solidarität gibt es kaum.
       
       Ich selbst wurde zuletzt im Dezember festgenommen. Ich hätte „aufgeregt“
       ausgesehen, so die Begründung. Nach vier Tagen in Polizeigewahrsam wurde
       ich mit der Forderung auf Ausstellung eines Haftbefehls ins Gefängnis
       überstellt. Die Verhaftung einer Journalistin, weil sie „aufgeregt“ war,
       zeigt einmal mehr die tragikomischen Prozesse des Landes, in dem wir leben.
       
       ## Solidarität
       
       Inzwischen haben Journalisten aus dem Westen der Türkei die Aktion
       „Recherche-Watch“ gestartet. Sie kommen in die kurdischen Gebiete, wo es
       die meisten Verbote, Sperren und Angriffe gibt, vor allem nach Diyarbakır,
       um Nachrichten von dort in den Rest des Landes zu tragen.
       
       Diese Aktion ist wichtig, weil sie sichtbar macht, mit welchen
       Schwierigkeiten unsere in Kurdistan arbeiteten KollegInnen zu kämpfen
       haben. Dabei geht es auch um Solidarität. Und darum, für diese
       Schwierigkeiten auch über Kurdistan hinaus zu sensibilisieren.
       
       Dass ich im Augenblick frei bin und wieder an die Arbeit gehen kann,
       verdanke ich zum großen Teil dem Einfluss der so geschaffenen
       Öffentlichkeit. Nur sie bietet einen letzten Rest Sicherheit.
       
       Denn nur, wenn öffentlich wird, was uns tatsächlich widerfährt,
       konterkariert das die offizielle Darstellung der Regierung, die mich als
       Verbündete der PKK-Terroristen sieht.
       
       ## Umgebracht und entführt
       
       Verhaftet zu werden, ist für uns mittlerweile eine der besseren Optionen.
       In den 1990er Jahren, in der Hochphase des Kurdenkonflikts, wurden Dutzende
       Mitarbeiter der freien Presse umgebracht und entführt. Ihre sterblichen
       Überreste wurden nicht einmal an die Familien übergeben. Das ist die
       schrecklichere Option. Leider ist so etwas heute wieder möglich.
       
       Der Agentur-Reporter Nedim Oruç, der das Geschehen während der
       Ausgangssperre in Silopi in der Provinz Şırnak verfolgte, wurde von
       Polizisten entführt. Informationen über seinen Verbleib wurden verweigert.
       Auf Nachfrage behauptete das Polizeirevier, man wisse nichts über ihn.
       
       Erst als über soziale Netzwerke und das Fernsehen Öffentlichkeit geschaffen
       wurde, gab die Polizei zu, dass er in Polizeigewahrsam sei. Ohne
       Öffentlichkeit wäre auch er womöglich einer der vielen Journalisten
       geworden, die ihre Familien niemals wieder sehen.
       
       Oft stellt ich mir die Frage, warum es so wenig Solidarität gibt, wenn
       journalistisches Arbeiten im ganzen Land so schwierig ist. Die Solidarität
       unter den Kollegen in der Medienbranche ist dabei wichtiger, als in anderen
       Berufsgruppen.
       
       ## Keine Kompromisse
       
       Denn wir üben diesen Beruf in der Verantwortung aus, der Gesellschaft
       Zunge, Ohr und Auge zu sein. Ohne uns wüsste niemand, was vor sich geht.
       Ich hoffe, dass sich Aktionen wie „Recherche-Watch“ international
       verbreiten und die Solidarität unter Journalisten weltweit wächst.
       
       Was die Wahrheit angeht, gehen wir keine Kompromisse ein. Im Gegenteil: Wir
       werden unseren Kampf für die freie Presse ausdehnen.
       
       Als Vertreterinnen von JINHA, der ersten ausschließlich von Frauen
       betriebenen Nachrichtenagentur weltweit, werden wir trotz der Repressionen
       die Leistungen, Kraft und Energie von Frauen herausstellen. Wir werden
       weiterhin den Frauen eine Stimme sein, die man aus der Gesellschaft tilgen
       will, die man zu versklaven versucht.
       
       Als JINHA kämpfen wir weiter gegen das Gewaltsystem der Gesellschaft wie
       auch gegen den Staat, der ein System der Gewalt in der türkischen
       Gesellschaft etabliert. Ich hoffe, unsere Aufregung, unser Engagement kommt
       bei allen an.
       
       2 May 2016
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Beritan Canözer
       
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