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       # taz.de -- Pressefreiheit in der Türkei: Der eingeschleuste Feind
       
       > Das türkische Wort „Kayuum“ meint einen Treuhänder, der einen Betrieb
       > übernimmt. In letzter Zeit erobern Kayuume auch die Medien.
       
   IMG Bild: Sehen für gewöhnlich nicht ganz so gruselig aus wie der hier, sind aber genauso fies: Kayuume übernehmen Zeitungen und Sender und krempeln sie von innen um
       
       [1][Yazının Türkçesi için lütfen buraya tıklayın.] 
       
       Mir war klar, dass ich diesen Text über die Pressefreiheit in der Türkei
       nicht da fortsetzen könnte, wo ich ihn angefangen hatte. In den wenigen
       Stunden zwischen Anfang und Ende des Textes war viel geschehen:
       
       Bilal Güldem, Reporter der Nachrichtenagentur Diha, wurde verhaftet. Die
       Diha-Reporter arbeiten in den kurdischen Provinzen unter andauernden
       Gefechten. Acht Diha-Reporter waren schon vor Güldem verhaftet worden, aber
       der Vorwurf gegen Güldem unterschied sich von dem gegen seine Kollegen.
       Güldem wurde bezichtigt, den gegen die Sicherheitskräfte kämpfenden
       Fraueneinheiten YPS-Jin anzugehören.
       
       Gleichzeitig wurde die türkisch-niederländische Journalistin und
       Kolumnistin Ebru Umar [2][in Kuşadası festgenommen]. Der Vorwurf: Sie soll
       den Staatspräsidenten Erdoğan in Tweets und in einem Artikels in der
       Zeitung Metro beleidigt haben. Der Richter, dem sie vorgeführt wurde, ließ
       sie frei, verhängte aber ein Ausreiseverbot.
       
       Der griechische Fotograf Giorgos Moutafis, der für Bild, Reuters,
       Time,Al-Dschasira, Newsweekund CNN arbeitete, wollte auf seiner Reise von
       Athen nach Libyen einen Zwischenstopp in Istanbul einlegen. Am Flughafen
       wurde er abgewiesen. Es hieß, er stehe auf „der Liste“.
       
       ## Tränengas gegen DemonstrantInnen
       
       Die Ortschaft Kilis im türkisch-syrischen Grenzgebiet trafen in diesen
       Stunden zum zweiten Mal Raketen aus Syrien. Als Anwohner dagegen
       protestierten, gingen die Sicherheitskräfte mit Wasserwerfern und Tränengas
       gegen sie vor.
       
       Funktionäre des kurdischen Fußballteams Amedspor, das ein Spiel gewonnen
       hatte, wurden attackiert. Auf der Buchmesse in Van führte Polizei eine
       Razzia am Stand des Aram-Verlags durch und konfiszierte 180 Bücher, in
       denen PKK-Propaganda vermutet wird. Dazu kam noch eine Meldung aus der
       vorangegangenen Nacht: Im westtürkischen Eskişehir wurde an einer Ampel
       eine Schaufensterpuppe aufgehängt, dazu ein Transparent: „Tod den
       Akademikern, Arbeitnehmern, Studenten der PKK!“
       
       Das alles passiert also innerhalb von ein paar Stunden in unserem Land.
       Würden wir nun ein paar Wochen betrachten, würde manches auch der deutschen
       Leserschaft bekannt vorkommen, denn dank Erdoğan und Merkel gab es
       Überschneidungen in der Tagesordnung der Pressefreiheit unserer Länder.
       
       Seit einer Weile führt all das dazu, dass sich einige BürgerInnen der
       Türkei über gar nichts mehr wundern – ein Zustand, der seinerzeit mit dem
       lateinischen Terminus nihil admirari bezeichnet wurde. Er resultiert nicht
       aus Nihilismus, sondern aus Realismus und Wissen über den politischen
       Betrieb.
       
       ## Das „Kayuum“
       
       Eine Kollegin hat mich zum Beispiel gefragt: „Wann wird bei euch ein
       ‚Kayyum‘ eingesetzt?“ Kayyum ist ein Treuhänder, der eingesetzt wird, um
       einen Betrieb zu verwalten. Das Wort ist ein juristischer Terminus, mit dem
       nur wenige vertraut sind, der in der Türkei aber mittlerweile Teil des
       politischen und medialen Alltags geworden ist. Ähnliche Beispiele sind auf
       der Welt schwer zu finden, vielleicht sollte, um Übersetzungsprobleme zu
       vermeiden, diese Art von Treuhänder hier einfach mit dem türkischen Begriff
       bezeichnet werden: „das Kayyum“.
       
       Als die Partnerschaft zwischen dem islamisch-konservativen Prediger
       Fethullah Gülen und der AKP zerbrach, wurden den Medien und zahlreichen
       weiteren Unternehmen aus dem Umkreis der Gülen-Bewegung Kayyums vorgesetzt.
       Die AKP rechtfertigte das mit ihrem Verdacht, dass die Bewegung und deren
       Medien Terrororganisationen nahe stünden.
       
       Das Unterbrechen von Livesendungen überließ man einer Handvoll in
       Polizeiwesten gesteckter regierungsnaher Fernsehleute – Kayuums. Eine
       Livesendung unterbrechen ist letztlich eine technische Angelegenheit. In
       den Zeitungsredaktionen leitet von einem Tag auf den anderen ein Kayyum die
       Konferenzen. Er brüllt, er rügt, er verteilt Aufgaben, um eine dem
       Staatspräsidenten genehme Zeitung aufzulegen.
       
       ## Pressefreiheit: nein
       
       Auf der Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation Reporter ohne
       Grenzen erhebt, steht die Türkei auf Platz 151 – von 180. Als spräche das
       nicht für sich, bekommen wir tagtäglich von Regierungsmitgliedern zu hören,
       es gäbe keinerlei Probleme mit der Pressefreiheit. Auch darüber wundern wir
       uns nicht. Die Frage meiner Kollegin, ob auch zu uns ein Kayuum käme, ist
       völlig normal, denn ich arbeite im Moment für die Zeitung Cumhuriyet. Ihr
       Chefredakteur Can Dündar und der Vertreter des Ankara-Büros Erdem Gül
       [3][sind wegen Spionage angeklagt]. Meine Kollegin fragte in dem Wissen,
       dass die Möglichkeit auch dann besteht, wenn es keinerlei juristische
       Grundlage dafür gibt, und dass sich niemand darüber wundern würde. Derzeit
       sind Hunderte Kayyume in der Türkei tätig.
       
       Wie man einer wird? Jedenfalls bekommt man ein hohes Gehalt und glänzende
       Zukunftsaussichten, das macht den „Job“ für junge Leute attraktiv.
       
       Es gibt Leute in der Türkei, die sich von Herzen wünschen, dass auch beim
       deutschen ZDF wegen [4][eines gewissen Jan Böhmermanns] ein Treuhänder
       eingesetzt wird. Das wäre Merkels Entscheidung.
       
       3 May 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ofislere-sinsi-baskn/!5299174
   DIR [2] http://Journalistin%20festgenommen
   DIR [3] /Regierungskritische-Presse-in-der-Tuerkei/!5255721/
   DIR [4] /!5290048/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pınar Öğünç
       
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