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       # taz.de -- Kolumne American Pie: Dreistündiges weißes Rauschen
       
       > Ein Baseballspiel in der Major League lehrt einen ein anderes Verhältnis
       > zur Zeit. Und ein völlig entspanntes Dasein.
       
   IMG Bild: Achtung, Action: Johnny Cueto von den San Francisco Giants beim Wurf
       
       Die Triebwagen der Bart, des S-Bahn-Systems der Bay Area, sehen aus wie aus
       einem Science-Fiction-Film aus der Vergangenheit. Das Nahverkehrssystem
       wurde 1972 gebaut, seitdem wohl nicht saniert, alle hier hassen es, und es
       ist der Grund, warum wir zu spät zum Spiel der Oakland A’s gegen die
       Chicago White Sox kommen. Mich ärgert das. Meine Begleiterinnen nicht.
       
       Und auch sonst niemanden, seelenruhig warten alle in der Schlange vor den
       Metalldetektoren der Sicherheitskontrolle. Drinnen frage ich mich, ob
       überhaupt jemand pünktlich war. Das Stadion, es wurde in den 60er Jahren in
       einer gigantischen Betongussform hergestellt, ist das zweitkleinste der
       Liga und trotzdem nur halbvoll.
       
       Der Zuschauermodus eines Baseballspiels ist nicht mit Fußball zu
       vergleichen. Beim Fußball kommt man vor dem Anpfiff und versucht, in 45
       Minuten nicht aufs Klo zu müssen, um nicht das möglicherweise einzige Tor
       zu verpassen. Es ist eine ernste Angelegenheit und allenfalls geht man
       früher, wenn ein Team deutlich führt. Man kann problemlos alleine zu einem
       Fußballspiel gehen, denn es passiert ja vorne was.
       
       Beim Baseball kommt man irgendwann, geht irgendwann, wechselt mal den
       Platz, holt sich zwischendurch was zu essen. Im Prinzip trifft man sich mit
       Freunden zum Quatschen, aber nebenan läuft ein Fernseher und hin und wieder
       schaut man mal hin, was so passiert – und bemerkt, dass der Fernseher eine
       Bildschirmdiagonale von über hundert Metern hat und dass die Bälle mitunter
       aufs Sofa fliegen. Man könnte auch alleine zu einem Baseballspiel gehen,
       aber das wäre etwas langweilig, denn es passiert ja vorne eigentlich
       nichts.
       
       ## Spannung erst am Ende
       
       Richtig spannend wird es immer erst am Ende. Doch als ich dann drei Wochen
       später die San Francisco Giants gegen San Diego besuche – in einem auf
       „alter Ballpark“ getrimmten Stadionneubau mit tollem Blick über die Bay –,
       verlassen die Zuschauer pünktlich zum vorletzten Inning das Stadion, und
       das beim knappen Stand von 1:0. Dabei dauerte das Spiel dank der
       beiderseits bescheidenen Offensivleistungen kaum länger als zwei Stunden.
       
       Ansonsten muss man den Zuschauern in San Francisco zugutehalten, dass sie
       deutlich konzentrierter aufs Spiel achten. Man hält hier viel von seinem
       Team, das in den letzten sechs Jahren dreimal Meister geworden ist. Dafür
       gab es in Oakland eine Art kleinen Ultra-Block, mit Trommeln und Anfeuerung
       aus eigenem Antrieb – alle anderen Besucher werden nur laut, wenn die
       Stadionregie die Melodie von „Let’s go (Giants/Oakland)“ einspielt oder
       „Let’s get loud“ auf den Monitoren steht.
       
       Weitere Pluspunkte für Oakland: Die unfassbaren Statistikmengen auf der
       Anzeigetafel, bis hin zur detaillierten Karrierebilanz des aktuellen
       Schlagmannes und seiner Bilanz gegen den aktuellen Werfer. Das Maskottchen
       (ein Elefant statt einer fetten Robbe), das sich auch mal auf den billigen
       Plätzen sehen lässt. Und ein Bier kostet nur 8 Dollar und nicht 12.
       
       ## Ein fragmentierter Sport
       
       Überhaupt, das Bier. Die Stadiongastronomie ist nicht in einer Hand wie in
       Deutschland, sodass jeder Laden andere Biersorten hat, und Biersorten gibt
       es in den USA mit seinen Pale Ales, Lagers, Stouts, Wheats und Ales viele.
       Man kann natürlich auch Margaritas, Rotwein, Kaffee und mehr trinken, das
       Essenangebot würde hier den Rahmen sprengen. Die Gänge mit den zahllosen
       Ständen sind stets voll, manche essen gleich dort. Da die Pausen zwischen
       den Innings zwei Minuten dauern, kann man sich sowieso nichts holen, ohne
       etwas zu verpassen. Also versucht es auch niemand.
       
       Das ist nämlich der Punkt: Baseball ist ein auf mehreren Ebenen
       fragmentierter Sport, er zerfasert in zahlreiche Mikroereignisse mit jeder
       Menge Leerlauf. Es ist schlicht unmöglich, ein dreistündiges Spiel
       konzentriert am Stück zu schauen. So sorgt Baseball für ein grundlegend
       anderes Verhältnis der Fans zur Zeit. Fußball ist binär, es kennt die
       klaren Zustände „Spiel“ oder „kein Spiel“ mit klaren Handlungsanweisungen
       für die Betrachter. Baseball ist ein schwammiges Sportkontinuum. Ein
       dreistündiges weißes Rauschen mit sehr teurem Bier.
       
       30 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Brake
       
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