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       # taz.de -- Kommentar Flüchtlingspolitik der EU: Ablasshandel statt Reform
       
       > Die EU wollte ihre Flüchtlingspolitik neu ordnen, scheitert aber: Die
       > vorgeschlagenen Mechanismen sind unausgegoren und realitätsfern.
       
   IMG Bild: EU-Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermanns stellte die Vorschläge vor
       
       Wir sind lieber realistisch als irrelevant! Mit diesen Worten begründete
       EU-Kommissionsvize Frans Timmermans [1][seinen Vorschlag zur Reform der
       europäischen Asylpolitik]. Der lässt sich in zwei schlichten Maximen
       zusammenfassen. Länder, in denen besonders viele Flüchtlinge Schutz suchen,
       sollen künftig stärker entlastet werden. Staaten, die sich einer
       Umverteilung entziehen, sollen Ausgleichszahlungen von 250.000 Euro pro
       Flüchtling leisten.
       
       Und das war’s dann auch schon. Von einer Reform des gescheiterten
       Dublin-Systems ist keine Rede mehr. Dabei hatte im Herbst 2015 selbst
       Kanzlerin Angela Merkel eingeräumt, dass dieses System krachend gescheitert
       ist. Es war nämlich Dublin, das Deutschland jahrelang vor dem
       Flüchtlingsdrama im Mittelmeer schützte. Es war Dublin, das Länder wie
       Italien oder Griechenland hoffnungslos überforderte – und schließlich zur
       Massenwanderung über die Balkanroute führte.
       
       Doch nun soll alles beim Alten bleiben. Eine Abkehr von Dublin sei
       unrealistisch, so Timmermans. Eine durchgreifende Reform sei zwar
       wünschenswert, politisch derzeit aber nicht durchsetzbar, sagte er mit
       Verweis auf die Osteuropäer. Auch Merkel kann plötzlich wieder ganz gut mit
       dem Prinzip leben, dass jene Länder für Asylbewerber zuständig sein sollen,
       über die Flüchtlinge nach Europa eingereist sind. Seit die Balkanroute
       dicht ist, ist Dublin plötzlich wieder gut.
       
       Damit kapitulieren Berlin und Brüssel vor den Problemen. Denn daran, dass
       Griechenland und Italien überfordert sind, hat sich ja nichts geändert. In
       Griechenland warten immer noch Zehntausende Flüchtlinge auf die
       Umverteilung in die EU. Doch dazu sagte Timmermans kein Wort. Statt über
       die Lager-Revolten auf Lesbos und die verzweifelte Lage in Idomeni zu
       sprechen, stellte er neue Prinzipien für die europäische Asylpolitik vor.
       Doch auch die können nicht überzeugen.
       
       ## Der „Fairness-Mechanismus“
       
       Gegen mehr Solidarität bei der Flüchtlings-Verteilung ist zwar nichts
       einzuwenden. Doch die Verteilungs-Schlüssel, die die EU-Kommission
       vorschlägt, sind genauso unrealistisch und bürokratisch wie die alten. Für
       jedes Land soll künftig ein Richtwert für die Zahl zumutbarer Asylanträge
       festgelegt werden. Bei der Berechnung werden die Bevölkerungszahl und die
       Wirtschaftskraft zugrunde gelegt.
       
       Wenn der Richtwert innerhalb von zwölf Monaten um mehr als die Hälfte
       überschritten wird (also mehr als 150 Prozent des Richtwertes erreicht
       sind), würde automatisch ein „Fairness-Mechanismus“ greifen. Doch dieser
       Mechanismus ist alles andere als fair – jedenfalls nicht für die
       Flüchtlinge. Die sollen nämlich künftig zwangsverschickt werden – und kein
       Recht mehr haben, sich ein Asylland auszusuchen. Deutschland wird
       unerreichbar.
       
       Fast noch schlimmer ist der geplante Ausgleichs-Mechanismus. Wenn ein Land
       sich weigert, einen anderen europäischen Staat zu entlasten, sollen 250.000
       Euro pro Asylbewerber fällig werden. Diese Ausgleichszahlung soll an das
       Land fließen, das sich statt dessen um den Migranten kümmert. Das klingt
       wie eine Kopfprämie – und läuft auf einen unmoralischen Ablasshandel
       hinaus. Doch selbst der ist nicht realistisch. Wieso sollte Polen dafür
       zahlen, wenn die Flüchtlinge vor allem nach Deutschland wollen?
       
       ## Die Kopfprämie – ein fatales Signal
       
       Und wo soll Österreich abkassieren, das nach eigenem Bekunden einige
       Zehntausend Flüchtlinge „zu viel“ aufgenommen hat? Legt man den Schlüssel
       der EU-Kommission zugrunde, kämen leicht einige Dutzend Milliarden Euro
       zusammen. Fatal ist auch das Signal, das von der geplanten Kopfprämie
       ausgeht. Flüchtlinge werden plötzlich als Kostenfaktor betrachtet – dabei
       hieß es im Herbst noch, dass sie eine Bereicherung sind und die Konjunktur
       ankurbeln.
       
       Dass jeder Migrant mit 250.000 Euro taxiert wird, dürfte zudem für Unmut in
       Staaten mit hoher Arbeitslosigkeit sorgen. Wieso soll Spanien diese Summe
       für jeden „zu wenig“ aufgenommenen Flüchtling zahlen, wenn es für die
       eigenen Arbeitslosen keinen Cent aus Brüssel gibt?
       
       Diese Beispiele zeigen, wie unausgegoren der Vorschlag ist. Er ist nicht
       die versprochene Reform der Asylpolitik, sondern läuft auf einen
       Ablasshandel und eine bürokratische Verschlimmbesserung hinaus. Und
       realistisch ist er auch nicht – Tschechien hat schon Widerstand
       angekündigt. Letztlich fehlt der politische Wille für eine gemeinsame,
       solidarische Asylpolitik. Und die EU-Kommission wird mit Schnapsideen wie
       dieser wohl doch das, was sie auf jeden Fall vermeiden wollte: irrelevant.
       
       4 May 2016
       
       ## LINKS
       
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