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       # taz.de -- Politisches Buch über die Türkei: Düstere Aussichten am Bosporus
       
       > Ein Türkei-Sammelband beleuchtet Themen, die im politischen Diskurs zu
       > kurz kommen. Die Hauptfrage kann er aber nicht lösen.
       
   IMG Bild: Staatsgründer Atatürk, Symbolfigur des türkischen Nationalbewusstseins
       
       Kaum ein Thema treibt Europa mehr um als die Lage am Bosporus. Ist das Land
       auf dem Weg zur Diktatur? Ist es schon eine Art Faschismus? Oder plant
       Erdoğan eine Islamische Republik? Parlamentspräsident Ismail Kahraman
       nährte kürzlich diesen Verdacht, als er befand, für den Säkularismus des
       Staatsgründers Atatürk sei „kein Platz“ mehr in einer neuen Verfassung.
       
       Diese ordnungspolitische Gretchenfrage können auch die 16 Beiträger des
       Sammelbandes „Türkei“ nicht endgültig lösen. Obwohl ihre Essays, die die
       Wiener Politologen Ilker Ataç und Michael Fanizadeh in dem Buch vereint
       haben, die Frage durchzieht, ob sich in dem Land „eine neue Form
       autoritärer Staatlichkeit“ entwickelt habe. Das liegt daran, dass manche
       Texte – wiewohl überarbeitet – mehr als vier Jahre zurückliegen. Erdoğan
       war damals noch Ministerpräsident, die politische Polarisierung im Land
       nicht derart fortgeschritten. Kein Wunder, dass sich manche Analysten in
       Formeln wie: „Die Türkei ist ein schwieriges Land“ oder „Wir müssen im Kopf
       behalten, dass wir in einer Region leben, in der alles passieren kann“
       flüchten.
       
       Immerhin beleuchten sie Themen, die im öffentlichen Diskurs zu kurz kommen:
       die kurdische Frauenbewegung, Flüchtlinge in der Türkei oder die
       Schattenseiten des türkischen Wirtschaftswunders. Und sie arbeiten die
       langen politischen Zyklen des Landes heraus. Für den Historiker Rober
       Koptaş beispielsweise, Nachfolger des 2007 ermordeten Hrant Dink als
       Chefredakteur der türkisch-armenischen Zeitschrift Agos, ist die Frage
       nicht neu. Von der autokratischen Herrschaft Atatürks bis zur autoritären
       Entartung der Regierung des ersten frei gewählten, islamischen
       Ministerpräsidenten Menderes 1950, spricht viel für sein nüchternes Fazit,
       dass „die Türkei nie ein sehr demokratisches Land gewesen“ sei, sondern bis
       zum Zweiten Weltkrieg ein „in sich geschlossenes Land mit autoritären
       Zügen“.
       
       Der Istanbuler Politikprofessor Yüksel Takşin dürfte die aktuelle Situation
       am treffendsten auf den Punkt gebracht haben, wenn er einen „kompetitiven
       Autoritarismus“ erkennt. Dessen Merkmale seien einigermaßen freie Wahlen
       und die Parteienkonkurrenz bei gleichzeitiger Formierung des Staats-,
       Justiz- und Sicherheitsapparats.
       
       ## Gründungsdogma als Rechtfertigung
       
       Wie wird man diese Herrschaftsform endlich los? Takşins Hoffnung, die
       Türkei besitze genügend „akkumulierte Weisheit“, um eine „weitere Form des
       Autoritarismus zu überwinden“, dürfte bezweifeln, wer sieht, wie die
       Gezi-Bewegung, deren Erfolge die Politologin Demet Dinler bilanziert,
       darniederliegt. Dass gerade ein „Universum voller Zwänge, die von einer
       monopolitischen Macht auferlegt werden“ den „Geist des Anti-Autoritarismus“
       stärken könne, wie die Soziologin Pinar Selek mit Verweis auf den paradoxen
       Boom der türkischen Frauenbewegung nach dem Militärputsch von 1982
       behauptet, ist vorerst nicht viel mehr als ein theoretischer
       Hoffnungsstreifen am Horizont.
       
       Noch ferner dürfte die Möglichkeit liegen, dass sich die neomuslimische
       Bourgeoisie in einer Ära nach Erdoğan auf das Wagnis eines „neuen,
       demokratischen, multikulturellen und pluralistischen Gesellschaftsvertrags“
       einlässt, wie es Koptaş hofft. Zumal der Kern einer neuen demokratischen
       Politik in der Türkei nicht allein der Widerstand gegen politische
       Repression ist, sondern eine kulturelle Aufgabe: die „Transformation der
       Idee des [ethnisch homogenen, I.A.] Türkischseins“ nämlich, die der
       Istanbuler Soziologe Bülent Küçük skizziert. Mit diesem Gründungsdogma der
       Republik rechtfertigten noch fast alle Regierungen die Verfolgung von
       Kurden wie Oppositionellen.
       
       Angesichts des Teufelskreises aus der „Schwarzen Propaganda“ der Regierung
       gegen Intellektuelle und der Selbstzensur unter den Betroffenen, die die
       Journalistin Ece Temelkuran beschreibt, dürften die Bedingungen für einen
       derart tiefgreifenden, psychosozialen Bewusstseinswandel noch düsterer
       geworden sein.
       
       24 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arend
       
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