URI: 
       # taz.de -- Buch über Leiden am Kapitalismus: Uns geht's wohl zu gut
       
       > Macht der Kapitalismus depressiv? Der Psychoanalytiker Martin Dornes
       > räumt in seinem gleichnamigen Buch mit diesem Märchen auf.
       
   IMG Bild: Kein Halten mehr beim Leiden – und immer soll der Kapitalismus schuld sein
       
       Der erste deutsche Star der Nachkriegszeit, der wie kein anderer den
       Anbruch der therapeutischen Gesellschaft verkörperte, war Hildegard Knef.
       Ende der sechziger Jahre eine Art Anti-Magda-Goebbels der sozialliberalen
       Zeiten, wusste sie wahnsinnig authentisch von ihren inneren Grübeleien,
       psychischen Zwistigkeiten und Subjektivitäten zu berichten. Sie war, Romy
       Schneider nicht zu vergessen, die Spitzenfrau der ersten Talkshows.
       Hinterher kam heraus, dass die Knef keiner Branche so misstraute wie der
       therapeutischen. Sie hielt es lieber mit Astrologie – und Tabletten.
       
       Chemical little helpers – das war ein Grundnahrungsmittel. Was hat diese
       Wirtschaftswundergeneration alles geschluckt: nervös, dauernd in Spannung,
       überlebensmanisch.
       
       Als dann Therapeutisches (Freud, Gestalt, Bhagwan, Encounter and all that
       jazz beziehungsweise passender soul) richtig populär wurde, so Mitte der
       Siebziger, war kein Halten mehr beim Leiden. Der medizinische Komplex war
       mächtig gefordert: Befindlichkeiten unbehaglichster Sorte waren zu
       kurieren.
       
       Inzwischen, ein einziger Google-Klick zum Begriff „Depression“ oder
       „Burn-out“ reicht, nähren sich auch alle antikapitalistischen Bewegungen
       von den Selbstbefunden aufgeklärter, reicher, sicherer Gesellschaften:
       Kapitalismus macht immer kränker, Byung-Chul Han, einer der populärsten
       Stichwortgeber der kulturkritischen Bewegungen, spricht sogar vom „Exzess
       der Leistungsgesellschaft“.
       
       Ein kleines, vom Titel her defensiv stimmendes Buch („Macht der
       Kapitalismus depressiv?“, S. Fischer 2016) von Martin Dornes räumt mit
       diesen Märchen auf. Denn es sind, so der Psychoanalytiker und ehemalige
       Mitleiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, solche
       Selbsterzählungen einer Gesellschaft, die ihre Gewordenheit aus dem Blick
       gern verliert. Tatsächlich: Davon abgesehen, dass in allen
       kapitalistisch-rechtsstaatlichen Ländern die Lebenserwartungen ins
       Methusalemische steigt, dekonstruiert, besser: evaluiert er ganze
       Bibliotheken an zeitgenössischer Leidensliteratur seit 1980.
       
       Und kommt zum – ja, naheliegenden – Befund, dass es im historischen
       Vergleich Menschen in jenen Ländern, auch Deutschland, nie so gut ging, wie
       aktuell dies der Fall ist, gesundheitlich. Dass es besser werden könnte,
       klar: Aber das sei nicht in der Kategorie des Antikapitalismus
       fantasierbar, sondern nur im Hinblick auf Kämpfe um eine weitere
       Verbesserung der Versorgung. Und schließlich: Mangel herrscht tendenziell
       in erster Linie bei den prekär Beschäftigten, womit er nicht die
       Caffé-Latte-Berufe meint, sondern Putzleute und so weiter.
       
       Man hatte es schon geahnt: „Burn-out“ ist ein Lieblingssyndrom gerade
       bohemistischer Kulturmilieus: Obwohl die Krankheit selbst am stärksten
       körperlich hart arbeitende Menschen in proletarischen Berufen betrifft.
       
       24 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
       ## TAGS
       
   DIR Burnout
   DIR Kapitalismus
   DIR Südkorea
   DIR Nuit debout
   DIR Roman
   DIR Kapitalismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Smartphone-Sucht in Südkorea: Offline steigt die Herzfrequenz
       
       In Südkorea zählt nur, wer Leistung zeigt. Deshalb wird aus dem Nichtstun
       sogar ein Wettbewerb – ohne elektronische Geräte.
       
   DIR Bewegung „Nuit debout“ in Berlin: Ableger ohne Elan und Anlass
       
       Aus einer Demo gegen das Arbeitsgesetz ist in Frankreich die
       antikapitalistische Bewegung „Nuit debout“ entstanden. Weltweiter
       Aktionstag am 15. Mai.
       
   DIR Utopisches Buch „Die bleichen Füchse“: Aussteigen mit Yannick
       
       In seinem Roman „Die bleichen Füchse“ entwirft der französische
       Schriftsteller Yannick Haenel einen Aussteiger. Dem ist Aktualität egal.
       
   DIR Antikapitalismus vor Ort: Blockupy geht ins Konzert
       
       Das antikapitalistische Netzwerk ruft vor der Europawahl zur Demo in der
       Hafencity und zur „Besichtigung“ der Elbphilharmonie auf. Wir erklären,
       worum es geht.
       
   DIR Antikapitalismus heute: Wos is des für a Revolution?
       
       Warum ist Antikapitalismus idiotisch? Eine Begegnung mit Wolf Lotter,
       Mitbegründer von „brand eins“ und Autor des neuen Buchs
       „Zivilkapitalismus“.