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       # taz.de -- Linke vereint gegen Rechtsextreme: Wenn Nazis sich nach Göttingen trauen
       
       > Linke Szene und SPD verbündeten sich zur Demo gegen die „Mahnwache“ des
       > rechtsextremen „Freundeskreises Thüringen/Niedersachsen“ in Göttingen.
       
   IMG Bild: Übers Ziel hinaus geschossen, statt zu deeskalieren: Polizeiaufgebot bei der Göttinger Demonstration.
       
       GÖTTINGEN taz | „Die sind ja nicht mehr als eine Schulklasse“, ruft eine
       Frau aus der Menge der Gegendemonstrierenden. Tatsächlich war am Sonnabend
       in dem kleinen Eck vor dem Göttinger Bahnhof, das dem „Freundeskreis
       Thüringen/Niedersachsen“ für ihre Mahnwache zugewiesen wurde, noch viel
       Platz. Unter dem Motto „Deutschland eine Zukunft – linker Gewalt
       entgegentreten“ traute sich der 2015 gegründete „Freundeskreis“ nach
       diversen Kundgebungen im Umland zum ersten Mal in die Universitätsstadt mit
       ihrer traditionell besonders starken linken Szene.
       
       Der „Freundeskreis Thüringen/Niedersachsen“ ist ein loser Verbund der
       Rechten aus Göttingen und dem Umland. Ihre ersten Mahnwachen hatten sie im
       November 2015 in Duderstadt gehalten, 30 Kilometer von Göttingen entfernt.
       Damals hatten Freie Kameradschaften, AfD, die „Neuen Rechten“ und
       selbsternannte „besorgte BürgerInnen“ teilgenommen, wie die
       Internetplattform „Netz gegen Nazis“ herausfand.
       
       Anfangs hatten damals zwei AfD-Nachwuchskader die wöchentlichen
       „Mahnwachen“ angemeldet: Jan Philipp Jaenecke und Lars Steinke. Beide sind
       aktive Göttinger Burschenschaftler. Gegen Jaenecke läuft derzeit ein
       Gerichtsverfahren wegen Körperverletzung. Steinke ist sogar Teilen der AfD
       zu weit rechts. Ein Parteiausschlussverfahren läuft.
       
       Die Nachricht von der für Sonnabend geplanten „Freundeskreis“-Demonstration
       in Göttingen hatte sich indes erst am Mittwoch verbreitet. Die
       Antifaschistische Linke International (A.L.I.), eine Göttinger
       Antifa-Gruppe, rief sofort zum Gegenprotest auf. Das Bündnis gegen Rechts,
       eine Initiative verschiedener örtlicher Parteien, Verbände und
       Organisationen, schloss sich an. Angemeldet wurde die Gegendemonstration
       dann vom DGB Südniedersachsen.
       
       Bis Freitag war jedoch unklar, ob die Nazis wirklich kommen würden. Dann
       teilte die Stadt mit, dass sie die Demonstration leider nicht verbieten
       könne. Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) forderte allerdings zu
       Protesten auf: „Ich unterstütze jede Form des nachdrücklichen, aber
       friedlichen Protestes gegen den Freundeskreis, seine rassistische und
       menschenverachtende Gesinnung und seine Mahnwache in Göttingen.“
       
       Ihre Gesinnung hatten militante Neonazis besonders in den 1990er Jahren
       unter Beweis gestellt. Sie machten in der Stadt Jagd auf AusländerInnen und
       linke Studierende. Trauriger Höhepunkt war die Silvesternacht 1990/1991. Da
       zogen zwei Nazi-Skinheads durch Göttingen, um „herumschwirrende Linke
       durchzuklopfen“, wie sie später aussagten. Mit fünf Messerstichen
       ermordeten sie den 21-jährigen Wehrdienstleistenden Alexander Selchow.
       
       Seit der Jahrtausendwende gilt die Universitätsstadt allerdings als
       weitgehend nazifrei. Der „Freundskreis“, der Sonnabend von 14 bis 16 Uhr
       dastehen und gegen alles wettern wollte, wogegen man als Nazi halt so ist,
       war daher extrem unwillkommen. Besonders bei der beliebtesten Zielscheibe,
       den Göttinger Linken.
       
       Am Sonnabend um 11 Uhr herrscht am Göttinger Bahnhof allerdings noch
       gähnende Leere. Absperrungen werden aufgebaut, einige Polizisten stehen
       herum und rauchen. Für einen Samstagvormittag ist die Bahnhofshalle
       übersichtlich. Normalerweise kommen um diese Uhrzeit die Leute mit dem Zug
       aus dem Umland zum Einkaufsbummel nach Göttingen. Und die GöttingerInnen
       fahren zeitgleich zum Shoppen nach Hannover oder Kassel.
       
       50 Meter vom Bahnhof entfernt sammeln sich derweil die Gegendemonstranten.
       Rund 600 Leute sind das, bunt gemixt. Mehr Jüngere, aber auch viele
       Ergraute. Etwa gleich viele Frauen wie Männer. Linksradikale und
       SPD-FahnenträgerInnen stehen nebeneinander und warten auf den
       „Freundeskreis“.
       
       OB Köhler hält auf der kleinen Bühne nebenan die erste Rede. „Den in Europa
       aufkeimenden Rassismus und Nationalismus müssen wir auch hier in Göttingen
       bekämpfen“, sagt er. Die meisten klatschen.
       
       Deutlich sind aber auch die Zwischenrufe aus der Menge zu hören: „Wie kann
       einem, der so eine beschissene Flüchtlingspolitik verantwortet, hier die
       Bühne geboten werden?“, fragt einer, der etwas weiter am Rand steht. Die
       Stadtbehörde ist gerade dabei, Flüchtlinge aus den verschiedenen
       innenstadtnahen Unterkünften in eine Halle im Industriegebiet umzusiedeln.
       „Isolation der Geflüchteten in der äußersten Randlage“ werfen
       Flüchtlingshelfer Köhler vor.
       
       400 Linke haben deshalb vorigen Donnerstag vor dem Rathaus gegen die
       Zwangsumsiedlung protestiert. Und damit gegen den sozialdemokratischen OB.
       Heute jedoch kommen die Nazis, und dagegen sind sie schließlich alle,
       scheint der Tenor zu sein. Burgfrieden, vorerst.
       
       Dass der gemeinsame Kampf gegen den Faschismus Differenzen zumindest für
       einen Tag ruhen lässt, zeigte sich schon 2005. 300 NPD-AnhängerInnen
       wollten damals durch die Göttinger Innenstadt ziehen. 5.000 Menschen
       stellten sich ihnen in den Weg. Die Demo wurde allerdings nach kurzer Zeit
       abgebrochen – unter anderem weil Hunderte Linksautonome Straßensperren
       errichteten. Brennende Mülltonnen sorgten für eine Rauchwolke über der
       Stadt. Trotz der Ausschreitungen der linken Szene betrachteten die meisten
       GöttingerInnen den Tag später als Erfolg.
       
       Ein Jahr später versuchte es die NPD noch einmal. Wieder gingen 4.000
       Menschen dagegen auf die Straße. Zuletzt gab es 2013 eine Veranstaltung der
       Partei „Die Rechte“. Lediglich sieben Rechtsextreme trauten sich zur
       Veranstaltung. Seitdem herrschte Ruhe.
       
       Vereint sind Sozialdemokraten und Linksautonome an diesem Samstag aber
       nicht nur in ihrem Protest gegen Rechts, sondern auch in ihrer Wut auf die
       Polizei. Etwa 20 bis 30 jüngere Gegendemonstrierende versuchen über die
       Absperrung zu klettern und den Versammlungsort des „Freundeskreises“ zu
       besetzen. Statt auf Deeskalation zu setzen, geht die Polizei allerdings zum
       Angriff über. Die BeamtInnen setzen Reizgas ein; die
       SPD-Landtagsabgeordnete Gabriele Andretta wird an den Augen verletzt und
       muss im Krankenhaus behandelt werden. Am Nachmittag wird die Göttinger SPD
       sagen, der Einsatz der Polizei sei „eine einzige Machtdemonstration“
       gewesen.
       
       Um kurz nach 14 Uhr beginnt die offene Provokation. Die ersten
       Rechtsextremen betreten den Bahnhofsvorplatz. Mario Messerschmidt steht
       breitbeinig vor der Absperrung und genießt es, von der Gegenseite mit
       Pfiffen und Mittelfingern begrüßt zu werden. Messerschmidt saß einige Jahre
       in Haft, weil er in einer Table-Dance-Bar mit einer Pumpgun auf den
       Besitzer schoss und die Polizei anschließend ein ganzes Reservoir illegaler
       Waffen bei ihm fand.
       
       Messerschmidt repräsentiert anschaulich, was der „Freundeskreis“ ist: Ein
       Haufen militanter Neonazis. Anfangs konnte der „Freundeskreis“ noch im
       Umland „besorgte BürgerInnen“ für ihre Mahnwachen mobilisieren. Am diesem
       Samstag zeigt sich, dass nur noch der harte Kern aufläuft.
       
       Die nächsten knapp 90 Minuten werden laut. Trotz der unzähligen Differenzen
       zwischen den verschiedenen Gruppen der Gegendemo stehen sie dicht zusammen
       und schreien „Haut ab“.
       
       Die Lautsprecher des „Freundeskreises“ kommen dagegen nicht an. Als die
       Rechten die Stadt wieder verlassen, bricht bei den Gegendemonstranten Jubel
       aus. Die Stadt ist nun vorerst wieder nazifrei. „Das muss aber auch für die
       ganzen Dörfer und Kleinstädte in der Umgebung gelten“, sagt einer, der zur
       linksautonomen Szene gehört.
       
       23 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR André Zuschlag
       
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