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       # taz.de -- Die Wahrheit: Nur 48 Stunden noch
       
       > Wer das Telefon abhebt, der verfällt der Stimme am anderen Ende der
       > Leitung. Ein Erfahrungsbericht
       
       Ich sitze am Tisch. Es klingelt. Auf dem Display des Telefons erscheint
       eine ellenlange Nummer. Sehr verdächtig. Ich hebe trotzdem ab. „Hallo“,
       ruft eine Männerstimme, „hallo, sind Sie die Person, die als Letztes in
       ihrem Haushalt Geburtstag gehabt hat?“ – „Aber hallo“, rufe ich zurück,
       „genau die Person bin ich. Was kann ich für Sie tun?“
       
       Der Mann am anderen Ende der Leitung ist ganz aus dem Häuschen vor Freude,
       anscheinend waren andere von ihm Angerufene begriffsstutziger als ich oder
       legten gleich auf. „Sie müssen mir helfen“, sagt er, und jetzt bekommt
       seine Stimme ein flehentliches Timbre, „ich mache eine Umfrage.“ – „So, so,
       eine Umfrage“, antworte ich betont gelangweilt, denn insgeheim bin ich ein
       Fan von Umfragen, allerdings bin ich noch nie zu Hause am Telefon nach
       meiner Meinung gefragt worden.
       
       „Um was geht es denn bei ihrer Umfrage?“ Der Mann räuspert sich, er scheint
       sich im Kopf zu sortieren – handelt es sich etwa um schlüpfrige, ja
       unsolide Fragen? „Nun ja, es geht um Parks in Berlin und so. Ein bisschen
       Politik ist auch dabei, Sie verstehen. Irgendwie geht es ja immer ein
       bisschen um Politik, nicht wahr?“
       
       Dem kann ich nur zustimmen, natürlich geht es stets und überall um Politik,
       und Frauen können nicht einparken. Natürlich, nur dass ich jetzt leider gar
       keine Zeit habe, mich dem freudig flehenden Anrufer zu widmen, der im
       Übrigen ein computergestützter Fronarbeiter des Umfrageinstituts Forsa ist.
       
       „Wissen Sie was, junger Mann?“, sage ich: „Rufen Sie mich doch in zwei
       Stunden auf meinem Mobiltelefon an. Dann sprechen wir uns wieder.“ Am
       anderen Ende der Leitung ertönt ein Seufzen. „Ich darf mir keine Nummern
       notieren“, und seine Stimme klingt fast schon sexy, „das ist alles total
       anonym hier.“ Jetzt bin ich aber traurig und frage benommen: „Woher haben
       Sie denn meine Nummer?“ – „Aus dem Computer. Zufällig.“ So, so, zufällig
       also, alles Zufall im Leben. So kommen wir nie zusammen, der schnuckelige
       Forsamann und ich.
       
       Endlich hat mein Telefondate eine Idee. „Ich stelle ihre Festnetznummer für
       diesen Freitag, 16.30 Uhr, im Computer auf Wiederanruf. Wir sprechen uns
       erneut!“ Wie aufregend. „Ich werde am Apparat sein“, sage ich und es klingt
       schicksalhaft. Dann verabschieden wir uns.
       
       Sofort lande ich auf der Interseite der Forsa. „Alle diese Ereignisse“,
       steht dort, „müssen stets genau protokolliert und verarbeitet werden, damit
       zur richtigen Minute diese Telefonnummer erneut angerufen und einem
       Interviewer an den Bildschirm gebracht wird.“ O ja, so ist es, den
       Forsamann und mich trennen nur noch kurze 48 Stunden . . .
       
       Am besagten Freitag erledige ich das Leben im Sauseschritt, schaffe es so
       eben, einen Snack einzuwerfen. Ein seit Wochen anberaumtes Treffen mit
       einer von weither anreisenden Freundin sage ich kurzfristig ab: „Ich muss
       zu einem Telefoninterview nach Hause. Es ist dringend.“ Außer Atem sitze
       ich um 16.29 Uhr vor dem Apparat. Der Forsamann hat sich nie wieder bei mir
       gemeldet.
       
       24 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harriet Wolff
       
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