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       # taz.de -- Debatte Nationbuilding im Kosovo: Mit besten Absichten versenkt
       
       > Die Hilfen des Westens sollten Europas jüngsten Staat demokratisieren.
       > Stattdessen haben sie nur das korrupte System gestärkt.
       
   IMG Bild: Oppositionelle demonstrieren in Pristina: Bunte Fahnen allein reichen nicht
       
       Seit dem Krieg 1999 ist der Kosovo Schauplatz der ehrgeizigsten und
       teuersten internationalen Intervention der Geschichte. Ihr Ziel: der Aufbau
       eines neuen, demokratischen Rechtsstaates. Doch die politischen und
       wirtschaftlichen Institutionen des ehemals zu Serbien gehörenden Landes
       funktionieren auch nach neun Jahren internationaler Verwaltung und über
       sieben Jahren Überwachung durch die Europäische Union nicht.
       
       Korruption ist laut einem unabhängigen Bericht vom Mai 2015
       „allgegenwärtig“, organisierte Kriminalität „weit verbreitet“ und
       Straflosigkeit für Verbrechen „systematisch“. Armut grassiert, die
       Arbeitslosigkeit ist gewaltig und die Beziehungen zwischen albanischer
       Mehrheit und serbischer Minderheit sind weiterhin angespannt. Seit 2008
       stuft die US-NGO „Freedom House“ den Kosovo als einzigen Balkanstaat als
       „halb konsolidiertes autoritäres Regime“ ein.
       
       Das nicht funktionierende Regierungssystem wurde nach dem Krieg von
       Angehörigen der kosovoalbanischen Befreiungsarmee UÇK geschaffen. Den
       Exguerilleros, die eng mit der organisierten Kriminalität auf dem Balkan
       verbunden sind und denen zum Teil Kriegsverbrechen vorgeworfen werden,
       gelang es, ihre militärische Stärke in politische und wirtschaftliche Macht
       umzuwandeln. Ihre Strategie dabei: alle Institutionen und Gruppen, die ihre
       Macht gefährden könnten, entweder zu übernehmen oder zu unterwandern.
       
       Trotzdem nähren große Teile der internationalen Gemeinschaft weiterhin die
       Hoffnung, dass die politischen Eliten des Kosovo eines Tages ihre
       kriminellen Aktivitäten einstellen und zu Staatsmännern werden. Diese Idee
       war schon zu Beginn der Mission naiv. Mittlerweile aber wurde sie, bewusst
       oder unbewusst, zum Deckmantel für eine Politik, deren höchste Priorität
       politische Stabilität ist und die so das bestehende System stützt.
       
       ## Ein Rechtsstaat wäre ein Risiko für die Elite
       
       Wer glaubt, die Korruption sei in absehbarer Zeit überwindbar, der irrt.
       Sie ist zu verbreitet und betrifft zu viele auch außerhalb des
       Machtapparats – geschätzt sind das 1 bis 5 Prozent der Bevölkerung. Das
       macht es unmöglich, einen Rechtsstaat aufzubauen, ohne die Macht der Eliten
       zu gefährden – was ein großes Risiko für viele ihrer Angehörigen wäre.
       Dieses Risiko wäre nur durch eine Amnestie zu vermeiden. Aber solange diese
       nicht Teil einer Vereinbarung über die friedliche Übergabe der politischen
       Macht wäre, würde jede Veränderung der Machtverhältnisse oberflächlich
       bleiben.
       
       Die Mächtigen im Kosovo brauchen keinen Rechtsstaat, zumal sie ihren
       zusammengestohlenen Reichtum ins Ausland bringen können. Sie werden ihre
       Macht nicht abgeben, solange sie nicht dazu gezwungen werden. Etwa von
       einem pluralistischen, alternativen politischen Bündnis. Oder von einem
       Volksaufstand. Oder von der Macht des Westens.
       
       Ein alternatives politisches Bündnis ist derzeit nicht in Sicht, ebenso
       wenig eine Revolution. Und der Westen zeigt seit 1999 keine Neigung, die
       Korruption in die Schranken zu weisen. Die Beschwichtigungspolitik der
       internationalen Gemeinschaft und das Fehlen einer glaubwürdigen politischen
       Alternative sind zwei Seiten derselben Medaille. Schließlich war es die
       Unterstützung des Westens, die es den Mächtigen im Kosovo nach 1999
       überhaupt erst ermöglichte, die heute noch herrschenden Verhältnisse zu
       etablieren.
       
       So reagierten die westlichen Organisationen und Staaten kaum auf
       Verhaftungen von ein paar Mitgliedern der parlamentarischen Opposition –
       die genau betrachtet illegal waren, aber nach Ansicht der Regierung eine
       Protestwelle verhinderten –, was die Machthaber zu noch mehr Festnahmen
       ermunterte: Im Februar dieses Jahres war fast die Hälfte der
       parlamentarischen Opposition im Gefängnis oder stand unter Hausarrest.
       
       Es ist bemerkenswert, dass die anderen Balkanländer sich in puncto
       Demokratie und Rechtsstaat besser entwickelt haben als das Kosovo – obwohl
       sie nur einen Bruchteil der westlichen Aufmerksamkeit und Unterstützung
       erhalten haben. Obwohl das Kosovo etwa fünfmal mehr Pro-Kopf-Finanzhilfe
       erhalten hat als die Nachbarländer, leben die Bürger dort heute zwischen
       vier und sieben Jahre kürzer als ihre Nachbarn.
       
       ## Keine Stabilität, nirgends
       
       Die mangelnde Bereitschaft, der staatlich praktizierten Kriminalität
       entgegenzutreten, hat nicht nur den Interessen des Kosovo geschadet,
       sondern auch denen Europas. Die derzeitige Situation im Parlament – seit
       September 2015 boykottiert die Opposition immer wieder Sitzungen – zeigt,
       dass diese Strategie nicht einmal mehr kurzfristig Stabilität gewährleisten
       kann.
       
       Der Westen sollte sich entweder viel mehr einmischen, um das derzeitige
       Regierungssystem zu verändern – oder den Rückzug aus dem Kosovo antreten
       und beginnen, den jüngsten Staat Europas genauso zu behandeln wie die
       anderen Balkanländer, die der EU beitreten wollen. Dann könnten die Bürger
       selbst entscheiden, ob sie das derzeitige Regime bevorzugen – oder ob sie
       ihren Staat öffnen und sowohl Stabilität als auch Demokratie haben wollen.
       Je schneller sie diese Wahl vor Augen haben, desto besser.
       
       Parallel dazu sollten die europäischen Regierungen ihren Bevölkerungen
       erklären, warum der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates im Kosovo
       gescheitert ist. Die Politik der Unterstützung einer räuberischen Elite auf
       Basis der Erwartung, dass diese Stabilität garantiert, wäre wahrscheinlich
       lange beendet worden, hätte es eine öffentliche Debatte darüber gegeben.
       
       Viel deutet darauf hin, dass mehr Pflicht zum Ablegen von Rechenschaft
       nicht nur dem Kosovo nutzen würde, sondern auch der EU-Außenpolitik.
       Abseits dessen sollten die Regierungen des Westens ein Interesse daran
       haben, ihr Engagement im Kosovo kritisch zu analysieren: Die Lehren, die
       daraus gezogen werden können, dürften hilfreich sein beim Umgang mit
       aktuellen Kriegen wie denen in Syrien oder in der Ukraine. Beide stellen
       den Westen im Allgemeinen und Europa im Besonderen vor weit kompliziertere
       Herausforderungen, als es sie im Kosovo jemals gab.
       
       Übersetzung aus dem Englischen: Rüdiger Rossig
       
       30 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Lorenzo Capussela
       
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