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       # taz.de -- Frank Castorfs langer Abschied: Tragödie will er nich
       
       > Frank Castorf erzählt am Ende seiner vorletzten Spielzeit an der
       > Volksbühne in Berlin von Molière. Dem ging es noch viel schlechter als
       > ihm.
       
   IMG Bild: Viel los auf der Bühne in „Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn de Molière“
       
       Die Bühnenarbeiter haben zu tun. Zwei Prunkzelte mit Bett und Salon, eine
       kleine barocke Bühne auf einem Karren, ein Geländer, eine Leinwand, das
       alles will regelmäßig verschoben werden in dem Bühnenbild, das Aleksandar
       Denić für Castorfs jüngsten Streich an der Berliner Volksbühne gebaut hat.
       Warum eigentlich, sieht man die Schauspieler, die in „Die Kabale der
       Scheinheiligen. Das Leben des Herrn de Molière“ oft hinter der Zeltwand
       agieren, doch eh meistens in Großaufnahme.
       
       Großartig, wie sich Georg Friedrich mit Allonge-Perücke auf den Kissen
       aalt, ein nachlässiger König von Frankreich, Ludwig der Große, charmant,
       ein wenig zurückgeblieben womöglich oder diesen Anschein nutzend, probiert
       er die eigene Machtfülle aus. Soll man ihn jetzt erlauben oder verbieten,
       den Herrn Molière?
       
       Das Beste käme nach der Pause, flüstern sich Insider in der Premiere zu,
       nein, in der Pause könne man ruhig gehen, hätten sie gehört, flüstern
       andere zurück. Vier Stunden dauere es heute, nein fünf, nein sechs. Molière
       (Alexander Scheer) muss in sechs Tagen ein Stück schreiben, der König
       schützt ihn, Molières „Tartuffe“ wird verboten, der Kardinal (Lars Rudolph)
       war beim König. Der Kardinal und der Sonnenkönig spielen Fangen, wie
       aufgezogene Spielzeugfiguren trippeln sie, endlich über die ganze Bühne.
       
       ## Die Rache des Klassizismus
       
       Jeanne Balibar und Jean-Damien Barbin, zwei von Castorfs Truppe, geben zwei
       von Molières Truppe, deklamieren in Französisch Racine, die „Phädra“: Mit
       steifem Klassizismus rächt sich das Theater für Molières Verdrängung. Dann
       aber bekommt Jeanne Balibar als Molières Geliebte Madeleine Béjart einen
       hysterischen Anfall nach dem anderen. Weil er erstens sie als Muse und
       Geliebte gegen ein jüngeres Modell, nämlich ihre gemeinsame illegitime
       Tochter, eintauschen möchte – Phädras inzestuöse Wünsche bleiben also nicht
       allein – und zweitens jetzt gleich Premiere ist, ohne dass sie ihren Text
       und ihre Rolle kennt.
       
       Der russische Schriftsteller Michail Bulgakow hat die beiden hier
       verbratenen Stücken „Die Kabale der Scheinheiligen“ und das „Leben des
       Herrn de Molière“ geschrieben; dass er eine Zeitlang von Stalin begünstigt
       wurde, bevor Zensur und Geheimpolizei ihn fertigmachten, spielt man auch,
       als Exposition sozusagen.
       
       Dann wird aus Molière, dem Theaterregisseur, Jeff, der Filmregisseur aus
       Rainer Werner Fassbinders Film „Warnung vor einer heiligen Nutte“, und
       wieder weiß keiner, was er spielen soll, man zerfleischt sich vor
       Eifersucht und trinkt Cuba Libre. (Vermutlich läuft deshalb in einer
       Umbaupause „Soy Cuba“, ein russisch-kubanischer Film von 1964. Historisch
       wertvoll, aber was ist jetzt der Kontext?)
       
       ## Viele Spiegel
       
       Der Regisseur Jeff weiß nicht weiter und tyrannisiert seine Truppe. Warum
       bleibt ihr denn, fragt einer, er gibt einem so viel Freiraum, seufzt die
       eben noch schmerzgekrümmte verschmähte Geliebte. „Der König kommt. Ich
       blicke nicht mehr durch, ich brauche eine Denkpause“, sagt jetzt wieder
       Molière, aber sein Aufnahmeleiter ist gegen Pause, pleite ist man eh.
       
       Frank Castorf spiegelt sich an diesem mit viel Wohlwollen aufgenommenen
       Abend in Molière, in Bulgakow, in Fassbinder, in Racine eher nicht. Das
       Genie und seine Verbote, das ist eine groß ausgerollte Folie, um dann doch
       in gut gelaunt wirkenden Witzen den eigenen Abschied von diesem Haus
       vorzubereiten. Erstaunlich.
       
       Oder vielleicht auch nicht erstaunlich, schließlich ist er weder pleite,
       noch wird er verboten oder in Verbannung geschickt; eigentlich, vielleicht
       ist das der sich erst am Abend der Premiere offenbarende Sinn, geht es ihm
       sogar ziemlich gut, mit diesen tollen Schauspielern. Die möglicherweise –
       „immer spielen, spielen, wir müssen ein Ende finden“, sagt Sophie Rois als
       eine von Molières erschöpfter Truppe, und wer im Publikum nicht gerade
       weggedämmert ist, so kurz nach Mitternacht, freut sich schon wieder – nun
       ja, nicht mehr ganz so überrascht von seinen Methoden sind.
       
       ## Die Banane, berüchtigt
       
       Der Stücke-Zertrümmerer kann keine Tragödie, erzählen die Schauspieler über
       ihn, deshalb soll auch das Ende seiner Intendantenzeit (in einem Jahr) dem
       Slapstick gleichen, dem berühmten Ausgleiten auf einer Bananenschale. Nur
       dass das schneller geht als fünf Stunden.
       
       Und jetzt? Jetzt habe ich den Schluss der Inszenierung vergessen. Da wurde
       viel gestorben, erst Molière als der „Eingebildete Kranke“, dann Molière
       als Molière, dann auch seine Frau, oder Exfrau, oder war das doch eher
       Phädra? Dann war auch mal von der ermordeten Kunst die Rede, erst unter
       Stalin, dann auch hier in Berlin. Da fehlt was, da fehlt was ganz
       eindeutig. Aber macht nichts, am Ende viel Applaus.
       
       30 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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