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       # taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Allegorie auf das Gefängnis Familie
       
       > Familien- und Geistergeschichten sowie Sozialdramen dominieren den
       > Wettbewerb. Für Letztere sind wie immer die Brüder Dardenne zuständig.
       
   IMG Bild: Die Regisseure Luc (l.) und Jean-Pierre (r.) Dardenne mit ihrer Hauptdarstellerin Adèle Haenel
       
       Neben Familien- und Geistergeschichten sind soziale Fragen ein beliebtes
       Sujet in diesem Wettbewerb von Cannes. Bei den belgischen Brüdern
       Jean-Pierre und Luc Dardenne ist das nicht überraschend, gesellschaftliche
       Realität abzubilden ist eines ihrer Anliegen. Dass sie mit „La fille
       inconnue“ (Das unbekannte Mädchen) in den Wettbewerb eingeladen wurden,
       überrascht ebenso wenig: Es ist ihr siebter Film, dem diese Ehre zuteil
       wird.
       
       Die französische Hauptdarstellerin Adèle Haenel verleiht ihrer Rolle als
       junge Ärztin dabei einiges an Dringlichkeit, obwohl ihre gewissenhafte
       Medizinerin Jenny Davin kaum eine Miene verzieht. Dieses „kaum“ gelingt ihr
       dafür umso besser. Was man von der Handlung nur begrenzt sagen kann.
       
       Eine Frau stirbt unter völlig ungeklärten Umständen, nachdem sie außerhalb
       der Sprechzeiten an Doktor Davins Praxistür geklingelt hatte – die Ärztin
       ließ die Klingel unbeantwortet. Als Davin vom Tod der Unbekannten erfährt,
       setzt sie aus Schuldgefühl alles daran, den Namen der Gestorbenen zu
       erfahren.
       
       Im weiteren Verlauf sieht man die Ärztin vorwiegend bei der Arbeit. Die
       spielt sich in benachteiligten Milieus ab, von den Dardennes bei diversen
       Hausbesuchen in Szene gesetzt. Davins Figur wirkt in ihrer manischen
       Konsequenz allerdings so stark konstruiert, dass sie das Vorhaben,
       belgische Wirklichkeit zu zeigen, am Ende zuungunsten des Films
       unterminiert.
       
       ## Unerklärliche Fälle von Wahnsinn
       
       Weniger um soziale als um spiritistische Fragen dreht es sich in
       „Gokseong“, einem außer Konkurrenz gezeigten Dämonen-Horrorfilm des
       Koreaners Na Hong-jin. In dem Dorf Gokseong treten plötzlich unerklärliche
       Fälle von Wahnsinn und brutalen Morden auf. Die Polizei ist ratlos,
       vermutet aber bald einen vor Kurzem am Ort aufgetauchten Japaner hinter den
       Vorkommnissen.
       
       Na Hong-jin, der 2008 mit „The Chaser“ einen hochgradig pulstreibenden
       Thriller vorgelegt hat, wollte sich diesmal vor Okkult-Klassikern wie „The
       Exorcist“, „Omen“ und„Rosemary’s Baby“ verneigen. Das tut er mit einigen
       Zitaten – ein besessenes Mädchen, dessen Körper unappetitliche
       Veränderungen aufzuweisen beginnt, Teufelsbeschwörungen –, zugleich
       variiert er die Vorlagen, indem er christliche Motive mit schamanistischen
       Praktiken kreuzt.
       
       Das Drehbuch nimmt dafür mehrere umständliche Anläufe, die sich zum Teil
       als bewusste Ablenkungsmanöver herausstellen, in ihrer Gänze jedoch den
       Spannungsbogen arg durchhängen lassen. Trotz geglückter Momente mit
       handfestem Schrecken einerseits und „comic relief“ andererseits – die
       Polizei etwa wird als eingeschränkt kompetente Truppe inszeniert – und des
       stilvoll bösen Schlusses: Der Film findet keinen Rhythmus für seine
       Geschichte und lässt den Grusel schon mal unfreiwillig komisch wirken.
       Dafür hätte man keine zweieinhalb Stunden im Kino sitzen müssen.
       
       ## Vorwürfe und Projektionen
       
       Ein Höhepunkt im Wettbewerb stammt hingegen vom Kanadier Xavier Dolan mit
       seinem bitter-präzisen Familientreffen „Juste la fin du monde“. Der
       Dramatiker Léo (Gaspar Ulliel) kehrt nach zwölf Jahren Abwesenheit in sein
       Elternhaus zurück. Er will seiner Mutter und den Geschwistern seinen
       baldigen Tod ankündigen und sich beweisen, dass er bis zum Schluss Herr
       über sein Leben ist.
       
       Doch sobald er angekommen ist, muss er den ihm zugewiesenen Platz annehmen:
       den des abwesenden Sohns und Bruders, der die Familie im Stich gelassen hat
       und sich nicht für sie interessiert. Eigentlich kommt er gar nicht selbst
       zum Sprechen, da er permanent mit den Vorwürfen und Projektionen der
       anderen konfrontiert ist.
       
       „Juste la fin du monde“ ist eine Lehrstunde darin, dass sich echte
       Kommunikation stets da ereignet, wo sie misslingt. Die Sprache wird oft von
       Musik überlagert, als Hintergrundrauschen, während Léo stumm versucht,
       Abschied zu nehmen. Marion Cottilard, Léa Seydoux, Nathalie Bayle und
       Vincent Cassel in weiteren Rollen verdichten dieses Kammerspiel zu einer
       melancholischen Allegorie auf das Gefängnis Familie.
       
       19 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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