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       # taz.de -- Beschluss im türkischen Parlament: Ein Viertel ist nicht mehr immun
       
       > Das türkische Parlament hat die Aufhebung der Immunität von 138
       > Abgeordneten beschlossen. Im Visier ist die pro-kurdische Partei HDP.
       
   IMG Bild: Umstrittene Entscheidung: türkische Abgeordnete rufen Slogans im Parlament
       
       Istanbul taz | In mehreren Wahlgängen hat das türkische Parlament mit der
       notwendigen Zweidrittelmehrheit die Immunität für solche Abgeordnete
       aufgehoben, gegen die es ein Ermittlungsverfahren gibt. Damit hat Präsident
       Recep Tayyip Erdogan sein Ziel erreicht, den größten Teil der kurdischen
       oder pro-kurdischen Abgeordneten der HDP aus dem Parlament zu werfen. Der
       Bürgerkrieg in den kurdischen Gebieten der Türkei wird damit weiter
       eskalieren.
       
       Obwohl insgesamt 138 Abgeordnete des Parlamentes von dieser
       Immunitätsaufhebung betroffen sind, geht es tatsächlich vor allem um die
       Abgeordneten der kurdisch-linken HDP. Präsident Erdogan wirft ihnen vor,
       der verlängerte Arm der „Terrororganisation PKK“ zu sein und fordert seit
       Wochen, diese „Terrorunterstützer und Verräter“ aus dem Parlament zu
       entfernen.
       
       Die Schlüsselrolle bei dieser jetzt beschlossenen Selbstverstümmelung des
       Parlaments, hatte die sozialdemokratisch-kemalistische Oppositionspartei
       CHP. Ohne die Stimmen der CHP wäre keine Zweidrittelmehrheit zustande
       gekommen, weshalb Erdogan und seine AKP-Regierung die CHP bereits im
       Vorfeld der Abstimmung als Terrorunterstützer brandmarkte, sollten sie
       gegen die Aufhebung der Immunität stimmen.
       
       Diese Propaganda verstärkte sich, nachdem die CHP in der ersten
       Abstimmungsrunde am Dienstag dieser Woche tatsächlich gegen die
       Verfassungsänderung gestimmt hatte. Auch gestern war sich die CHP noch
       nicht einig, wie sie sich verhalten sollte. Auf Druck der Parteiführung
       stimmten dann aber rund 20 CHP Abgeordnete dafür, was für die
       Zweidrittel-Mehrheit reichte.
       
       Sprecher der CHP rechtfertigten ihr Abstimmungsverhalten mit dem Argument,
       dass es ansonsten zu einer Volksabstimmung über die Aufhebung der Immunität
       gekommen wäre, die die Spannungen im Lande noch weiter angeheizt hätte. Die
       Volksabstimmung meinte ein CHP-Abgeordneter resigniert, hätte Erdogan
       sowieso gewonnen.
       
       ## So wie bereits 1993
       
       Sobald das Gesetz nun in der kommenden Woche in Kraft tritt, hat die
       Staatsanwaltschaft 15 Tage Zeit, ihre Anklagen gegen die 138 Parlamentarier
       den zuständigen Gerichten vorzulegen, die dann darüber entscheiden müssen,
       ob sie ein Verfahren zulassen. Von der 59 Abgeordneten starken HDP Fraktion
       drohen jetzt insgesamt 50 Abgeordneten eine Anklage. Mit der Aufhebung der
       Immunität erlischt auch der Schutz vor einer Verhaftung. Zwar bleiben alle
       Abgeordneten so lange Parlamentarier, bis ein endgültiges Urteil vorliegt,
       sie können aber bereits jetzt in Untersuchungshaft genommen werden.
       
       Das wird insbesondere auf die führenden Köpfe der HDP Fraktion zukommen.
       Gegen den HDP Co-Chef und Fraktionsführer Selahattin Demirtas und die
       Co-Sprecherin der Partei, Figen Yüksekdag laufen allein mehr als 30
       Verfahren, allesamt wegen Terrorunterstützung oder Mitgliedschaft in einer
       Terrororganisation. Sie werden als erste im Gefängnis verschwinden. Aber
       auch die anderen 48 HDP Abgeordneten werden sicher ein Verfahren bekommen,
       ob alle in U-Haft genommen werden, wird sich in den kommenden Tagen zeigen.
       
       Der Rauswurf der kurdischen Abgeordneten wirkt wie ein Deja-vu einer
       ähnlichen Situation 1993. Damals waren erstmals in der Geschichte der
       Türkei ein halbes Jahr zuvor vier kurdische Abgeordnete, darunter Leyla
       Zana, Friedenspreisträgerin des Europäischen Parlaments, ins türkische
       Parlament gewählt worden. Genau wie heute wurde ihnen vorgeworfen, die PKK
       zu unterstützen oder selbst Mitglieder der PKK zu sein. Bei allen vier
       wurde die Immunität aufgehoben, alle vier wurden verhaftet und verschwanden
       für mehr als zehn Jahre im Gefängnis. Nicht zuletzt dieses Vorgehen gegen
       die kurdischen Abgeordneten führte zur bis dahin schlimmsten Phase im Kampf
       der PKK gegen den türkischen Staat.
       
       20 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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