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       # taz.de -- Freiwillige Helfer retten Flüchtlinge: Die Geschichte eines Bildes
       
       > Martin Kolek wollte keine Menschen aus dem Wasser fischen. Dann hielt er
       > ein totes Kind in den Händen. Er ist einer von vielen.
       
   IMG Bild: Kolek und das Kind
       
       Das Geräusch war hoch, ganz hoch. Es durchdrang den Wind und die
       Motorengeräusche und das Rauschen der Wellen. Martin Kolek kam nicht
       darauf, was es sein könnte, das wunderte ihn, er kennt sich mit Tönen aus,
       als Musiktherapeut in Ostwestfalen. Es klang wie Höhen von Technomusik,
       doch niemand würde hier Musik laufen lassen, inmitten der Kriegsschiffe,
       Hubschrauber und abdriftenden Rettungsinseln.
       
       Martin Kolek fuhr zwischen ihnen in seinem Boot umher, auf der Suche nach
       den Ertrunkenen, denen er schnell Rettungswesten an die Beine band, damit
       sie nicht im Meer versinken. Selbst dabei konnte er dieses Geräusch nicht
       ignorieren. Und es dauerte bis er merkte, dass es die Seilwinde war, auf
       dem italienischen Kriegsschiff Vega, die das Netz hochzog, trotz Windstärke
       vier. Wie bei einem Trawler, der seinen Fang einzieht, doch in dem Netz
       waren keine Fische, es waren die Leichen, die Kolek, der Musiktherapeut aus
       dem Sauerland, vor dem Untergehen mit Schwimmwesten markiert hatte.
       
       1.000 Menschen starben in der letzten Woche im Mittelmeer, 3.000 in den
       letzten Monaten. Mehr als jemals zuvor in einem Frühjahr, mehr als in
       manchem Krieg. Gleichzeitig wurden etwa 40.000 Menschen gerettet. Das ist
       auch, vielleicht vor allem, das Werk von einem halben Dutzend privater
       NGOs, die sich im Mittelmeer um Menschen in Seenot kümmern. Es sind
       Organisationen, wie es sie bisher nicht gab. Sie protestieren nicht nur,
       sie sind dabei eine Art zweiter Küstenwache zu werden. Sie retten Menschen.
       Sie tun etwas, was sie eigentlich nicht tun wollten.
       
       Eine dieser Organisationen ist die Initiative Sea Watch, für die Martin
       Kolek im Einsatz war.
       
       Sie fragen sich hier, was passiert wenn sie immer mehr Freiwillige finden,
       die den Booten mit den Flüchtlingen entgegen fahren? Die Rettungswesten,
       Halbliterflaschen mit Wasser, Aludecken verteilen wollen? Was, wenn sie
       immer mehr Spenden bekommen, sie bessere Boote anschaffen können,
       Funkgeräte, Drohnen, Radare? Sollen sie hier tatsächlich einen Job machen,
       der eigentlich die Aufgabe der europäischen Staaten wäre?
       
       ## Jeder 23. Flüchtling kommt nicht an
       
       „Fähren statt Frontex“, fordert Sea Watch, legale Wege nach Europa. Niemand
       soll auf die Schlepperboote müssen, niemand soll von Menschen wie Martin
       Kolek oder italienischen Soldaten aus dem Wasser gezogen werden müssen. Die
       Sea Watch will vor allem aufmerksam machen auf die alltägliche Katastrophe
       an den Rändern Europas. Die Gleichgültigkeit durchbrechen, sagen ihre
       Aktivisten, das Abstumpfen der Öffentlichkeit. Wenn es sein muss mit dem
       Foto des toten Babys, das sie am 27. Mai geborgen haben; dessen Bild Sea
       Watch an Nachrichtenagenturen gab und so einmal mehr zeigte, was heute mit
       jedem 23. Flüchtling geschieht, der versucht, über Lybien nach Europa zu
       kommen.
       
       Aber was, wenn die Fähren trotzdem nicht kommen? Wie viele Tage wie den 27.
       Mai wird es dann noch geben?
       
       Kurz vor sieben Uhr an jenem Morgen ruft die italienische
       Rettungsleitstelle MRCC über das Satellitentelefon auf der Sea Watch II an.
       Die hatte die Nacht am Rand der libyschen Hoheitsgewässer verbracht. In der
       Nähe treibe ein Schlauchboot mit 120 Menschen, die Küstenwache gibt die
       Koordinaten durch. Das Boot der Flüchtlinge, ist überladen und ohne
       Treibstoff, aber intakt. Die Sea Watch verteilt Schwimmwesten. Wie üblich
       will sie warten, bis ein größeres Schiff die Menschen aufnimmt. Doch nach
       kurzer Zeit meldet sich die Rettungsleitstelle erneut: Zwei Fahrstunden
       entfernt gab es ein großes Unglück. Die Sea Watch soll dorthin fahren.
       Dringend.
       
       Es ist ein Dilemma. Darf sie die Menschen hier mit den Schwimmwesten
       zurücklassen? Oder muss sie den neuen Notfall ignorieren? Die Sea Watch ist
       nur für 30 Menschen ausgelegt, sie nimmt normalerweise selbst keine
       Flüchtlinge auf. Jetzt entscheidet die Crew anders. Sie räumt das Deck
       frei, 120 Menschen aus der Elfenbeinküste, Gambia, dem Senegal kommen an
       Deck. Sie kriegen Wasser und Reis, danach schlafen sie ein, die Sea Watch
       fährt zur nächsten Unglücksstelle.
       
       ## Lebende unterscheiden sich kaum von Toten
       
       Hubschrauber kreisen dort neben dem Kriegsschiff Vega. Ein großes Holzboot
       ist gesunken, 500 Menschen waren an Bord, der Rumpf war leck. Das Wrack
       ragt an einer Seite aus dem Wasser, Rettungsinseln treiben umher, Leichen,
       Lebende schwimmen im Wasser. Italienische Kampfschwimmer sammeln mit einem
       kleinen Boot Geflüchtete ein und bringen sie zur Vega.
       
       Die Sea Watch Crew hilft. Sie fährt mit ihrem Beiboot zu Überlebenden,
       zieht sie aus dem Wasser. Manchmal sind die Lebenden von den Toten kaum zu
       unterscheiden. Manche wollen das Brett nicht loslassen, an dem sie sich
       seit Stunden festhalten. Martin Kolek und die anderen bringen die
       Geretteten zum italienischen Kriegsschiff.
       
       Irgendwann sind im Wasser nur noch Leichen. Es ist später Nachmittag, Wind
       ist aufgezogen, die Toten treiben auseinander, auf eine Quadratmeile
       verteilen sie sich. Die Suche dauert. Wird es dunkel sind die Körper weg,
       versunken. Die Vega funkt: Kann die Sea Watch Crew helfen bei der Suche?
       
       Das ist nicht vorgesehen. Die Organisation will keine Toten bergen.
       
       Aber Versunkene bekommen kein Grab. Sie werden nicht gezählt. Und die
       Statistik der Mittelmeertoten ist ein Politikum. Doch solange die
       Vega-Besatzung Leichen sucht, kann sie die 120 Menschen auf der Sea Watch
       nicht aufnehmen. Wenn sie im Dunkeln auf das Militärschiff übersetzen
       müssen, wird es für sie gefährlich.
       
       „Wir haben dann entschieden, das zu machen,“ sagt Martin Kolek, der
       Musiktherapeut.
       
       ## Die Politik könne das Sterben dauerhaft verhindern
       
       Harald Höppner, der Gründer der Sea Watch, ist ein alternativer
       Kleinunternehmer aus Barnim im Land Brandenburg. Er wurde bekannt, weil er
       im April 2015 „eine Talkshow zum Schweigen gebracht“ hat, wie der
       Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo sagte. Höppner war Gast in Günther
       Jauchs Talkshow, der Moderator interviewte ihn. Später in der Sendung lief
       er auf die Bühne und forderte die Zuschauer auf, sich zu erheben und den
       Toten im Mittelmeer eine Gedenkminute zu schenken. Die Leute machten mit.
       „Jauch verliert die Kontrolle“, schrieb die Bild. Ein paar Tage später
       sitzt Höppner bei di Lorenzo in der Talkshow. Seine Aktion habe „Millionen
       Menschen tief beeindruckt,“ sagt di Lorenzo. Er sei „zornig geworden“, sagt
       Höppner. Er habe das Gefühl gehabt, die Opfer seien bei Jauch zu kurz
       gekommen.
       
       In wenigen Tagen gehen Beträge in insgesamt sechsstelliger Höhe auf
       Höppners Spendenkonto ein. Das Geld, das er für den Kauf des Schiffes
       vorgestreckt hatte, ist wieder drin. Er bekommt 500 Bewerbungen von
       Freiwilligen, die mitfahren wollen. Höppner hält einen Platz für
       Journalisten frei. „Es geht darum, dass es endlich Wege geben muss, wie
       Migranten in die EU kommen können, ohne dafür ihr Leben riskieren zu
       müssen“, sagt er. Dazu wolle er das Sterben der Flüchtlinge nach Berlin
       bringen, ins Zentrum der deutschen Öffentlichkeit. Denn nicht Menschen wie
       er, nur die Politik könne das Sterben dauerhaft verhindern. Er will
       Aufmerksamkeit, aber nicht die Aufgaben der Europäischen Union bei der
       Rettung von Schiffbrüchigen übernehmen.
       
       Ein Jahr später parkt ein junger Mann einen weißen Kleinbus mit blauen Logo
       von Höppners Organisation auf dem Seitenstreifen der Küstenstraße von
       Gzira, einem Vorort von Maltas Hauptstadt Valletta. Bis vor vier Jahren hat
       Tamino Afrikawissenschaft studiert, dann stieg er als Aktivist in der
       Berliner Flüchtlingsszene ein. Mit blonden Dreadlocks, Sonnenbrille und dem
       Funkgerät am Gürtel sieht er aus wie ein Roadie bei einem Konzert. Er trägt
       Sauerstoffflaschen ins „Aquamarin“, ein Tauchgeschäft. „Bis morgen müssen
       die nachgefüllt sein,“ sagt er, setzt sich hinter das Steuer und fährt
       weiter.
       
       Alle zwei Wochen wird es stressig. Dann wechselt die Crew der Sea Watch. So
       wie heute. Tamino ist der einzige Mitarbeiter, der das Basislager, wie er
       es nennt, an Land betreut. Seit April ist er in Valletta, unbezahlt.
       
       Er holt Crewmitglieder vom Flughafen, hält Kontakt mit Behörden, der Werft,
       erklärt den Neuen, was sie wissen müssen.
       
       An einem kleinen, etwas abgelegenen Hafenbecken von Valletta strahlt das
       Wasser flaschengrün, in der Sonne dümpelt die Sea Watch II. Es ist ein
       ehemaliges britisches Forschungsschiff aus den sechziger Jahren, über dem
       Heck hängt die Flagge der Niederlande. „Das ist steuermäßig und so alles
       schick“, sagt Tamino.
       
       ## Die Helfer grillen zusammen, sie tauschen Teile
       
       Das Schiff wird gerade klar gemacht für den nächsten Törn, an Bord Kapitän,
       „Head of Mission“, zwei Navigatoren, drei Maschinisten, Köchin, fünf
       Mediziner, drei Helfer, alle ehrenamtlich. Eine Gruppe Männer bringt einen
       Schriftzug an der Bordwand an. „Seerettung“ auf Arabisch. Morgen soll es
       losgehen, zwei Wochen, wie immer.
       
       Am anderen Ende des Hafenbeckens liegt die kleinere Sea Watch I, das Schiff
       hat Unternehmer Höppner noch privat bezahlt. Sie wird gerade überholt.
       „Eigentlich ist unser Plan, sie nach Athen zu verlegen“, sagt Tamino. In
       der Ägäis wechselten die Routen teils stündlich. „Wenn wir sehen, am
       Wochenende geht es nach Chios, dann können wir damit, zack, in Chios vor
       Ort sein“, sagt Tamino. Aber noch sind sie unsicher. „Nach dem, was hier in
       den letzten Wochen los war, lassen wir es vielleicht auch hier.“
       
       Lebende retten. Tote bergen. Weil die Staaten der Europäischen Union
       versagen, entsteht widerstrebend eine alternative Gesellschaft zur Rettung
       von Schiffbrüchigen. Insgesamt acht Schiffe von fünf Initiativen dieser Art
       gibt es im zentralen Mittelmeer derzeit, alle sind privat finanziert. Sea
       Watch gehört dazu, die maltesische Migrant Offshore Aid Station, Ärzte ohne
       Grenzen. Sie sind mit zwei Schiffen hier, dazu noch Sea Eye und SOS
       Mediterranee aus Deutschland mit je einem Schiff, ab Juli will auch eine
       Gruppe namens „Jugend rettet“ mitmachen.
       
       Tamino steht auf dem Deck und schaut über das Hafenbecken. Hier liegen auch
       die Schiffe der Malteser und von Ärzte ohne Grenzen. Abends grillen die
       Seeretter der NGOs zusammen, erzählt Tamino, sie tauschen Ersatzteile. Mit
       der Sea Eye stimme man den Törnplan ab, um Lücken auf See zu vermeiden.
       
       ## „Die Italiener reißen sich den Arsch auf“
       
       Ärzte ohne Grenzen und die maltesische Gruppe haben anders als Sea Watch
       feste Besatzungen. Die von einem maltesischen Industriellenpärchen
       finanzierte Migrant Offhore Aid Station überwacht ab Montag das Meer mit
       Drohnen aus der Luft, um nicht länger auf die Meldungen der
       Rettungsleitstelle oder den Zufall angewiesen zu sein.
       
       Dass die Länder der EU vieles unterlassen, um Flüchtlingen auf dem Meer zu
       helfen, lässt einen neuen Typ von NGO entstehen. Sie übernehmen staatliche
       Aufgaben, doch anders als Wohlfahrtsverbände werden sie dafür nicht vom
       Staat finanziert. Denn ihre Arbeit unterläuft die staatliche Politik. Sie
       lehnen die Abschottungspolitik ab und anders als Amnesty International
       belassen sie es nicht bei Appellen, sondern tun selbst das, was sie
       fordern. Angetreten als Notlösung bilden sie langsam professionelle, feste
       Strukturen, fügen sich in die Verhältnisse ein, suchen nach pragmatischen
       Lösungen. Sie verändern die staatlichen Institutionen. Ein bisschen. Und
       sie verändern sich selbst.
       
       Lange Zeit haben Flüchtlingsgruppen alle Behörden gleichermaßen für die
       vielen Toten verantwortlich gemacht. Seitdem manche mit ihrer Arbeit so
       etwas wie Kollegen staatlicher Seeretter geworden sind, urteilen sie
       differenzierter. „Die Italiener“ sagt Tamino, „die sind top, die reißen
       sich echt den Arsch auf.“ Umgekehrt hat MRCC, die italienische
       Rettungsleitstelle in Rom ihr Misstrauen aufgegeben. „Wenn wir am Telefon
       sind, werden wir direkt an einen bestimmten Apparat durchgestellt, der
       Mensch dort ist immer sehr freundlich“, sagt Tamino. Und seit dem Frühjahr
       lädt die MRCC die privaten Seeretter zu regelmäßigen Treffen ein.
       
       Einer der Maschinisten kommt an Deck. „Gibt es schon genaue ETD?“ fragt
       Tamino. Estimated Time of Departure. Er will wissen, wann sie losfahren.
       „Mittags“, sagt der Navigator. „Aber ich brauch' jetzt unbedingt sofort das
       Teil, dass du besorgen solltest. Sofort.“ Als Tamino gerade losfahren will,
       kommt ein junger Mann an Deck. „Hier“, sagt er und hält den Zeigefinger an
       seinen Bart. „Nicht vergessen. Damit kann ich nicht in der Hitze auf See.“
       Tamino fährt in die Stadt, Bartschneider und Ersatzteile kaufen.
       
       ## 1.000 tote Flüchtlinge in einer Woche
       
       Kurz nachdem die Sea Watch wieder in Valletta einläuft, tritt am
       vergangenen Dienstag in Genf Flavio Di Giacomo, Sprecher der
       Internationalen Organisation für Migration, vor die Presse. [1][Bei einer
       Serie von Schiffsunglücken im Mittelmeer seien in den vergangenen Woche
       über 1.000 Flüchtlinge ertrunken.] Bis dahin war die UN von niedrigeren
       Zahlen ausgegangen. 2016 sei bislang ein „besonders tödliches“ Jahr, sagte
       ein Sprecher des UN-Flüchtlingswerks UNHCR. Flüchtlinge aus Syrien und dem
       Irak waren unter den Opfern der jüngsten Unglücke – offenbar Folge der
       Schließung der Balkanroute.
       
       Am selben Tag stirbt Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Cap
       Anamur. Er war berühmt geworden, weil er als Redakteur bei der Deutschen
       Welle kündigte, ein Schiff kaufte, fast 11.000 vietnamesische Flüchtlinge
       auf See rettete und nach Deutschland brachte.
       
       Ein „wahres Vorbild gelebter Mitmenschlichkeit“, sagt die Bundeskanzlerin.
       „Er wird uns immer ein Vorbild bleiben“, sagt der Bundespräsident. Er werde
       als „Beispiel für viele Menschen in Erinnerung bleiben“, sagt der
       Außenminister.
       
       Der Tod Neudecks macht Deutschlands Spitzenpolitiker betroffen. Auf die
       Tausenden Toten im Mittelmeer reagiert hingegen kaum jemand. Vielleicht
       haben sich viele Menschen an solche Nachrichten gewöhnt.
       
       Nicht der Mann der seinen Bart loswerden möchte. Er heißt Florian Pithan,
       ist Mitte 30, Ingenieur bei einem Forschungsinstitut in Hamburg, früher
       Greenpeace-Aktivist. Da hat er gelernt, wie man die kleinen High-Speed
       Schlauchboote fährt, mit denen Aktivisten Walfänger blockieren. Dieses
       Wissen wird hier gebraucht. Nur mit diesen Booten kann sich die Sea Watch
       den Flüchtlingen im Meer unmittelbar nähern, die großen Sea Watch-Schiffe
       sind dafür zu hoch.
       
       ## Auf den Rettungswesten ist Schweiß und Kotze
       
       Drei Wochen unbezahlten Urlaub hat Pithan genommen. Fünf Tage ist er jetzt
       hier, die letzten hat er damit zugebracht, 600 Rettungswesten in großen
       Bottichen auf dem Achterdeck zu spülen. „Der ganze Schweiß, und man weiß ja
       auch nie, ob die Leute draufgekotzt haben, die sind ja alle seekrank.“
       
       Jetzt steht er auf dem Peildeck und erklärt den Schiffskompass, der jedes
       maritime Museum schmücken würde. „Hier stehen wir mit dem Fernglas und
       suchen die Flüchtlinge“ sagt er. „Mit dem Radar sieht man die nicht.“ Aktiv
       suchen kann die Crew allerdings nur tagsüber. „Bei Dunkelheit müssen wir
       den Motor ausmachen und driften, sonst fährt man noch über die rüber.“ Ein
       Nachtsichtgerät könnte die Sea Watch gut gebrauchen. „Aber eines, das was
       taugt, kostet 50.000 Euro.“
       
       Das Standardszenario: Die Flüchtlinge sitzen in einem Schlauchboot mit
       Außenbordmotor. Sea Watch geht davon aus, dass die Boote containerweise in
       China nur für diese Zwecke bestellt werden. „Das ist hundsmiserable
       Qualität, so was schlechtes gibt es sonst gar nicht“, sagt Florian Pithan.
       120 Insassen sei der Regelfall. Gefunden werden sie meist zwischen acht
       Stunden und drei Tagen nach der Abfahrt von der libyschen Küste. „In die 12
       Meilen Zone fahren wir nicht rein.“ Im Einflussbereich der Milizen wären
       sie selbst in Gefahr.
       
       Die Aufgabe der Sea Watch: „Finden, sichern, Erstkontakt.“ Das Benzin in
       den Booten reiche nicht, also treiben die Boote dahin, ohne Essen, manchmal
       ohne Wasser. „Die fallen teilweise völlig entkräftet raus und versinken wie
       ein Stein, schneller, als wir sie fassen können“, sagt er. „Entweder können
       sie sowieso nicht schwimmen oder die Tage in der sengenden Hitze haben sie
       fertig gemacht.“ Also bekommen sie als erstes eine Rettungsweste, eine
       Halbliterflasche Wasser. „Früher haben wir große Flaschen für je mehrere
       Leute ausgegeben, aber das war nicht gut, dann gab es Zank, das ist ja
       alles total anstrengend, auch psychisch.“
       
       Während Florian Pithan auf den Bartschneider wartet, bereitet sich Ruby
       Hartbrich, eine junge Medizinstudentin aus Marburg, auf ihren zweiten Törn
       auf der Sea Watch vor. Sie soll sich nicht nur um Kranke kümmern, sondern
       auch um die Presse. Sie hat die Initiative im Vorjahr zufällig auf Facebook
       entdeckt. Wie steckt man den Anblick Dutzender Leichen weg? „Jeder weiß,
       was ihn erwartet“, sagt sie. An den Tagen vor und nach dem Törn werden die
       Crewmitglieder von Mitarbeitern des evangelischen Vereins
       „Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen“ in Valletta betreut. Und
       dann? „Jeder geht anderes damit um“, sagt Hartbrich. „Was unheimlich hilft,
       ist zu wissen, dass das, was wir machen gut ist.“ Das sei ein „großer
       Faktor, der Traumatisierungen verhindern kann.“ Zudem versuche der Verein,
       Fachpersonal zu finden.
       
       ## Der Innenminister sagt, das sei schon richtig so
       
       Wie lange soll es weitergehen? „Bis die Politik entscheidet, sichere und
       legale Wege einzurichten“, sagt sie. Und wenn dies bedeutet, auf Dauer hier
       bleiben zu müssen? Ging es nicht ursprünglich um öffentlichen Druck? „Wir
       hoffen natürlich darauf, dass die Zivilgesellschaft sich auflehnt und die
       Seenotfälle nicht mehr entstehen“, sagt Ruby Hartbrich. Aber danach sehe es
       im Moment nicht aus. Das Thema rücke aus dem Fokus. „Wir wollten das nicht,
       aber es hat sich so ergeben, das wir langsam zu einer professionellen Such-
       und Rettungsorganisation werden.“ Ihnen sei klar, dass Seenotrettung nicht
       die Lösung und die Sea Watch Teil eines Systems sei. „Die Schlepper rechnen
       auch damit, dass die Leute gerettet werden. Und trotzdem muss unsere Arbeit
       gemacht werden.“
       
       „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen,
       unser Ansatz ist richtig“, sagte Innenminister Thomas de Maizière (CDU)
       Anfang April, als die EU mit der Türkei ihr Abkommen zur Grenzsicherung
       schloss. Dass sei genau das Problem, sagt Hartbrich: Dass die
       Öffentlichkeit immer schneller bereit sei, harte Bilder auszuhalten. Und
       trotzdem hat Sea Watch in der letzten Woche ein „hartes Bild“ an die
       Nachrichtenagentur Reuters gegeben: Das Bild des toten Babys, geborgen am
       27. Mai von einem Sea Watch Freiwilligen.
       
       Das sei ein großes ethisches Problem gewesen: „Die Identität ist nicht
       geklärt, wir wissen nicht ob die Eltern überlebt haben.“ Sie habe mit
       anderen Gruppen und Journalisten beraten und dann entschieden, das Bild zu
       veröffentlichen. „Wir haben das nicht getan, um Spenden zu generieren. Wir
       wollen demonstrieren, was die Realität ist.“
       
       Und die Realität sah so aus, dass Martin Kolek, der Musiktherapeut aus
       Ostwestfalen, den Tag damit verbracht hatte, die Überlebenden an Bord der
       Sea Watch II mit Reis und Decken zu versorgen. Und jetzt am Nachmittag
       fürchtete er, dass es Nacht würde bevor die Geflüchteten an Bord der Vega
       gehen könnten. Und so stieg L. in das Beiboot der Sea Watch und suchte nach
       Toten, damit die Lebenden in Sicherheit gebracht werden konnten.
       
       Mit drei anderen Aktivisten fuhr er in immer weiteren Kreisen um die
       Unglücksstelle. Die Wellen waren einen Meter hoch, die Leichen schon starr.
       An Bord hatten sie 25 Rettungswesten, sie banden jedem Toten, den sie
       fanden, eine davon ans Bein, damit die Italiener sie bergen können.
       
       ## „Ich gehe in dieses Boot und ich suche nach Zukunft“
       
       „Ich habe beschlossen, jedes Gesicht einmal anzuschauen,“ sagt Kolek.
       Manche hatten „sehr feine, geflochten Haare, rote Tücher.“ Die jüngsten
       waren Säuglinge, 10 bis 14-jährige waren darunter, Jugendliche, die älteste
       war keine 40 Jahre. Ihr Schuhe und Jacken trieben auf den Wellen, es gab
       ein Paar, das in Leichenstarre ineinander verschlungen war. Wenige Meter
       entfernt von ihnen schwamm ein Baby, schon ein Stück unter der Oberfläche.
       
       Kolek glaubte, es müsse ein Junge sein, genau kann er es nicht sagen, das
       Kind trug Windeln. Es war die einzige Leiche, die sie nicht markierten,
       sondern in ihr Boot nahmen. „Ich habe selbst drei Kinder, das war ein
       Automatismus.“
       
       Dann machten sie das Bild, das wenige Tage später Zeitungen auf der ganzen
       Welt drucken würden. Sie fuhren zum Boot der Italiener und Kolek reichte
       das Baby dem Leiter der Kampfschwimmer und er sagte „Thank You“ dann
       markierten sie weiter Leichen und als die Rettungswesten verbraucht waren,
       gaben die Kampfschwimmer ihnen neue und Kolek sang „afrikanische Lieder, um
       nicht schreien zu müssen“, sagt er, „ich war unter Intensität, ich kann es
       gar nicht richtig sagen, unter Lebenswille.“
       
       Und irgendwann war es vorbei und er kehrt an Bord der Sea Watch zurück und
       hörte immer noch das Sirren der Seilwinde, bis er einschlief.
       
       „Die Dinge, die vorgefallen sind, habe ich mir vorher so im Kopf
       vorgestellt“, sagt er später. „Das war im Rahmen dessen, was ich befürchtet
       hatte. Nur an Säuglinge habe ich nicht gedacht.“ Kolek ist ein Mann von
       vielleicht Mitte 40, mit rotem Bart und blauen Augen. Tage nach dem Einsatz
       werkelt er auf der Sea Watch. Er trägt blaue Arbeitshandschuhe und trotz
       der Hitze eine schwarze Wollmütze. Er ist zertifizierter Traumaberater.
       „Ich beobachte mich schon“ sagt er. Die Konzentrationsschwächen. Das
       nächtliche Aufwachen. Den hohen Puls.
       
       Es war sein erster Einsatz auf der Sea Watch. Dass sie Helden sind, davon
       will er nichts wissen. „Die echten Helden,“ sagt Martin Kolek, das sind die
       Leute, die entschieden haben: Ich gehe in dieses Boot und ich suche nach
       Zukunft.“
       
       4 Jun 2016
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Seenotretter zu Bergung von Flüchtenden: „Ich wollte trotzdem vor Ort sein“
       
       Vor vier Jahren war der Therapeut Martin Kolek zum ersten Mal als
       Seenotretter im Einsatz. Das Geschehen hat ihn nie wieder losgelassen.
       
   DIR Seawatch über Grenzschutz im Mittelmeer: „Man zwingt die Leute auf die Boote“
       
       Seawatch patrouillierte vor der libyschen Mittelmeerküste, um Flüchtende zu
       retten. Die hätten keinen anderen Weg, als übers Meer, sagt Pressesprecher
       Ruben Neugebauer.
       
   DIR Französischer Spionageflug nach Libyen: Abgestürzt und aufgeflogen
       
       Französische Aufklärer verunglücken auf dem Weg nach Libyen beim Start in
       Malta. Den Vorfall begleiten drei Versionen und zwei Dementis.
       
   DIR Flüchtlinge in Italien: Dioros dritter Anlauf
       
       Die Grenze zu Frankreich ist bereits dicht. Seither versuchen immer mehr
       Flüchtlinge in die Schweiz auszuweichen.
       
   DIR Ärztin Held über Einsätze im Mittelmeer: „Die Toten trieben im Wasser“
       
       Barbara Held arbeitet eigentlich als Ärztin auf einem Kreuzfahrtschiff. Für
       zwei Wochen wechselte sie auf die „Sea-Watch 2“, um Flüchtende zu retten
       
   DIR Befristetes Baden: Eröffnet, um zu schließen
       
       Unibad öffnet am 8. August wieder für Badegäste, das endgültige Aus aber
       bleibt besiegelt. Dafür sollen Horner Bad und Westbad bis Ende 2019 neu
       entstehen
       
   DIR Kommentar Pushbacks von Flüchtlingen: Unter den Augen der EU
       
       Frontex kann sich jetzt nicht mehr aus der Affäre ziehen, was die illegale
       Abschiebung von Flüchtlingen betrifft. Und Deutschland auch nicht.
       
   DIR Vernetzungstreffen in Leipzig: Wie weiter in der Flüchtlingshilfe?
       
       In Leipzig sind Ehrenamtliche zusammengekommen. Es gibt große Unterschiede
       zwischen ihnen, aber oft haben sie die gleichen Probleme.
       
   DIR Integration in Trier: Die syrische Weinkönigin
       
       In Trier, das der Legende nach von einem Flüchtling gegründet wurde, wird
       nun bald eine gebürtige Syrerin die Winzer vertreten: Ninorta Bahno.
       
   DIR Kommentar Tote Flüchtlinge im Meer: Wir Routinierten
       
       Erneut sterben Hunderte auf dem Mittelmeer. Doch wir kommen damit besser
       klar als vor der „Flüchtlingskrise“. Es braucht nur ein bisschen Ignoranz.
       
   DIR Flüchtlingsboot vor Kreta gekentert: Viele Tote befürchtet
       
       Südlich von Kreta sinkt ein überfülltes Boot. 340 Flüchtlinge wurden
       gerettet. Befürchtet wird, dass doppelt so viele an Bord waren.
       
   DIR Pädagogin über Schwimm-Integration: „Er dachte, dass er schwimmen kann“
       
       Sie haben die Flucht über das Mittelmeer überlebt und ertrinken in
       Deutschland, 27 Menschen 2015. Astrid Touray vom Landessportbund trifft
       finstere Prognosen.
       
   DIR Mehr als 1.000 tote Flüchtlinge: Todesfalle Mittelmeer
       
       Die Schätzungen zur Zahl der Opfer von Flüchtlingsunglücken in der
       vergangenen Woche steigen immer weiter. IOM spricht von mehr als 1.000
       Toten.