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       # taz.de -- Organisierter Taschendiebstahl in Berlin: Die Masche mit der Rolltreppe
       
       > In Berlin läuft ein Prozess gegen drei mutmaßliche Drahtzieher einer
       > Bande von Taschendieben. Es handelt sich um ein europäisches
       > Pilotverfahren.
       
   IMG Bild: Seit Mai sitzen die mutmaßlichen Drahtzieher in Berlin auf der Anklagebank
       
       Die Angeklagten weinen. Es handelt sich um Vater, Mutter und Sohn einer
       Roma-Familie. An jedem Prozesstag, der im Mai begonnen hat, ist das so. Am
       morgigen Dienstag geht es weiter. Auch den Angehörigen im Zuschauerraum,
       die eigens aus Rumänien angereist sind, laufen Tränen die Wangen hinunter.
       Schluchzen und Schnäuzen erfüllt den Gerichtssaal. Irgendwann reicht es der
       Vorsitzenden Richterin. Sie verbittet sich die Szenen. „Das hilft den
       Angeklagten auch nicht.“
       
       Mircea A., seine Frau Somna C. und der gemeinsame 22-jährige Sohn Vasile C.
       sind wegen bandenmäßigen Taschendiebstahls angeklagt. Es ist ein
       europäisches Pilotverfahren. Erstmals sei es gelungen, die Drahtzieher
       einer europaweit agierenden Bande anzuklagen, sagt Staatsanwalt Dirk
       Eckert. Drei Roma-Familien aus der rumänischen Stadt Iași seien involviert.
       Sechs weitere Angeklagte stehen demnächst vor Gericht. Insgesamt 54 Kinder,
       Jugendliche und junge Erwachsene, zumeist mit den mutmaßlichen Drahtziehern
       verwandt, sollen von diesem von Iași aus beim Taschendiebstahl befehligt
       worden sein.
       
       Somna C. trägt einen langen grünen Rock und eine Strickjacke. Das Kopftuch
       hat sie tief ins Gesicht gezogen. Immer wieder wischt sie sich über die
       Augen. Die Familie ist im Dezember von Rumänien ausgeliefert worden.
       Seither sitzen die drei in Untersuchungshaft. „Freiheitsentzug wirkt auf
       Roma massiv, weil sie sehr freiheitsliebend sind“, sagt einer der
       Verteidiger im Prozess. Bei den Ermittlungen war die Bundespolizei
       federführend, rumänische und französische Behörden und Europol haben
       zugearbeitet.
       
       „Scara rulanta“ – Rumänisch für Rolltreppe –, nannten die Ermittler das
       Verfahren, das 2013 eröffnet wurde. Auslöser war, dass Diebe an S-Bahnhöfen
       und am Hauptbahnhof oft den Rolltreppentrick anwendeten: Einer aus der
       Gruppe machte sich auf der Rolltreppe an ein potenzielles Opfer heran, ein
       Zweiter gab ihm Rückendeckung, ein Dritter drückte auf Kommando den
       Nothalteknopf. Die Irritation, die durch den abrupten Stopp entstand, ist
       der Moment, in dem der Zugriff erfolgte. Noch bevor der Beklaute merkte,
       wie ihm geschah, waren die Diebe mit seinem Handy oder Portemonnaie über
       alle Berge.
       
       Taschendiebstahl hat in Berlin enorm zugenommen. Der Wegfall der
       EU-Binnengrenzen wird von der Polizei als einer der Gründe genannt. Seit
       2013 hat sich die Zahl der registrierten Fälle mehr als verdoppelt. 40.000
       Anzeigen hat die Polizei 2015 aufgenommen. Die Dunkelziffer dürfte weit
       höher sein.
       
       Die Aufklärungsquote liegt bei 4 Prozent. Den Schaden pro angezeigter Tat
       beziffert die Polizei auf 320 Euro. Bei 40.000 angezeigten Taten seien das
       im letzten Jahr 12 Millionen Euro gewesen, sagt Lothar Spielmann,
       Dezernatsleiter für Betrug und Taschendiebstahl beim Landeskriminalamt
       Berlin. 1.324 Tatverdächtige wurden 2015 ermittelt, in 86,7 Prozent der
       Fälle handelte es sich bei diesen laut Polizei um Nichtdeutsche. 31,6
       Prozent der ermittelten Tatverdächtigen hätten die rumänische
       Staatsangehörigkeit gehabt. Bei einer Aufklärungsquote von 4 Prozent ließen
       sich daraus aber keine statisch validen Schlussfolgerungen ziehen,
       bestätigt Spielmann.
       
       Fingerspitzengefühl sei erforderlich, um keine Vorurteile gegen Roma zu
       schüren, sagt Gerichtssprecherin Lisa Jani. Der Prozess sei ein wichtiges
       Signal, es geht darum, an die Hintermänner zu kommen, „egal woher sie
       stammen“. Staatsanwalt Eckert drückt es so aus: Den Hintermännern müsse
       klar werden, dass es ihnen nichts nützt, sich hinter ihren Kindern zu
       verstecken.
       
       Angeklagt sind 21 Taten, begangen zwischen Oktober 2013 und Februar 2014 an
       Verkehrsknotenpunkten in Berlin. Ein halbes Jahr lang hatte die
       Bundespolizei die Telefone der Angeklagten abgehört. An die Daten war sie
       durch die Festnahme einzelner Klauteams gekommen. Wegen ihres jugendlichen
       Alters und der geringen Straferwartung wurden sie nach der
       Identitätsüberprüfung stets wieder laufen gelassen. Aus den Protokollen der
       Telefonüberwachung ergibt sich laut Staatsanwaltschaft, dass die
       Angeklagten die Klauaktionen von Rumänien aus steuerten. Reise und
       Unterkunft in Berlin für die Teams seien ebenso organisiert worden wie
       auch, wer mit wem stehlen geht und wann man die Stadt zu wechseln habe. Und
       immer wieder sei die Anweisung ergangen, das erbeutete Geld sofort nach
       Rumänien zu transferieren.
       
       Das Gericht hat den Angeklagten Strafen zwischen zwei Jahren auf Bewährung
       (für Vasile C.) und bis zu drei Jahren und acht Monaten (für die Eltern) in
       Aussicht gestellt, wenn sie ein Geständnis ablegen. Das ist inzwischen
       erfolgt. Somna C. weint, als ihre Anwältin für sie erklärt, ihre Mandantin
       lebe mit sieben Angehörigen in Iași in einem winzigen Häuschen. Von dem
       Geld habe sie Medizin für ihren kranken Enkel gekauft.
       
       Der RBB hat in einer Reportage unter Berufung auf die rumänische Polizei
       berichtet: Im eigentlich armen Iași würden seit ein paar Jahren auffällig
       große Häuser gebaut. „Wer dort wie wohnt, ist mir egal“, sagt Staatsanwalt
       Eckert. Und, auf die Tränen der Angeklagten angesprochen: „Das ist kein
       Ausdruck von Unrechtsbewusstsein.“ Eine Roma-kundige Dolmetscherin sagt,
       Emotion zu zeigen, das sei Mentalität der Roma. „Sie leiden wirklich, aber
       sie wollen auch sich und andere beeindrucken.“
       
       6 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Plutonia Plarre
       
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