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       # taz.de -- Leben auf einer Hallig: „Was sollen wir anderswo?“
       
       > Seit 299 Jahren leben die Kruses auf der Hallig Nordstrandischmoor. Das
       > Land wird regelmäßig überschwemmt, das Wasser steigt. Umziehen wollen sie
       > nicht.
       
   IMG Bild: Wenn nichts passiert, wird der Klimawandel die vier Warften auf Nordstrandischmoor schlucken
       
       Nordstrandischmoor taz | Kjell schaut aus dem Küchenfenster in Richtung
       Meer. Er trägt eine Arbeitshose, gespickt mit Flecken. Matsch, Gras,
       irgendwas vom Schaf, was man so abbekommt auf der Hallig. Kjell ist neun
       und weiß, dass er irgendwann den Hof von seinem Vater übernehmen wird. Also
       90 Schafe, ein paar Landmaschinen und ein rotes Backsteinhaus. Und er wird
       für den Küstenschutz arbeiten. Wie sein Vater, wie alle Männer auf der
       Hallig, alle drei. Denn ohne den Küstenschutz würde es sein Zuhause, wenn
       er erst mal erwachsen ist, nicht mehr geben.
       
       Sein Zuhause ist die Hallig Nordstrandischmoor, eine von zehn winzigen
       Inseln im nordfriesischen Wattenmeer; sieben von ihnen sind bewohnt.
       
       Nordstrandischmoor, das sind vier Erdhügel, drei Familien und eine Schule.
       Die Hallig entstand als Bruchstück der ehemaligen Insel Strand bei einer
       Sturmflut im Mittelalter. Nur die vier Warften, aufgeschüttete Erdhügel,
       ragen in die Höhe. Dort leben die 23 Nordstrandischmoorer geschützt auf
       ihren Höfen. Eine eingleisige, über einen Steinwall verlaufende Lorenbahn
       verbindet die Hallig mit dem Festland, eine enge Straße schlängelt sich
       über drei Kilometer von Warft zu Warft. Dazwischen feuchte Salzwiesen. Das
       Land wird alle paar Wochen von der Nordsee überschwemmt.
       
       Seit 299 Jahren leben die Kruses auf der Hallig. Die Kruses, das sind die
       89-jährige Frieda, ihre Tochter Ruth, 52, deren 28-jähriger Sohn Nommen mit
       seiner Frau Stefanie, 26, sowie die Kinder Kjell und Emma, eins. Auf zwei
       Warften und Höfen haben sie sich verteilt. Zwei Warften und Höfe, die dem
       Klimawandel nicht gewachsen sind. Zu hoch werden sich künftig die
       Sturmfluten auftürmen. Zu niedrig sind die alten Warften, zu marode die
       Häuser, in denen die Familie lebt.
       
       „Wir sind wirklich unter Zugzwang. Wenn die nächste große Sturmflut kommt,
       dann haben wir hier richtig Schaden“, sagt Nommen Kruse, zu Besuch auf der
       Warft seiner Mutter und seiner Oma. Wie bei den anderen Familien auch, den
       „Zugezogenen“, wie Uroma Frieda sie nennt, also den seit knapp 100 Jahren
       hier lebenden Glienkes und Sieferts, ist vorrangig der Mann fürs
       Geldverdienen zuständig. Geldverdienen, das bedeutet: tagsüber beim
       Küstenschutz die Hallig sichern und abends die Schafe versorgen.
       
       Zwei Warften weiter lebt Simone Schneider. Sie ist neu auf
       Nordstrandischmoor, erst seit knapp drei Monaten lebt sie in der
       Einsamkeit. Ihr Mann soll im Sommer nachkommen, bis dahin sind ihre
       einzigen Gesprächspartner ihre drei Schüler. Simone Schneider ist Lehrerin
       auf Nordstrandischmoor und die einzige Fremde. Bis zur 9. Klasse können die
       Kinder hier zur Schule gehen, den Hauptschulabschluss schafft man, ohne das
       Festland zu betreten.
       
       Der Winter sei heftig gewesen, sagt Frau Schneider. 20 Mal Land unter seit
       sie hier ist, 20 Mal abgeschnitten von der Außenwelt, eingesperrt im
       Wohnzimmer. Beim ersten Mal stand das Wasser fünf Tage vor ihrem Haus.
       Irgendwann fing sie an, mit sich selbst zu reden. Auch das Essen wurde
       knapp. „Ich war nicht gut vorbereitet. Eine Scheibe Brot würde ich
       heutzutage nicht mehr wegschmeißen.“ Mittlerweile friert sie Wurst und Käse
       ein, ein Tipp der Nachbarn.
       
       Für die sind Überschwemmungen Alltag, nur die schlimmsten Stürme bleiben im
       Gedächtnis haften. 1936, da stand das Wasser im Wohnzimmer, seitdem
       verzichten die Kruses auf teures Mobiliar. Und 1976, beim höchsten je auf
       der Hallig gemessenen Wasserstand, knallte es im Keller. Ein Jahr zuvor
       hatte Nordstrandischmoor Strom bekommen, nun war der Keller vollgelaufen
       und die neue Elektroheizung kaputt. „Rabiat war das damals“, sagt Frieda
       Kruse mit polterndem R.
       
       Vor dem Wasser habe sie sich nie gefürchtet, auch der Klimawandel
       beeindrucke sie kaum. Zu komfortabel erscheint ihr das heutige Halligleben.
       In ihrer Kindheit gab es weder die Lorenverbindung zum Festland noch
       fließend Wasser, die Männer arbeiteten noch nicht für den Küstenschutz,
       Touristen war die Abgeschiedenheit noch kein Geld wert.
       
       Im Dezember 2015 fegte der Orkan „Xaver“ über Nordeuropa hinweg, auf
       Nordstrandischmoor schwappte das Wasser bis vor die Haustüren. Am
       bedrohlichsten war die Situation bei den Kruses. Die Wellen seien bis in
       den kleinen Stall direkt vorm Hauseingang seiner Mutter gekommen, sagt
       Nommen. Eigentlich sei sogar noch ein Meter mehr angesagt gewesen. „Und den
       Meter mehr, den will ich hier nicht erleben.“
       
       30 Millionen Euro will die schleswig-holsteinische Landesregierung
       bereitstellen, um die 32 bewohnten Warften auf den Halligen besser zu
       schützen. Mit der Warft von Nommen Kruse soll alles anfangen. Um den
       Erdhügel vergrößern zu können, soll das Haus, in dem er mit Stefanie und
       den Kindern lebt, komplett abgerissen werden. Die neue Warft würde die
       Regierung zahlen, das neue Haus nicht, 800.000 Euro soll die Bebauung
       kosten, sagt Nommen. Bislang fehlt ihm der Kredit.
       
       Doch das Pilotprojekt wäre für ihn der Startschuss zum Wachsen. Größere
       Maschinen, mehr Futter, mehr Vieh. Das alles hätte dann endlich einen
       geschützten Platz direkt vor der Haustür. „Manche halten mich für
       größenwahnsinnig,“ sagt Nommen. „Doch wie heißt das bei Deichkind? Denken
       Sie groß!“
       
       Ob die Familie noch lange auf der Hallig bleiben kann, hängt auch von
       Nommens Chef ab, Johannes Oelerich. Er leitet den Landesbetrieb für
       Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein (LKN) und
       sein Job ist es, Familien wie die Kruses vor den Folgen des Klimawandels zu
       schützen. Er sagt: „Wer knallhart betriebswirtschaftlich denkt, der kommt
       zu dem Schluss, dass die Leute umziehen sollten.“
       
       Er sitzt in seinem Büro in Husum und erzählt von Strategien und der
       kulturhistorischen Bedeutung der Halligen. Er kramt Prospekte raus,
       blättert in Infobroschüren und schwärmt von vergleichbaren Projekten. Er
       spricht es nicht aus, doch Johannes Oelerich macht sich Sorgen. Von einem
       Meeresspiegelanstieg zwischen 0,20 m und 1,30 m gehen verschiedene
       Institute bis 2100 aus. Der LKN kalkuliert mit einem halben Meter. „Wenn
       der Klimawandel irgendwo einen direkten Effekt hat, dann dort.“ Sicher, es
       wäre einfacher, die Landwirte sich selbst zu überlassen. Doch sind die
       Halligen auch ein natürlicher Küstenschutz, sie brechen die Wellen und
       nehmen dem Meer die Energie, bevor es auf die Deiche am Festland prallt.
       
       Auch die Landwirtschaft ist für Nordstrandischmoor wichtig. Mit jeder
       Überschwemmung trägt das Meer Sedimente auf die Hallig. Ist das Wasser
       wieder weg, trampeln die Schafe den Boden fest. So wächst
       Nordstrandischmoor zumindest ein bisschen mit dem Wasserpegel mit. Ohne
       Familien wie die Kruses, die mit der nötigen Erfahrung ihre eigene Hallig
       schützen, würde es schwer werden.
       
       Trotzdem ist das Pilotprojekt noch nicht in trockenen Tüchern. Oelerich
       sagt, so etwas brauche eben Zeit. 2016 wolle man die Planung abschließen,
       2017 die Genehmigungen einholen, 2018 könne man dann die Warft und 2019 das
       Haus bauen.
       
       Bis dahin sind es noch drei Jahre, Nommen braucht neben dem Kredit vor
       allem Geduld. Zumal an einem Ort, an dem jede Kleinigkeit Zeit frisst. Zum
       Beispiel die Fahrt zum Schlachter. Zwei Schafe hat Nommen auf den
       Treckeranhänger geladen. Gemächlich holpert er über seine Hallig, vorbei an
       der Schule, vorbei an den Höfen von Glienke und Siefert, bis er am Bahnhof
       ankommt. Der besteht aus Abstellgleisen, auf denen die Loren der
       verschiedenen Warften parken.
       
       Nommen springt vom Trecker und beginnt zu manövrieren, er muss die
       Güterlore hinter die Lok bekommen. Dann steigt er auf die Zuglore und wirft
       den Dieselmotor – einst Antrieb eines Rasenmähers – an. Langsam tuckert die
       Lore über den Damm. Die Flut hat eingesetzt, das Wasser kriecht immer
       näher.
       
       Der Schlachter auf dem Festland hat eigentlich schon Feierabend. Aber er
       weiß, für Nommen ist es nicht möglich, früher zu liefern. Also darf der die
       Tiere selber in die Box bringen und wiegen. Eins der zwei Schafe ist viel
       zu leicht, für die paar Kilo hat sich der Weg eigentlich kaum gelohnt.
       
       Der Rückweg übers Meer ist ungemütlich. Die Sonne ist weg, ein kalter Wind
       bläst ihm entgegen. Nommen hat die Hände tief in den Taschen vergraben und
       blickt in Richtung Heimat. Die vier Hügel ragen aus dem Meer empor wie
       Burgen, anhand der Lichter weiß er, welcher Nachbar grade in welchem Zimmer
       ist.
       
       Seit 28 Jahren der gleiche Blick. Seit 28 Jahren die gleichen Sorgen. Wann
       kommt die Flut? Wie lange hält die Warft? Doch egal, wie hoch der
       Klimawandel das Wasser noch steigen lässt, egal wie widrig die Umstände in
       Zukunft auch sein mögen.
       
       Nommen und seine Familie suchen keine Antwort auf die Bedrohung, sie
       stellen eine Frage. Eine Frage, die die Umzugsgedanken zerstreut und die
       sie alle, Generation um Generation, hat weitermachen lassen. „Was sollen
       wir denn anderswo?“
       
       6 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Max Dinkelaker
       
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