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       # taz.de -- Symposium zur Share Economy: Vom Kapitalismus des Teilens
       
       > Liebe oder Ökonomie – überall geht es ums Tauschen und Teilen. 300
       > Teilnehmer diskutieren in Weimar über unsere Zukunft im kognitiven
       > Kapitalismus.
       
   IMG Bild: Das lukrative Teilen von Wohnraum über AirBnb ist bereits schwieriger geworden
       
       Zweimal im Jahr nehmen die Bewohner der pazifischen Trobriand-Inseln eine
       mehrtägige Reise auf sich, um Armreifen aus Schneckengehäusen und
       Halsketten aus Muscheln mit anderen Inselbewohnern zu tauschen. Berühmt ist
       dieser sogenannte Kula-Tausch, weil er ganz ohne ökonomischen Nutzen
       abläuft.
       
       Mit den Taxis der Firma Uber, die durch unsere Metropolen fahren, verbindet
       die Muscheln des Pazifik nichts. Und dennoch ging es irgendwie um beides in
       Weimar, wo sich 300 Wissenschaftler, Aktivisten, Künstler und Journalisten
       auf Einladung des Goethe-Instituts drei Tage lang in 75 Veranstaltungen mit
       dem „Teilen und Tauschen“ beschäftigten.
       
       Dass aus der anthropologischen Erforschung des Kula-Tauschs ein Wissen über
       den Tauschboom in den kapitalistischen Ländern gezogen werden kann, darf
       bezweifelt werden. Schon gar nicht lässt sich aus dem Tausch im Pazifik
       irgendeine Ursprungsidee dessen, was der Mensch sein könnte, extrahieren.
       Denn auch wenn, wie Karl Marx das mal formulierte, „das Vorhandensein einer
       übertriebenen Anzahl nützlicher Dinge in der Erschaffung einer
       übertriebenen Anzahl von unbrauchbaren Menschen endet“, erweist sich
       andererseits die hippieske Idee eines „Zurück zur Natur“ immer nur als ein
       Zurück zur vermeintlichen Natur.
       
       Mit anderen Worten: Um das Uber-Taxi zu analysieren, bedarf es eines
       Wissens über das System der Arbeitsteilung und der Warenproduktion in der
       Gesellschaft, in der es herumfährt. Sprechen wir also vom Kapitalismus.
       
       ## Die neue industrielle Revolution
       
       Vom Kapitalismus sprechen heißt von Akkumulation, Krise und Innovation zu
       sprechen. Dass der Kapitalismus des globalen Nordens nicht mehr dem der
       industriellen Revolution entspricht, ist klar. Er verändert sich, nutzt
       seine Krisen, um sich zu modernisieren, und nutzt die Kämpfe, die gegen ihn
       geführt werden, für Innovation.
       
       Je nachdem, welche Denkweise man zugrunde legt, spricht man vom Wissens-
       oder digitalen Kapitalismus oder eben, besser, vom kognitiven Kapitalismus,
       um die neue strategische Bedeutung des Wissens für die Kapitalakkumulation
       zu betonen.
       
       Der erfolgreiche US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin spricht vom Beginn
       einer dritten industriellen Revolution. In Weimar als Prophet des
       Untergangs des Kapitalismus vorgestellt, zeugte sein Auftritt vom hohen
       Stellenwert der Performance in den USA – ob Prediger oder Wissenschaftler,
       in den USA beherrscht man das freie und dringliche Sprechen auf
       beeindruckende Weise.
       
       Rifkin zitiert so oft seine Frau, dass man unweigerlich über den
       Stellenwert der Institution Familie ins Grübeln gerät, als er skizziert,
       wie neben dem kapitalistischen Markt eine neue Wirtschaftsform heraufziehe,
       nämlich das Zeitalter des Internets der Dinge, der intelligenten
       Gegenstände, das den Kapitalismus an sein Ende bringen werde.
       
       Rifkin führt aus, wie das Tauschen und Teilen längst an Bedeutung gewonnen
       hat und eine Sharing Economy stetig wächst, weil mit der Digitalisierung
       die technologischen Voraussetzungen da sind.
       
       ## Weniger Besitz, mehr Freiheit
       
       Teilen sei auch der kulturelle Aspekt eines umfassenden
       Bewusstseinswandels, der, so Rifkin, in weniger als zwei Generationen
       stattfinden werde: Es gehe nicht mehr um Besitz, sondern um Zugang, etwa
       beim Carsharing, was den ökologischen Fußabdruck verringere. Und wenn alle
       frei miteinander produzierten und teilten – beispielsweise Strom –, würde
       dies gleichzeitig die Produktivität steigern und die Grenzkosten vieler
       Güter und Dienstleistungen gen null senken.
       
       Bewusstseinswandel ist so groß gemeint, wie es klingt: Rifkin spricht von
       nichts weniger als einem neuen Freiheitsbegriff, wenn er für die
       heraufziehende vertikale Gesellschaftsordnung nicht mehr das autonome
       Individuum voraussetzt, sondern den als Glied einer Kette sich begreifenden
       Prosumer (Produzent-Konsument). Es gewittert die Worte Transparenz,
       Freiheit und Community, als er gegen Ende des Vortrags fragt, ob die
       Erklärung der Menschenrechte durch eine Erklärung der Beziehung der
       Menschen zu ersetzen sei.
       
       Was fängt man damit an? Die großen Linien, die Rifkin zeichnet, sind
       interessant. Aber wie sieht es in der Praxis mit dem Freiheitsgewinn aus?
       
       ## Den Reichtum privatisieren
       
       Das Paradox, dass die neuen Formen kapitalistischer Produktion und
       Akkumulation das Potenzial zur Überwindung des Kapitalismus bereits in sich
       tragen, haben ja auch linke Theoretiker wie Antonio Negri und Michael Hardt
       beschrieben. Sie haben auch dargelegt, wie neoliberale Politik immer dazu
       tendiert, den gemeinsamen Reichtum zu privatisieren. Rifkin weiß natürlich
       auch um diese gegenläufige Bewegung, was er in Weimar präsentierte, glich
       jedoch eher einer durch und durch positiven Utopie.
       
       Dass momentan nur sehr wenige Programmierer viel daran verdienen, dass
       wenige etwas billig zur Verfügung stellen, was andere für wenig
       konsumieren, Stichwort Airbnb, darauf wies die Historikerin Luise Tremel
       hin. Ist das, was da also so großspurig als neue Produktionsweise
       angekündigt wird, bloß ein neues Konsummodell? Geht es in der Sharing
       Economy am Ende nur um Kaufen und Verkaufen, und hat das alles nichts mit
       Teilen zu tun?
       
       Die Frage muss sein, von welcher Sharing Economy gesprochen wird. Von der
       Profitmaximierung bis zur Gemeinwohlökonomie läuft zur Zeit häufig alles
       unter demselben Label. Darauf wies die Ökonomin Rachel Botsman aus Sydney
       hin, die als „Guru der Sharing Economy“ gilt.
       
       Dass der Chauffeurdienst Uber mitunter als hippes neues Sharingmodell
       verkauft wird, bringt die Unkenntnis über die Mechanismen der
       Sharing-Economy am deutlichsten zum Ausdruck. Nicht ohne Grund investieren
       Goldman Sachs sowie Google Ventures in das Unternehmen, und auch
       Saudi-Arabien stieg jüngst mit 3,5 Milliarden Dollar ein. Die Verbindung
       von Finanzökonomie und Sharing Economy könnte zumindest zu denken geben.
       
       ## Zwischen Selbstorganisation und Krisenphänomen
       
       Doch lässt sich die Geschichte, wie Rachel Botsman anmerkte, nicht
       zurückdrehen: 2014 erzielten große Proteste gegen Uber in London einzig den
       Effekt von 850 Prozent Neuanmeldungen gegenüber dem Durchschnitt.
       
       Wirr scheint die Lage, und so war man auch in Weimar oft genug damit
       beschäftigt herauszufinden, wer warum aus welcher Warte spricht. Als ein
       VW-Entwickler auf dem Podium erzählt, dass auch die Wolfsburger sich zu
       einem Mobilitätsdienstleister entwickeln, klingt das für einige Ohren
       vielleicht einfach zeitgemäß. Dahinter verbergen sich jedoch mit Sensoren
       ausgestattete Lkws, die bereits jetzt einzig und allein zu dem Zweck über
       die Autobahnen fahren, um Daten zu erheben, die dann in Algorithmen
       eingeführt werden. Auch der VW-Ingenieur muss kritisch anmerken, dass das
       Ziel wohl eher „Besitzstandwahrung“ heißt.
       
       Es lassen sich zwei Linien in der Diskussion ausmachen. Legte
       beispielsweise der thüringische Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff in
       seiner Eröffnungsrede den Fokus auf Alternativen, die im Schatten der
       Finanzkrise wachsen, und meinte Formen der gesellschaftlichen
       Selbstorganisation, wie man sie auch in Genossenschaften findet, sprach der
       Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl ganz gegenteilig vom Teilen
       und Tauschen als Krisenphänomen und hatte Airbnb, Uber etc. im Blick.
       
       Sie seien so etwas wie ein neuer Arbeitsmarkt für neoliberal Prekarisierte,
       für die sich die „Kapitalisierung von Restbesitzständen“ und die
       „Kapitalisierung von Restarbeitszeit“ als notwendig erwiesen habe. Es ist
       eben nicht der frei tauschende Visionär der Zukunft, dem wir in der Sharing
       Economy begegnen, sondern, wie Vogl zu Recht beschreibt, der „flexible
       Mensch“, der sein Restleben zu Markte tragen muss.
       
       ## Kampf um die Zukunft
       
       Was seit der Veröffentlichung von Jürgen Habermas’ „Theorie des
       kommunikativen Handelns“ (1981) in der Rede von der „Kolonisierung der
       Lebenswelt“ an Kapitalismuskritik salonfähig geworden ist und auch in
       Weimar mindestens einmal am Tag von irgendeinem Podium herunterschallte,
       hat längst ein neues Niveau erreicht. Produktion und Leben fallen immer
       mehr in eins, die Subjektivitäten selbst werden zur Ressource, und
       Algorithmen ermöglichen eine völlig neue Art der Überwachung. In den Worten
       Rachel Botsmans geht es um nichts weniger als das Maximieren menschlicher
       Kapazitäten.
       
       Was tun? Mehr staatliche Kontrolle und Regulierung rufen die einen, neue
       Ethik und neuer Gesellschaftsvertrag die anderen, mehr kollaborative
       Produktion wieder andere.
       
       Teilen ist noch kein Wert an sich, wie die israelische Soziologin Eva
       Illouz erinnerte. Die Philosophen seien hier oft am wenigstens hilfreich,
       weil sie nur das Normative im Blick hätten. Dabei kann man bereits heute
       nicht mehr mit Sicherheit wissen, ob man online gerade mit einem Mensch
       oder einer Maschine kommuniziert, wie der Publizist Evgeny Morozov mahnte.
       Teilen ist dann „gutes Teilen“, wenn es Ressourcen reduziert,
       Begegnungsräume öffnet und Zugänge schafft, wie Luise Tremel formulierte
       und sie forderte, die Diskussion an die Forderung nach einem Grundeinkommen
       zu koppeln.
       
       Die Forderung nach dem Grundeinkommen ist längst nicht mehr nur eine von
       links. Der alte Sozialstaat, er passt wohl längst nicht mehr zur neuen
       Arbeitswelt. Der Kampf um die Zukunft, er hat wie immer längst begonnen.
       
       6 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tania Martini
       
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