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       # taz.de -- Hass gegen deutsche Politiker: „Wir werden dich rösten“
       
       > Rechte Pöbler, türkische Nationalisten und biedere Bürger überziehen
       > Politiker mit Morddrohungen. Vier Betroffene berichten.
       
   IMG Bild: Lieber einen Bodyguard mehr: Gewaltsame Übergriffe gegen Politiker nehmen zu
       
       BERLIN taz | Den Abgeordneten reicht es: Der Bundestag diskutiert noch in
       dieser Woche über Drohungen gegen türkischstämmige Parlamentarier. Die
       Linkspartei hat die Debatte beantragt. Bundestagspräsident Norbert Lammert
       (CDU) sprach zuvor von Angriffen „auf das ganze Parlament und unsere
       Demokratie“. Darauf werde man reagieren: „Mit allen Möglichkeiten der
       Gesetze“.
       
       Auch das Auswärtige Amt kritisierte die Verbalattacken. Es lud den
       türkischen Geschäftsträger am Dienstag zu einem „Gespräch“. Die jüngsten
       Äußerungen aus der Türkei seien „mit Unverständnis aufgenommen worden“,
       hieß es.
       
       Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan hatte zuvor elf
       Bundestagsabgeordnete mit türkischem Familienhintergrund als „Sprachrohr“
       von Terroristen bezeichnet. Seit Wochen werden diese Politiker angefeindet,
       weil sie die Armenien-Resolution im Bundestag unterstützen, die erstmals
       den Völkermord an den Armeniern vor hundert Jahren und die deutsche
       Mitverantwortung daran verurteilt. Vor der Wohnung des Initiators der
       Resolution, Cem Özdemir (Grüne), stehen nun mehr Polizisten.
       
       Mehrere Abgeordnete berichten von Morddrohungen. Es sind längst keine
       Einzelfälle mehr: Auch aus der deutschen rechten Szene werden Politiker
       seit Beginn der Flüchtlingsdebatte vermehrt mit Gewaltandrohungen
       überzogen. 107 Straftaten gegen Mandatsträger gab es 2015. Dazu gehört auch
       das Messerattentat auf die parteilose Henriette Reker, damals
       Oberbürgermeisterkandidatin in Köln. Der Täter begründete seinen Angriff
       mit seiner Wut auf Riekers Flüchtlingspolitik.
       
       „So viel Rohheit wie heute habe ich nie erlebt“, sagte dieser Tage
       Justizminister Heiko Maas (SPD) der Bild. An manchen Tagen erhalte er 500
       Zuschriften, darunter Morddrohungen „mit Ort, Datum, Uhrzeit“. Einmal
       landete eine 9-Millimeter-Patrone im Briefkasten seiner Privatwohnung.
       Maas ist ein scharfer Kritiker von Pegida und AfD – und dort besonders
       verhasst.
       
       ***
       
       ## „Ich zähle die Beleidigungen gar nicht mehr“
       
       „Die Hetze und die Hass-Mails gegen mich sind ja kein neues Phänomen, das
       ging schon los, als ich vor Jahren zum ersten Mal Thilo Sarrazin in
       Interviews öffentlich kritisiert hatte.
       
       Inzwischen zählen mein Team und ich die Beleidigungen und Beschimpfungen in
       Briefen, auf Facebook und per E-Mail schon gar nicht mehr, es sind
       mittlerweile schlicht zu viele geworden. Von türkischen Extremisten kommt
       übrigens genau das Spiegelbildliche.
       
       Ich will auch gar nicht mehr aus den Briefen zitieren, wir werten damit den
       ganzen Müll unnötig auf.
       
       Dass ich mit meinem Namen und meiner Einwanderungsgeschichte nicht in
       dieses Land gehöre und zurück in die Türkei soll, gehört jedenfalls noch zu
       den harmloseren unter den Zuschriften.
       
       Ich versuche, den geballten Hass, der sich in den Mails und Postings
       offenbart, nicht an mich heranzulassen, auch wenn einen so viel Gift
       natürlich nicht kalt lässt.
       
       Ein Blick in die Statistik zeigt leider, dass nicht nur die verbalen
       Hemmschwellen sinken. Auch die Gewalt gegen Politiker und Helfer, die sich
       für die Flüchtlinge einsetzen, hat in den vergangenen Monaten in
       besorgniserregendem Maße zugenommen: Den Worten folgen Taten. Niemand kann
       sich damit herausreden, er habe das nicht mitbekommen.“
       
       ***
       
       ## „Das ist wirklich erschreckend“
       
       „Bedrohungen per Mail oder Post bin ich eigentlich schon immer gewöhnt.
       Doch die Häufigkeit und die Heftigkeit der Beschimpfungen, Gewaltfantasien
       und sexistischen Bedrohungen hat in den vergangenen Jahren deutlich
       zugenommen. Inzwischen scheinen alle Masken und Tabus gefallen zu sein.
       Heute stehen unter den unglaublichsten Ausfällen oftmals die vollen Namen
       und Postadressen des Absenders. Das ist wirklich erschreckend.
       
       Sobald Morddrohungen oder Gewaltandrohungen dabei sind oder die
       Beleidigungen zu heftig werden, zeige ich die Mail- und Briefeschreiber an.
       Das hat schon zu manchen Geldstrafen geführt. Oft melden sich die
       Angezeigten und bitten um Entschuldigung, andere beschimpfen und bedrohen
       mich erst recht. Aber ich lasse mich davon nicht einschüchtern und schenke
       denen nicht meine Angst. Neu ist auch: In den vergangenen Monaten haben
       mich Menschen auf offener Straße wüst beschimpft und beleidigt. Dass ich
       auf offener Straße mit niveaulosesten Schimpfwörtern angeschrien werde, das
       gibt es erst seit kurzer Zeit.
       
       Was mich daran sehr besorgt, ist die offensichtliche Verrohung von Teilen
       der öffentlichen Debatte und von Teilen der Gesellschaft. Ein möglichst
       vulgäres, respekt- und anstandsloses Verhalten scheint für viele inzwischen
       als besonders mutig zu gelten.“
       
       ***
       
       ## „Ich habe das nicht ernst genommen“
       
       „Ich hatte im letzten Jahr zwei Asylbewerber bei mir zu Hause aufgenommen,
       zwei Eritreer. Los ging’s mit den Drohungen aber schon im Jahr davor, als
       ich einen Aufruf gestartet hatte, mal zu überlegen, privaten Wohnraum für
       Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen – als Gedankenanregung, in aller
       Freiwilligkeit.
       
       Die Reaktionen waren heftig. Ich bekam Hunderte von Hassmails und bestimmt
       zehn Todesdrohungen. Man werde mich rösten, so schwarz wie die Kanaken, die
       ich bei mir aufgenommen habe, schrieb jemand.
       
       In einem anderen Brief wurden alle meine Angehörigen aufgelistet. Es kamen
       Anrufe mitten in der Nacht, in denen ich beschimpft wurde.
       
       Das war eklig, obszön, lästig. Aber ich hatte zu keinem Zeitpunkt Angst.
       Ich habe das nicht ernst genommen.
       
       Erschrocken war ich nur, wie Menschen ihren Hass ausleben und ihre Angst,
       dass ihnen etwas genommen werden könnte. Aber Leute, die schreien, wollen
       sich entlasten. Ich würde nie sagen: Das ist Pack. Für mich sind alle
       Menschen Lernende. Bei manchen klappt das nicht, aber es muss schon
       allerhand passieren, dass ich jede Kommunikation ausschlage.
       
       Die Todesdrohungen habe ich der Ordnung halber angezeigt. Die Hilfen, die
       mir das Bundeskriminalamt angeboten hat – Türsicherungen und neue Fenster
       –, habe ichnicht in Anspruch genom- men.
       
       Bei mir zu Hause steht das Tor weiter offen. Man darf nicht überreagieren.
       Wir Politiker sollten versuchen, gelassen zu bleiben und nicht noch Öl ins
       Feuer zu kippen mit unseren Reaktionen.“
       
       ***
       
       ## „Ich muss meine Familie schützen“
       
       „Als ich 2005 im Bundestag angefangen habe, kamen DrohMails noch
       anonymisiert; heute mit Namen und Wohnanschrift. Ich denke, dass diese
       Enthemmung auch mit der Zuspitzung der sozialen Frage aufgrund der
       neoliberalen Politik der letzten Jahre zu tun hat: Viele Menschen fühlen
       sich von der etablierten Politik nicht mehr mitgenommen. Diese Diskrepanz
       führt zu Wut und Aggression. Insgesamt hat sich das gesellschaftliche Klima
       brutalisiert.
       
       Zwischen deutschen und türkischen Faschisten gibt es eine große
       Gemeinsamkeit: Beide versuchen, Kritiker einzuschüchtern. Wenn ich mich in
       einer Talkshow für Humanität in der Flüchtlingspolitik einsetze, bekomme
       ich Dutzende Hassmails. Wenn ich die Leugnung des Völkermords an den
       Armeniern kritisiere, schreiben türkische Faschisten auf Facebook, ich
       gehöre nach Buchenwald.
       
       Dass Regierungsmitglieder der AKP deutsche Abgeordnete zum Abschuss
       freigegeben haben, hat die Sache auf eine neue Stufe gehoben. Seitdem
       quillt mein Posteingang über mit Bedrohungen der übelsten Sorte. In
       regierungstreuen türkischen Zeitungen erschien nach der Armenien-Resolution
       auch ein Steckbrief von mir mit Hinweis auf meine Kinder.
       
       Ich führe jetzt Gespräche mit den Sicherheitsbehörden, weil ich meine
       Familie schützen muss. Bisher habe ich eher den Eindruck, dass die Behörden
       den Ernst der Lage nicht erkennen. Es gibt eine unheimliche Entfesselung
       einer Gewaltpolitik unter hier lebenden türkischen Nationalisten,
       polarisiert und teilweise gesteuert von türkischen Regierungsstellen. Das
       ist eine gefährliche Melange.“
       
       8 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
   DIR Tobias Schulze
       
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