URI: 
       # taz.de -- Theater-Nachwuchs in Hamburg: Jonglieren mit den Splittern der Welt
       
       > Das Hamburger Theaterfestival „Körber Studio Junge Regie“ eröffnet
       > diesmal Henri Hüster mit einer Melange aus
       > David-Foster-Wallace-Geschichten.
       
   IMG Bild: Körperfiguren aus Ver- und Entkrampfungen: So inszeniert Henri Hüster David Foster Wallace.
       
       HAMBURG taz | Okay. Zunächst mal linear erzählen. Um welches Theaterstück
       es geht und wer der Regisseur dahinter ist. Und wie er zum Theater kam, der
       junge Mann mit Namen Henri Hüster, Regieabsolvent der Hamburger
       Theaterakademie und nun ins Rennen geschickt für das Theaterfestival
       „Körber Studio Junge Regie“ im Thalia in der Gaußstraße.
       
       Das Festival ist eins der wichtigsten im deutschsprachigen Raum für
       Regieabsolventen. Jede Schule zeigt eine ausgewählte Abschlussarbeit, und
       einer oder eine wird am letzten Abend von der Jury gekürt und darf an einem
       Stadttheater eine Inszenierung realisieren.
       
       Geht das so? Ist das so verständlich? Gut. Denn in Hüsters Inszenierung
       „Ein weiteres Beispiel für die Durchlässigkeit gewisser Grenzen“ findet so
       einiges statt, nur kein linear komponierter Theatertext; am Anfang fehlt
       sogar jeglicher Text.
       
       ## Langsames Ertasten
       
       Die Zuschauer kommen in den Saal, suchen sich ihren Platz, während bereits
       neun Schauspieler und Schauspielerinnen auf Stühlen sitzen. Wenn es dann
       endlich still ist im Zuschauerraum, geht es nicht etwa schlagartig los. Im
       Gegenteil: Langsam ertasten die Spieler die Bühne. Wagen sich vor, ziehen
       sich zurück. Erproben Haltungen. Erstarren, lösen die Starre wieder auf.
       
       Und dann folgt Text. Chorisch gesprochen, mal recht synchron, mal
       verschleppt; dann fallen sich die Sprechenden ins Wort. Sie reden in
       Schleifen, in Wiederholungen. Dazwischen Tanzeinlagen. Ver- und
       Entkrampfungen, aus denen immer neue Körperfiguren entstehen.
       
       Dann, langsam, formen sich Geschichten, die sich rasch wieder auflösen.
       Gemäß dem Credo des Autors David Foster Wallace, dass unsere heutige Welt
       so komplex ist, dass man nicht mehr linear über sie sprechen kann. Erzählt
       man aber nicht linear, folgt man ihren Brüchen, gibt man den auseinander
       fallenden Teilen eine Stimme.
       
       ## Wie ein Steinbruch
       
       David Foster Wallace also. Genauer: Aus Geschichten aus dessen Erzählband
       „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ speist sich Hüsters Inszenierung.
       Aber Hüster reiht nun keinesfalls Geschichte für Geschichte aneinander.
       
       Sondern er nutzt diese sehr verschiedenen Wallace-Texte wie einen
       Steinbruch; kramt in ihnen wie in einer Schatzkiste. Und zwar während der
       Proben, gemeinsam mit seinen vier Schauspielern und fünf Schauspielerinnen
       sowie Bühnenbildnern, Kostümschneidern und Dramaturgen.
       
       Ein Beispiel für seinen Arbeitsstil: „Es gibt in dem Wallace-Band die
       Geschichte von einem 13-jährigen Jungen, der das erste Mal vom
       Zehnmeterbrett springen will. Es ist eine irre Geschichte über das
       Erwachsenwerden, wie der Junge im Schwimmbad da oben steht und springen
       will und nicht springt; ein Text, der sich immer weiter zieht, wo die Zeit
       still zu stehen scheint, während jemand von unten ruft: ‚Was ist denn los,
       Kleiner?‘“
       
       Er lässt vier Schauspielerinnen den Text lernen und schaut, was passiert.
       Idee ist, diese Passage als Prolog zu nutzen: ein Prolog von wohl einer
       Stunde, und vielleicht sieht der Zuschauer dazu die Füße einer Tänzerin.
       „Doch irgendwann haben wir gemerkt, dass wir mit dieser Passage nichts
       anderes erzählen als in dem folgenden Stück“, sagt Hüster.
       
       ## Im Theater aufgewachsen
       
       Und er streicht die Passage. „Und keiner sagte: ‚Du Arsch lässt uns hier so
       viele Seiten lernen.‘“ Er sagt: „Das Problem der Probenarbeit ist, dass sie
       sich am Anfang sehr offen anfühlt. Doch nach zwei Wochen wird es recht eng,
       dann geht es bald nur noch um die Betonung einzelner Sätze.“
       
       Er öffnet seine Arme weit und führt sie wieder zusammen, so dass zwischen
       seine Hände nicht mehr viel passt. Zugleich will er den Probenprozess lange
       offen halten. Und sagt: „Natürlich ist das nicht einfach, wenn ich als
       Regisseur mit 120 Seiten Text komme und sage ‚Die legen wir jetzt erst mal
       zur Seite; wir schauen besser, was der Körper auf der Bühne macht.‘“
       
       Wie er zu all dem kam? „Meine Mutter hatte lange als Tanzkritikerin und
       auch beim Tanz gearbeitet“, sagt er. Und so ist er als Kind mit dabei, wenn
       seine Mutter im Theater zu tun hat. Doch bald findet er Tanz und Theater
       mäßig interessant und geht nur mit, wenn es sein muss.
       
       Die Schule ist’s, die ihn später zum Theater bringt. „In Kunst hatte mir
       Herr Kutzschinski eine Fünf gegeben!“, erzählt er. „Ich war eigentlich ganz
       gut, aber es gab noch andere Fünfen, und durch die Kunst-Fünf war es mit
       meiner Versetzung kurz kritisch.“
       
       Kunst hat er dann abgewählt, das mit ihm und Herrn Kutzschinski würde auch
       nächstes Mal nicht gut gehen. Zur Alternative steht darstellendes Spiel:
       „Ich bin zur Lehrerin gegangen, habe ihr gesagt, dass ich nur eine Drei
       möchte, dass ich auch einen Baum spiele.“
       
       ## Aus Shakespeare wurde Beckett
       
       Die Lehrerin wiederum hatte großes vor, probt „Was ihr wollt“, also
       Shakespeare. „Das ist natürlich schiefgegangen, die Leute haben den Kurs
       reihenweise verlassen, am Ende waren wir noch zu fünft oder sechst.“ Und
       Henri Hüster als einer der letzten Verbliebenen hat eine Idee: Beckett,
       „Warten auf Godot“.
       
       „Unserer Lehrerin sagte, ‚Ich verstehe das Stück nicht, mir ist das zu
       hoch‘, und hatte einen Gegenvorschlag: ‚Ihr inszeniert, ich mache die
       Dramaturgie.‘“ Und so kommt es – seine erste Inszenierung, gleich
       zweieinhalb Stunden lang: „Ich habe das Stück beim Lesen auch nicht
       verstanden, wir haben es sehr konventionell aufgeführt.“
       
       Aber sie hätten eine Ahnung von dem bekommen, was das Theater vermag. Und
       auch nicht unwichtig: Eine Theaterregisseurin kommt vorbei, sieht das
       Ergebnis – und bietet Hüster eine erste Hospitanz an.
       
       Später dann eine Hospitanz am Schauspielhaus in Wien („Nur
       Gegenwartsautoren, sehr inspirierend“); dann zwei Jahre Assistenz in Linz.
       „Das Theater in Linz hatte ein großes Ensemble, wo die Schauspieler auch
       mal Zeit hatten, und dann saß man in der Kantine und die sagten: ‚Henri,
       mach doch mal was mit uns!‘“ Und Henri machte.
       
       ## Keine Angst vor langen Stücken
       
       Und entschließt sich dann doch noch zu einem Regiestudium: „Weil das einem
       anders Halt gibt, weil man Zeit hat, sich zu entwickeln.“ Mit dem Ergebnis,
       dass er keine Angst vor langen Stücken hat.
       
       Im Januar hat er seine Abschlussinszenierung auf Kampnagel in Hamburg in
       zwei Teilen gezeigt: Erst zweieinhalb Stunden, dann noch eine halbe. Was
       nun – den Regeln des Körberfestivals gemäß – auf 70 Minuten gekürzt werden
       muss.
       
       Gut. Dann ist das so. „Man kann ganz gut einzelne Geschichten
       rausstreichen“, sagt er. Es werde dann eben ein ganz anderes Stück. „Ich
       freue mich drauf.“
       
       Körber Studio Junge Regie: 8.–12. 6., Thalia in der Gaußstraße, Hamburg.
       Eröffnung mit Henri Hüsters „Ein weiteres Beispiel für die Durchlässigkeit
       gewisser Grenzen“: 8. 6., 19 Uhr
       
       7 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frank Keil
       
       ## TAGS
       
   DIR Politisches Theater
   DIR Tanztheater
   DIR Deutsches Schauspielhaus
   DIR Tanz im August
   DIR München
   DIR Regisseur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Jahresrückblick: Momente des Hasses
       
       Abseits des normalen Stadttheaterbetriebs gab es 2016 im Norden viele
       bizarre, emotionale und verstörende Momente. Ein ganz und gar subjektiver
       Blick
       
   DIR Neue Choreographie von Antje Pfundtner: Raus aus der Kunstkapsel
       
       Im Frühjahr wurde die Hamburger Tänzerin Antje Pfundtner mit dem
       George-Tabori-Preis ausgezeichnet. Jetzt zeigt sie auf Kampnagel ihr neues
       Stück „Ende“.
       
   DIR Preisgekrönte Schauspielerin: Einfach voll auf die Neune
       
       Gala Othero Winter, Ensemblemitglied am Schauspielhaus, bekommt diesen Jahr
       der Boy-Gobert-Preis. Sie ist quasi an einer Theaterschule aufgewachsen
       
   DIR Tanzfestival in Berlin: Das neue Ding ist Sensualität
       
       Begeisternd und berührend: Das Berliner Tanz-im-August-Festival bringt vier
       Wochen lang Körper- und Tanzsprachen auf die Bühne.
       
   DIR Feministisches Theaterfestival Body Talk: Private Dance für alle
       
       Matthias Lilienthals erste Spielzeit an den Münchner Kammerspielen neigt
       sich dem Ende zu. Eine Intendanz, die München bereichert hat.
       
   DIR Politischer Regisseur-Nachwuchs: Klamauk wird Tragik
       
       Die Themen der zum Hamburger Theaterfestival „Körber Studio Junge Regie“
       Geladenen reichten vom Rechtspopulismus bis zum Flüchtlingsschicksal.