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       # taz.de -- Jahrestag des „Hamburger Kessels“: Die Mutter aller Kessel
       
       > Heute vor 30 Jahren hielt die Polizei 861 Demonstranten stundenlang auf
       > dem Heiligengeistfeld fest. Der „Hamburger Kessel“ machte Schule.
       
   IMG Bild: Als die Welt noch schwarz und weiß war: Der „Hamburger Kessel“ auf dem Heiligengeistfeld.
       
       HAMBURG taz | Der 8. Juni vor 30 Jahren ist als rechtswidriger „Hamburger
       Kessel“ in die Geschichte eingegangen. Die Polizei hatte bundesweit
       Entsetzen ausgelöst, indem sie 861 Menschen, die für das „Recht auf
       Demonstrationsfreiheit“ und „gegen Polizeiwillkür“ demonstrieren wollten,
       auf dem Heiligengeistfeld einkesselte.
       
       Das Ereignis beschäftigte die Justiz auf mehreren Ebenen – und Straf-,
       Zivil- und Verwaltungsrichter verurteilten das staatliche Vorgehen
       einhellig. Politisch haben die Urteile zwar einiges bewirkt. An den
       Polizeistrategien hat sich grundsätzlich jedoch nichts geändert.
       
       Auslöser waren die Ereignisse des Vortages, als Zehntausende gegen die
       Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Brokdorf in der Wilstermarsch
       demonstrierten – oder demonstrieren wollten. Der so genannte Hamburger
       Konvoi hatte eine Route über Bad Bramstedt gewählt, um die Autobahn über
       Elmshorn und Itzehoe für die Zehntausenden TeilnehmerInnen aus ganz
       Deutschland frei zu halten. In dem Örtchen Kleve versuchte der Konvoi, eine
       scheinbar harmlose Polizeisperre zu durchbrechen.
       
       ## Hubschrauber und Knüppel
       
       Es war eine Falle. Im Nu waren Spezialkräfte des Bundesgrenzschutzes und
       mobile Einsatzkommandos aus ganz Deutschland – zum Teil mit Hubschraubern –
       vor Ort. Mit Knüppeln demolierten sie Autos und Busse, zerstachen Reifen,
       und trieben Insassen vor sich her Der Konvoi musste umkehren.
       
       Die entsetzten HeimkehrerInnen versammelten sich am Abend in der Werkstatt
       3 und setzten für den nächsten Tag, einen Sonntag, eine spontane
       Demonstration an – natürlich belauscht vom Staatsschutz. Als sich am 8.
       Juni 1986 um kurz vor zwölf Uhr die ersten TeilnehmerInnen versammelten,
       kamen ohne Vorwarnung Polizisten von allen Seiten angerannt. Sie kesselten
       die DemonstrantInnen ein und trieben sie vor den Flakbunker an der
       Feldstraße.
       
       Viele potenzielle TeilnehmerInnen hatten den Versammlungsort noch gar nicht
       erreicht. Die Folge: Es entwickelten sich im Karoviertel rund um den Bunker
       stundenlange Straßenschlachten. Die Lage war außer Kontrolle – der damalige
       Innensenator Rolf Lange (SPD) behauptete am Nachmittag, es sei darum
       gegangen, eine „Schneise der Gewalt zu verhindern“.
       
       ## Notdurft im Kessel
       
       Die Polizei war mit dem Abtransport der Festgenommenen und der Aufnahme der
       Personalien völlig überfordert. Polizistinnen für die Leibesvisitationen
       der Frauen wurden zum Teil in Freizeitkleidung und Pumps aus ihren
       Wochenend-Lauben geholt und notdürftig in Uniformen mit Helmen gesteckt.
       
       Die eingepferchten DemonstrantInnen standen Stunde um Stunde in der prallen
       Sonne. Es gab weder Essen noch Trinken. Männer wie Frauen mussten ihre
       Notdurft im Kessel nur von TeilnehmerInnen geschützt vor den Augen
       geifernder Polizisten verrichten.
       
       Erst gegen 17 Uhr konnten sie unter Polizeibegleitung ein Klohäuschen
       benutzen und der damalige Bürgerschaftabgeordnete der Grün-Alternativen
       Liste Michael Herrmann vereinbarte mit dem Chef der Bereitschaftspolizei
       Lothar Arthecker, dass wenigstens Trinkwasser in den Kessel kam. Arthecker,
       der als harter Hund bekannt war, hatte schon frühzeitig bei seinen
       Vorgesetzten förmlich Beschwerde eingelegt, weil aus seiner Sicht der
       Kessel nicht aufrechterhalten werden könne.
       
       ## Erinnerungen an Santiago de Chile
       
       Erfolglos – das Polizei-Desaster nahm seinen Lauf. Bis 23 Uhr mussten die
       letzten DemonstrantInnen im Kessel ausharren. Als zu diesem Zeitpunkt unter
       dem Motto „Wir bringen die letzten nach Hause“ ein Konvoi aus 30 hupenden
       Taxis vorfuhr, geriet der damals berüchtigte Einsatzzug Mitte außer
       Kontrolle: Polizeibeamte demolierten die Droschken – genau wie am Vortag
       die Busse in Kleve.
       
       In den meisten Hamburger Medien hieß es am nächsten Morgen, es sei eine
       „Schneise der Gewalt verhindert“ worden. Die Botschaft von Innensenator
       Lange hatte Früchte getragen. Lediglich der NDR und die taz zeichneten ein
       anderes Bild. Und die Stimmung schlug um. Sozialsenator Jan Ehlers (SPD)
       sprach davon, dass ihn die Bilder an die Ereignisse im Stadion von Santiago
       de Chile erinnerten, wo 1972 nach dem Militärputsch die Anhänger von
       Salvador Allende eingepfercht worden waren.
       
       Vier Tage später demonstrierten 50.000 HamburgerInnen – angeführt von 100
       Taxis – gegen Polizeiwillkür. Innensenator Lange trat wenig später zurück.
       Das Verwaltungsgericht erklärte das polizeiliche Handeln für rechtswidrig.
       Das Landgericht sprach 1991 vier führende Polizeiführer der
       Freiheitsberaubung in 861 Fällen schuldig. Es gründete sich das „Hamburger
       Signal“, die Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizisten.
       
       ## Nichts gelernt
       
       Die Polizeiführung hat daraus nichts gelernt. Zwar ist das Urteil zum
       Hamburger Kessel Gegenstand der Ausbildung an der Polizeiakademie, aber
       immer wieder kommt es in der Praxis vor, dass Polizeiführer den Befehl für
       eine lange Einkesselung großer Mengen Demonstranten ohne richterliche
       Anordnung geben – oftmals gegen die Bedenken der Polizeijuristen.
       
       Gerade erst vor vier Wochen erklärte das Verwaltungsgericht erneut einen
       siebenstündigen Polizeikessel um 700 AntifaschistInnen beim
       Neonazi-Aufmarsch „Tag der deutschen Zukunft“ vor vier Jahren für
       rechtswidrig.
       
       Damals hatten ausgerechnet die verdeckten Polizei-Ermittlerinnen Maria B.
       und Astrid O. maßgeblich dazu beigetragen, dass die Polizei sich berechtigt
       sah, das Instrument anzuwenden. Beide hatten darauf gedrungen, dass sich
       die stationäre Antifa-Kundgebung auflöste und als Demonstration provokant
       auf eine Polizeikette zu bewegte – für die Polizei Grund genug,
       einzuschreiten.
       
       8 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kai von Appen
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg
   DIR Hamburg
   DIR Polizeikessel
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