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       # taz.de -- Studie über Mediensucht: Wenig Wissen über Online-Junkies
       
       > Bevor Prävention gegen Mediensucht greifen kann, muss geklärt werden, wo
       > die Grenze liegt zwischen Normalität und Sucht.
       
   IMG Bild: Ein Problem wird es, wenn es den Internet-User immer wieder zwanghaft zum Computer treibt
       
       Jede Epoche hat ihre neuen Medien; inzwischen sogar jede Generation.
       Begleitet werden solche Medieninnovationen von erhobenen Zeigefingern, die
       vor exzessiver Nutzung und psychischer Abhängigkeit warnen. Das war Anfang
       des 19. Jahrhunderts so, als mit der wachsenden Verbreitung von Büchern die
       Gefahr einer „Lesesucht“ diskutiert wurde, später galten die Sorgen der
       Kino-, Radio-, Comic- oder Fernsehsucht. Jetzt sind das Internet und die
       neuen sozialen Medien an der Reihe.
       
       Für viele Mediziner steht freilich außer Frage, dass das Eintauchen in die
       virtuelle Welt der Computerspiele und die ständige Erreichbarkeit per
       Smartphone bei einzelnen Menschen wie eine immaterielle Droge wirkt:
       Junkies an der Online-Nadel. Einige Kliniken, wie die Charité in Berlin,
       haben bereits Ambulanzen für Computerspiel- und Internetsucht eingerichtet.
       Nach dem jüngsten [1][Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung] sollen
       etwa 1 Prozent der deutschen Bevölkerung „massiv internetabhängig“ sein
       sowie weitere 4 Prozent knapp davor stehen.
       
       Das [2][Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB) des Deutschen Bundestages]
       wollte es genauer wissen und initiierte eine Untersuchung. Durchgeführt
       wurde diese vom Berliner [3][Institut für Zukunftsstudien und
       Technologiebewertung (IZT)], das als Konsortialpartner dem TAB angehört.
       Donnerstag wurde die Studie „[4][Neue elektronische Medien und
       Suchtverhalten – Risiken, Bewältigungsstrategien und
       Präventionsmöglichkeiten“] in einer öffentlichen Veranstaltung des
       Forschungsausschusses im Bundestag vorgestellt.
       
       Unter „Mediensucht“ werde ein „Mediennutzungsverhalten mit Krankheitswert“
       verstanden, so IZT-Autorin Michaela Evers-Wölk, bei dem „die Symptome einer
       psychischen Abhängigkeit erlebt werden, ein klinisch relevanter
       Leidensdruck aus dem Verhalten resultiert und das Verhalten trotz negativer
       Konsequenzen aufrechterhalten wird“.
       
       ## Eine eigenständige Krankheit
       
       Allerdings ist „Mediensucht“ in den medizinischen Diagnosesystemen (wie der
       „International Statistical Classification of Diseases and Related Health
       Problems“) noch nicht als vollgültige Krankheit enthalten. Gleichwohl ist
       die Anerkennung als eigenständiges Krankheitsbild ein aktuelles Thema. Das
       zeigt auch eine Recherche in der medizinisch-psychologischen Datenbank für
       evidenzbasierte Forschungsliteratur [5][(PubMed)]: Dort wurde das Thema
       Internetsucht 2001 in 13 Aufsätzen behandelt, 2014 wurden 247
       Medizin-Berichte gezählt – fast 20-mal so viel.
       
       Ein eigenes Erhebungsinstrument, das die IZT-Forscher für die
       Technikfolgenabschätzung entwickelt haben, das „Stakeholder-Panel“ mit
       Experten aus verschiedenen Bereichen, ergab ebenfalls ein Votum, sich
       stärker dem Thema Mediensucht zu widmen. Von insgesamt 2.560 Experten, die
       das IZT – online – befragte, meinte zwar jeder Dritte, der öffentliche
       Diskurs über die Gefahren exzessiver Mediennutzung sei „übertrieben“.
       Gleichzeitig waren knapp 70 Prozent der Befragten – vor allem Mitarbeiter
       in Beratungsstellen, Psychologen und Therapeuten – der Auffassung, dass
       Mediensucht als eigenständige Krankheit anerkannt werden sollte.
       
       In Auswertung des wissenschaftlichen Sachstandes – der nach Urteil der
       IZT-Forscher überhaupt nicht ausreichend ist – werden fünf unterschiedliche
       Formen der Onlinesucht unterschieden. Die „allgemeine Internetsucht“ , ohne
       erkennbare Präferenz für besondere Anwendungen, kann je nach Studie
       zwischen 1,0 und 10,3 Prozent der untersuchten User festgestellt werden.
       
       ## Sucht nach sozialen Netzen
       
       Die „Onlinespielsucht“, derzeit mit der größten öffentlichen
       Aufmerksamkeit, hat mit Verbreitungswerten zwischen 0,3 und 15 Prozent der
       Nutzer noch eine große definitorische Bandbreite. Ganz neu ist die Variante
       der „Sucht nach sozialen Netzen“. Hierzu liegen aber noch sehr wenige
       Untersuchungen vor. „Die ermittelten Prävalenzraten sind recht
       unterschiedlich“, notieren die IZT-Gutachter.
       
       Der „Onlinesexsucht“ als „exzessivem oder zwanghaftem Pornografiekonsum“
       wird eine Verbreitung zwischen 1 und 8 Prozent der User zugemessen. Jedoch
       werde hier – durch Verleugnung und Scham – „eine hohe Dunkelziffer
       vermutet“. Opfer der „Onlinekaufsucht“, der hemmungslosen Warenbestellung
       per Internet, sollen zwischen 5 und 8 Prozent der Bevölkerung sein.
       
       Bei den Maßnahmevorschlägen rückt das IZT-Gutachten die „Forderung nach
       mehr Forschung in dem noch recht jungen Forschungsgebiet“ an die erste
       Stelle. Es fehle eine langfristige Forschungsstrategie „im Sinne der
       Betrachtung technischer, gesellschaftlicher, politischer, ethischer und
       anthropogener Dimensionen der Mediennutzung“, bemängelt das Gutachten.
       
       Zudem sei es geboten, einen „Diskurs zur Entwicklung einer gesellschaftlich
       und wissenschaftlich getragenen Wertebasis zu initiieren“. Dazu gehöre auch
       die Definition, wo die „Schwellenwerte zwischen Normalität und Sucht“
       liegen.
       
       ## Neue Wege der Ansprache
       
       Auch bei der Verbesserung der Prävention von Mediensucht gebe es
       Handlungsbedarf, sowohl bei der Entwicklung von Diagnoseinstrumenten als
       auch bei den Beratungs- und Behandlungsangeboten, die noch „zu wenig
       niedrigschwellig ausgerichtet“ seien. Damit ist gemeint, dass nur einige
       und nicht alle Ziel- und Risikogruppen gut erreicht werden. So seien für
       die Gruppe der Mädchen neue Wege der Ansprache erforderlich.
       
       Auch der Einsatz von Computertechnik im frühen Erziehungsbereich müsse
       kritisch diskutiert werden, war die Auffassung der Medienpädagogin Paula
       Bleckmann von der Alanus-Hochschule, die an der Bundestagsdiskussion
       teilnahm. „Der Early-Hightech-Hype muss zurückgefahren werden, weil er
       kleinen Kindern schadet und großen Konzernen nützt“, war die Position der
       Vorsitzenden des Vereins „Media Protect“.
       
       In den USA gebe es inzwischen eine Abkehr von der Bildungsdigitalisierung,
       „weil die Kinder an den Hightech-Schulen weniger lernen“. Es brauche zudem
       eine Drosselung des Innovationstempos, „damit die Begleitforschung
       überhaupt mithalten kann“, verlangt Bleckmann. Um die Internet-Sucht also
       stehen noch heftige Debatten ins Haus – online wie auch offline.
       
       9 Jun 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.drogenbeauftragte.de/index.php?id=26845
   DIR [2] http://www.tab-beim-bundestag.de/de/
   DIR [3] https://www.izt.de/
   DIR [4] http://www.tab-beim-bundestag.de/de/aktuelles/20160530.html
   DIR [5] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manfred Ronzheimer
       
       ## TAGS
       
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