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       # taz.de -- EMtaz: Fansein und Patriotismus: Die Nation war nicht wieder da
       
       > Mit wem identifiziere ich mich, wenn ich bei der Europameisterschaft für
       > Deutschlands Fußballteam bin? Und ist das patriotisch?
       
   IMG Bild: Gerät bei der EM der Patriotismus in Schieflage?
       
       Der Fußball bringt auch rationale Menschen zu irrational-intensiven
       Gefühlen, darunter starken Identifikationsgefühlen. Selbstverständlich auch
       mit Nationalmannschaften. Ich halte es aber für einen Fehlschluss, die
       Identifikation von der Nationalmannschaft auf das Land zu übertragen, wie
       das Dirk Kurbjuweit im Spiegel getan hat.
       
       Die Identifikation mit dem Team Deutschland hat bei der Mehrheit nichts zu
       tun mit einer patriotischen Identifikation mit dem Land Deutschland. Das
       Problem der Fußballfans besteht auch bei dieser EM darin, dass ihre wahre
       Identifikationsfläche eben nicht mitspielt, also der Club, für den sie das
       ganze Jahr über sind. Wie auch die Party-Opportunisten, die sich nur bei
       solchen Turnieren einklinken, müssen sie aber für jemand sein, um emotional
       richtig teilhaben zu können.
       
       Also sind sie für die Verbandsmannschaft ihres Landes. Für wen auch sonst?
       Dass diese Mannschaft eine ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt
       widerspiegelt oder widerzuspiegeln scheint, die im gesellschaftspolitischen
       Kontext nicht von allen positiv gedeutet wird, ist beim Fußball längst als
       vollkommen normal abgespeichert, weil das im Spitzenbereich bei nahezu
       allen Clubs seit vielen Jahren auch so ist.
       
       Gleichzeitig – hier folge ich Hans Ulrich Gumbrechts Essay in der NZZ –
       kann man Identifikation in der individualisierten, postideologischen und
       seit siebzig Jahren in Frieden und Freiheit lebenden Gesellschaft eben
       nicht mehr als „geteiltes Lebensschicksal“ verstehen, wie das nach dem
       WM-Sieg 1954 beim Blick in das glückliche Gesicht des desillusionierten
       Ex-Wehrmachtsobergefreiten Fritz Walter der Fall war. Spitzenfußballer
       heute operieren auf einem transnationalen Arbeitsmarkt in einem Business,
       dass sich europäisch und über die Champions League definiert.
       
       In der Nationalmannschaft repräsentieren sie in Wahrheit nicht das Land,
       sondern nur dessen Fußball, der in der Hauptsache von Clubs repräsentiert
       wird, welche „deutsch“ sind, ohne dass Deutsche zwingend mitspielen müssen.
       Selbstverständlich gibt es auch keine „deutschen Tugenden“ oder überhaupt
       Nationalstile, mit denen man von Teams auf die Gesellschaft rückschließen
       könnte.
       
       Eine EM oder WM löst eine gesellschaftliche Stimmung aus, das ja. Positiv
       bei einem Erfolg, negativ bei einem größeren Misserfolg, aber selbst in
       Kulturen, in denen der Fußball als sehr wichtig gilt, führt das nicht mehr
       zu größeren politischen Verwerfungen und schon gar nicht zu andauernder
       gesellschaftlicher Harmonie oder parallelen Transformationsstrukturen.
       
       Dass nach der WM 2006 „die Nation wieder da war, aber liebenswert“, wie
       Kurbjuweit schreibt, ist eine Vorstellung, die auch von Grünen
       Mainstreamdenkern gern verbreitet wird.
       
       Nein. War sie nicht.
       
       Erstens gibt es keine Nation. Zweitens sind diese Projektionen komplett
       überzogen, die Deutschen hätten bei der WM 2006 eine neue Qualitäts- und
       Reifestufe ihres Umgangs mit dem Deutschsein und den anderen erreicht. Die
       Leute wollten Party machen und sie machten Party. Dabei behandelten sie
       ihre Gäste und Kunden freundlich. So what: Dachten die Grünen etwa, die
       würden in Lager gesteckt?
       
       Also: Mit der Politisierung von Fußballgefühlen ist nichts zu gewinnen.
       Weder für die AfD, noch für die Verteidiger der offenen Gesellschaft.
       
       Deutschland braucht eine patriotische Gesellschaft. Eine
       verfassungspatriotische, europäische, engagierte Bürgergesellschaft, die
       Offenheit und Zusammenhalt in die bestmögliche Balance bringt. Mit
       Fußballpatriotismus hat das überhaupt nichts zu tun. Damit kann man Party
       machen. Oder bei Niederlage schlechte Laune verbreiten.
       
       Aber es ist immer nur ein einseitiges Nehmen.
       
       12 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
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