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       # taz.de -- Homophobie in Marokko: Schutz ist nicht in Sicht
       
       > Der Bundesrat will entscheiden, ob Marokko ein sicheres Herkunftsland
       > wird. LGBTI-Aktivisten berichten von Gewalt und staatlicher Repression.
       
   IMG Bild: Kämpft für die Rechte der LGBTI in Marokko: Ismaël Bakkar
       
       Rabat taz | Wieder und wieder dreht Ismaël Bakkar sich um. Er schaut, wer
       noch im Café sitzt, ob jemand lauscht. Vorsichtshalber senkt er bei manchen
       Details die Stimme. Der 25-jährige Bakkar ist Aktivist bei der
       marokkanischen Menschenrechtsgruppe Mouvement Alternatif pour les Libertés
       Individuelles (Mali), arbeitet schwerpunktmäßig zu den Rechten von LGBTI,
       also von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen.
       
       Darüber, dass der deutsche Bundesrat darüber abstimmen will, ob neben
       Tunesien und Algerien auch Marokko als ein sicheres Herkunftsland
       eingestuft werden soll, kann Bakkar nur müde lächeln. Ob die Entscheidung
       durchkommt, hängt vor allem an den Grünen. Von den zehn Bundesländern, in
       denen sie an der Regierung beteiligt sind, hat bislang kein einziger
       Landesverband definitiv gesagt, dass er der Entscheidung zustimmen werde.
       Aber schon, dass die Frage überhaupt diskutiert wird, ärgert Bakkar. „Wie
       kann man behaupten, hier sei alles in Ordnung?“
       
       Allein Paragraf 489 des marokkanischen Strafgesetzbuches sollte die
       Bundesregierung zum Nachdenken bringen, meint Bakkar. Er stellt
       Homosexualität unter Strafe, denn er bestimmt, dass „widernatürliche
       Handlungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts“ mit bis zu drei
       Jahren Gefängnis und Geldstrafen von bis zu 1.000 Dirham, rund 100 Euro,
       geahndet werden.
       
       Internationale Aufmerksamkeit erregte der Paragraf im Frühjahr, als eine
       Gruppe junger Männer ein schwules Paar brutal überfiel. Am 9. März 2016
       drang in der kleinen Stadt Beni Mellal eine Gruppe von sechs Männern in
       eine Privatwohnung ein und überraschte zwei Männer beim Sex. Den Angriff
       filmten sie mit einer Handykamera, das Video gelangte ins Internet. Es
       zeigt, wie die Männer brutal zusammengeschlagen werden, sodass einem von
       ihnen das Blut vom Gesicht bis herab zum Unterleib fließt. Als er versucht
       sich eine Hose anzuziehen, reißt man ihm diese weg. Die Angreifer zwingen
       die zwei nackten Männer, aufzustehen und auf die Straße zu gehen.
       
       ## Gewaltopfer müssen vor Gericht
       
       Eine Woche später kam es zum Gerichtsverfahren – und zwar nicht nur gegen
       die Aggressoren, sondern auch gegen die angegriffenen Männer. Eines der
       Opfer wurde zu einer Gefängnishaft von vier Monaten und einer Geldstrafe
       von umgerechnet 45 Euro verurteilt. Das Urteil wurde aufgehoben, was wohl
       auch daran liegt, dass Mali und andere Menschenrechtsgruppen internationale
       Aufmerksamkeit erregen können. Ein französischer Sender drehte eine
       Reportage über die Verfolgung Homosexueller durch Staat und Bevölkerung.
       
       Immer wieder passiert solche Gewalt wie gegen die beiden Männer in Beni
       Mellal. Dass sie keinen Schutz vom Staat erwarten können, macht
       Homosexuelle leicht erpressbar. Es gibt Berichte darüber, dass sowohl
       Polizisten als auch Kriminelle sich auf schwulen Websites anmelden, um sich
       mit Homosexuellen in entlegenen Gegenden zu verabreden und sie auszurauben.
       Homosexuelle müssen außerdem damit rechnen, von ihren Familien verstoßen
       und gesellschaftlich geächtet zu werden.
       
       Für Ismaël Bakkar von der Gruppe Mali erklärt sich der Hass auf
       Homosexuelle aus einer konservativen Koranauslegung, die für
       gleichgeschlechtlichen Sex die Todesstrafe vorsieht. Außerdem sei Marokko
       eine patriarchale Gesellschaft, die vor allem jene Männer verachte, die
       sich von ihrem Partner anal penetrieren lassen.
       
       ## Frauenhass und Homophobie gehen Hand in Hand
       
       Samir Bargachi von der Menschenrechtsgruppe „Kifkif“ schließt sich dieser
       Analyse an. Er sieht einen engen Zusammenhang zwischen der
       gesellschaftlichen Position der Frau und der Verachtung von Homosexuellen:
       „Wenn ein Mann sich selbst herabwürdigt, auf die Rolle der Frau, dann ist
       das in Marokko etwas Schreckliches. Es widerspricht dem Stolz der Männer.“
       Dies lasse sich auch an dem Überfall in Beni Mellal sehen, sagt Bargachi.
       Besonders brutal sei der Mann zusammengeschlagen worden, der sich beim
       Analverkehr hatte penetrieren lassen.
       
       Die Verfolgung von Homosexuellen durch den Paragrafen 489 ist für Ismaël
       Bakkar nur ein Beispiel in einer Reihe von Gesetzen, die die individuellen
       Freiheitsrechte in der Monarchie Marokko einschränken. So kann
       außerehelicher Geschlechtsverkehr mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft
       werden. Wer während des Ramadans in der Öffentlichkeit isst, dem drohen bis
       zu sechs Monate Gefängnis.
       
       Dazu kommt das Problem der Repression gegen Journalisten: Reporter ohne
       Grenzen führt das Land auf seiner [1][Rangliste der Pressefreiheit] auf
       Platz 130 von insgesamt 180. Mehrfach wurden in der Vergangenheit
       Journalisten für Kritik am König zu Gefängnisstrafen verurteilt. Absolutes
       Tabu ist im Königreich auch das Sprechen über die Westsahara, ein
       Territorium, das sich Marokko nach der Unabhängigkeit 1956 einverleibte.
       Der Journalist Ali Anouzla wurde in einem Interview mit der
       Boulevardzeitung Bild kürzlich mit der Äußerung zitiert, die Westsahara sei
       besetzt. Jetzt drohen ihm in Marokko bis zu fünf Jahre Haft.
       
       Hakim Sikouk von der marokkanischen Gesellschaft für Menschenrechte AMDH
       setzt sich seit vielen Jahren für mehr Demokratie ein. Er berichtet von
       drohenden SMS-Nachrichten und Telefonanrufen, die er als Organisator von
       Demonstrationen erhält. In Erinnerung ist ihm geblieben, wie seine Familie
       während der Proteste des Arabischen Frühlings 2011 unter Druck gesetzt
       wurde. „Sie besuchten meine Mutter und drohten, dass jeglicher Vorfall
       während der Demonstration in meine Verantwortung fallen würde“, sagt
       Sikouk. Trotz der nach der Protestwelle umgesetzten Verfassungsreform in
       Marokko sei die Demokratie im Land noch nicht angekommen. „Wir leben in
       einem Land, in dem die Menschenrechte häufig missachtet werden.“
       
       ## Staatsgewalt gegen demokratische Gruppierungen
       
       Immer wieder setze der marokkanische Staat drastische Mittel ein, um
       demokratische Gruppierungen in ihrer Arbeit zu behindern, sagt Sikouk. So
       wurde 2015 das Zentralbüro der Menschenrechtsgesellschaft AMDH von der
       Polizei buchstäblich zerlegt, als sich dort zwei französische Journalisten
       aufhielten, die zu Korruption im Königreich recherchierten.
       
       Im Hinblick auf die Entscheidung im deutschen Bundesrat, ob die
       Mahgrebstaaten als sichere Herkunftsstaaten gelten können, sagt Sikouk:
       „Marokko als sicheres Herkunftsland einzustufen, hat nichts mit den
       Menschenrechten im Land zu tun.“ Homophobe Überfälle wie die von Beni
       Mellal zeigten, wie bedeutend Zufluchtsländer wie Deutschland für Menschen
       aus Marokko seien.
       
       Klaus Jetz vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) vermutet
       hinter dem Vorhaben, die Maghrebstaaten Algerien, Tunesien und Marokko als
       sichere Herkunftsländer einzustufen, vor allem eine innenpolitische
       Motivation. Nach den Übergriffen auf Frauen in der Kölner Silvesternacht
       wolle die deutsche Regierung Handlungsfähigkeit signalisieren. An der
       Menschenrechtslage und der Situation von Homosexuellen in den
       Maghrebstaaten habe sich seitdem aber nichts geändert.
       
       Aus einem „sicheren Herkunftsland“ zu stammen, hat für Asylsuchende
       schwerwiegende Folgen. In nur zwei Wochen dauernden Schnellverfahren wird
       über ihre Anträge entschieden. Zu kurz für die Betroffenen, um sich über
       die eigenen Rechte zu informieren, sagt Jetz vom LSVD. Gerade für
       Homosexuelle hätte das beschleunigte Verfahren verheerende Konsequenzen.
       
       Aufgewachsen in einer homophoben Umgebung, in der Überfälle wie der von
       Beni Mellal zum Alltag gehören, hätten sich viele Geflüchtete noch nie
       öffentlich zu ihrer Sexualität bekannt. Nun müssen sie sich gegenüber einem
       Behördenvertreter outen, wenn sie eine Chance auf Asyl haben wollen. Jetz
       befürchtet, dass viele Schutzbedürftige sich aufgrund ihrer Erfahrungen und
       ohne Beratung den Behörden gegenüber nicht trauen, offen zu sagen: „Ich bin
       schwul.“
       
       16 Jun 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/2016/
       
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   DIR Jan Schapira
       
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