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       # taz.de -- Sichere Herkunftsstaaten: Ein bisschen Folter ist okay
       
       > Die Bundesregierung gibt zu, dass es in Tunesien Fälle von Folter gibt.
       > Trotzdem will sie das Land als „sicher“ deklarieren. Wie geht das?
       
   IMG Bild: Ein Polizist geht in Tunis gegen eine Demonstration von Islamisten vor
       
       Berlin taz | Da wäre zum Beispiel Mohamed Ali Snoussi. Vermummte Polizisten
       zerrten den 32-jährigen am 24. September 2014 aus seinem Wohnhaus in einem
       Arbeiterviertel von Tunis. Sie schlugen ihn mit Gummiknüppeln, zogen ihn
       vor Nachbarn nackt aus, drohten ihn zu vergewaltigen und nahmen ihn mit –
       eine Verhaftung wegen mutmaßlicher Drogendelikte.
       
       Neun Tage später war Snoussi tot. Nachdem Verwandte seinen Leichnam gesehen
       hatten, bezeugten sie, dass er Verletzungen am Hinterkopf und blaue Flecken
       am Rücken, an Armen und Beinen hatte. Amnesty International und Human
       Rights Watch gehen davon aus, dass Snoussi gefoltert wurde.
       
       Dass die Polizei in Tunesien Gefangene misshandelt und foltert, melden
       Menschenrechtsorganisationen immer wieder. Dies rückt einen Plan der
       Bundesregierung in ein unschönes Licht: Sie will den Staat in Nordafrika
       als sicheren Herkunftsstaat deklarieren, damit sie tunesische Asylbewerber
       unkompliziert und schnell abschieben kann.
       
       Das deutsche Grundgesetz erlaubt eine solche Einstufung für Staaten jedoch
       nur dann, wenn dort keine „unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder
       Behandlung stattfindet“. So ist es in Artikel 16a der Verfassung
       festgelegt. Wie kann ein Staat, in dem gefoltert wird, sicher sein? Hält
       die Bundesregierung die Informationen der Menschenrechtsorganisationen für
       falsch? Ist Tunesien deshalb aus ihrer Sicht sicher?
       
       ## Gefangener stirbt nach Misshandlungen
       
       In der Antwort auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag, die der
       taz vorliegt, erklärt sich die Regierung zu den Vorwürfen. „Das Ausmaß von
       Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung durch tunesische
       Behörden ist nach einhelliger Einschätzung von Experten stark
       zurückgegangen“, schreibt darin Michael Roth (SPD), Staatsminister für
       Europa im Auswärtigen Amt. Die Bundesregierung setze sich gegenüber der
       tunesischen Regierung „für die vollständige Beendigung“ von Folter ein und
       mahne zur Einhaltung der Menschenrechte.
       
       Das bedeutet: Die Regierung bestreitet gar nicht, dass Folter in Tunesien
       durch staatliche Behörden existiert. Sie gibt offiziell zu, dass es Fälle
       wie den von Mohamed Ali Snoussi gibt. Sie sagt nur, dass es weniger Folter
       gibt als früher – was Menschenrechtsorganisationen nicht bestreiten.
       
       Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung nun aus den Berichten
       über Snoussis Tod? Staatsminister Roth antwortet mit einem lapidaren Satz:
       Die Regierung ziehe aus diesem und weiteren Fällen die Schlussfolgerung,
       ihre Bemühungen gegen Folter und unmenschliche Behandlung in Tunesien
       „entschlossen fortzusetzen.“
       
       Auch hier bestreitet die Regierung nicht, dass Mohamed Ali Snoussi durch
       Polizeifolter gestorben sein könnte. Sie erklärt also ein Land zu einem
       sicheren Herkunftsstaat, von dem sie zugibt, dass es dort für viele
       Menschen alles andere als sicher zugeht.
       
       ## Homosexualität ist strafbar
       
       Die Grünen kritisieren den Plan deshalb scharf. „Die Maghreb-Staaten sind
       nicht sicher, das bestätigt die Antwort der Bundesregierung auf unsere
       Anfragen erneut“, sagt Luise Amtsberg, die flüchtlingspolitische Sprecherin
       der Bundestagsfraktion. Die Koalition hat das Gesetz, das Tunesien,
       Algerien und Marokko zu sicheren Herkunftsstaaten macht, bereits im
       Bundestag beschlossen. Jetzt liegt der Ball bei den Ländern, die noch im
       Bundesrat zustimmen müssen.
       
       Die Menschenrechtslage ist in allen drei Staaten problematisch. So ist in
       Tunesien, Algerien und Marokko Homosexualität laut Gesetz strafbar. Schwule
       und Lesben können ins Gefängnis wandern, wenn sie erwischt werden – und
       dort kommt es häufig zu Demütigungen und Gewalt.
       
       Die Grünen fragten das Auswärtige Amt zum Beispiel auch, wie viele
       Bedrohungen, Einschüchterungen und gewalttätige Übergriffe es gegen
       Schwule, Lesben oder Transsexuelle in Tunesien gebe. Sie fragten ebenso, ob
       diese Menschen beim Zugang zu Wohnungen, Jobs, zu Bildung oder öffentlichen
       Leistungen diskriminiert würden. Die Antwort der Regierung auf die
       Grünen-Anfrage spricht Bände. Sie gehe davon aus, dass solche
       Diskriminierungen in Tunesien „häufig vorkommen“, räumt die Bundesregierung
       ein.
       
       ## Grüne stecken im Dilemma
       
       Auch für Marokko und Algerien dokumentieren die Antworten der Regierung
       zahlreiche Ungereimtheiten, die das Gesetz eigentlich unmöglich machen
       sollten. Die Regierung muss zum Beispiel einräumen, dass es in Algerien zu
       Einschüchterungen, Verfahren und Verurteilungen von kritischen Journalisten
       und Bloggern kommt.
       
       Ironischerweise stecken ausgerechnet die Grünen, die das Gesetz im Bund
       kritisieren, in einem bösen Dilemma. Sie regieren in zehn Bundesländern mit
       und könnten deshalb das Gesetz stoppen. Doch manche Grüne halten sich
       bisher ein Ja offen. Mehr noch: Baden-Württembergs Ministerpräsident
       Winfried Kretschmann und die hessischen Grünen hatten dem Kanzleramt vor
       den Landtagswahlen im März intern signalisiert, eventuell zuzustimmen –
       gegen Gegenleistungen. Die CSU wandte sich damals gegen einen Deal, nachdem
       die taz über Kretschmanns Offerte berichtet hatte.
       
       Seitdem halten sich Kretschmann und andere Länder-Grüne bedeckt. Offiziell
       prüfen sie das Gesetz auf Plausibilität. Schon bald aber werden sie sich
       entscheiden müssen. Die endgültige Befassung des Bundesrates ist auf den
       17. Juni angesetzt. Die grüne Flüchtlingsexpertin Amtsberg nimmt ihre
       ParteifreundInnen in die Pflicht: „Der Bundesrat muss dieses irrwitzige
       Gesetz noch stoppen.“ Ansonsten setze er das „menschenrechtspolitische
       Ansehen der Bundesrepublik leichtfertig aufs Spiel“.
       
       8 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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