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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Leibeigenen von Katar
       
       > Südasiatische Migranten schuften auf den Baustellen für die Fußball-WM
       > 2022. Sie arbeiten unter Lebensgefahr, für einen Hungerlohn und sind
       > rechtlos.
       
   IMG Bild: Hoffentlich überleben sie die Arbeit auf der WM-Baustelle
       
       Unser Konvoi fährt heimlich los, um nicht die Aufmerksamkeit der Polizei zu
       erregen – sie hat ein Auge auf Neugierige, die sich zu sehr für das
       Schicksal der ausländischen Arbeitskräfte interessieren. An der Biegung
       eines staubigen Wegs tauchen aus dem Dunkel Baracken auf. Mit den
       unverputzten Fassaden und dem überall herumliegenden Schutt sieht das
       „Arbeitercamp“ eher wie ein Slum aus. Hier in ar-Rayyan, der zweitgrößten
       Stadt des Emirats Katar, sollen 2022 im Stadion Ahmed bin Ali mehrere
       Spiele der Fußballweltmeisterschaft ausgetragen werden.
       
       Wir sind unterwegs mit einer Delegation der internationalen Bau- und
       Holzarbeiter-Gewerkschaft (BHI). Im Camp werden wir von etwa einem Dutzend
       indischer und nepalesischer Arbeiter empfangen, die auf dieser Baustelle
       beschäftigt sind. In ihrer winzigen, neun Quadratmeter großen Unterkunft
       stehen acht Stockbetten mit schmutzigen, durchgelegenen Matratzen. „Wir
       haben seit vier Monaten keinen Lohn bekommen“, berichten sie. Da sie über
       keine weiteren Mittel verfügen und ihre Grundbedürfnisse decken müssen,
       verschulden sie sich zu Wucherzinsen bei den örtlichen
       Lebensmittelhändlern, die ebenso skrupellos sind wie ihre Arbeitgeber.
       Neben diesen Schulden müssen sie auch noch die Kredite zurückzahlen, die
       sie aufgenommen haben, um die illegale „Vermittlungsgebühr“ zu bezahlen:
       Die Agentur in ihrem Heimatland hat Geld verlangt, um den Kontakt zu den
       Arbeitgebern am Golf vermitteln. Was an dann noch übrig bleibt, schicken
       die Arbeiter an ihre Familien daheim.
       
       Rajiv V. (die Vornamen wurden geändert, Anm. d. Red.) stammt aus dem
       indischen Bundesstaat Westbengalen und arbeitet seit 15 Monaten in Katar.
       Der etwa 30-jährige Zimmermann spart die Hälfte seines Monatslohns (300
       Euro) für seine Ehefrau, die den gemeinsamen Sohn allein aufzieht. Nach
       Angaben der katarischen Regierung sollen die Arbeitsmigranten im Emirat
       allein im Jahr 2014 über 10,7 Milliarden Euro in ihre Heimatländer
       zurücküberwiesen haben. Die wenigen Freizeitangebote können sie sich
       ohnehin nicht leisten – oder ihnen ist der Zugang faktisch verboten: „In
       vielen Teilen Dohas dürfen sich Wanderarbeitskräfte nicht aufhalten,
       wodurch sie in ihrer Bewegungsfreiheit noch weiter eingeschränkt sind“,
       [1][heißt es im neuesten Bericht des Internationalen Gewerkschaftsbunds
       (IGB)]. Diese als „Familienareale“ bezeichneten Tabuzonen seien auf den
       Karten, die von der katarischen Regierung verteilt werden, genau
       ausgewiesen.
       
       Folgerichtig werden die Arbeiter in Randgebiete abgeschoben, die weit von
       ihrem Arbeitsort entfernt liegen; inklusive Bustransfer sind sie 13 Stunden
       am Tag auf den Beinen. Ihr Gemeinschaftsleben beschränkt sich auf
       sporadische Treffen der jeweiligen Exilgemeinde: „Unsere Kollegen
       organisieren jeweils am 18. Dezember, dem internationalen Tag der
       Migranten, ein großes Fest der nepalesischen Gemeinde. So können wir unter
       dem Deckmantel eines Kulturfestes alle Beschäftigten versammeln“, sagt
       Binda Pandey, Leiterin des Dachverbands der nepalesischen Gewerkschaften
       (Gefont) und Mitglied des Verwaltungsrats der Internationalen
       Arbeitsorganisation (ILO). Wie in allen Golfstaaten – mit Ausnahme von
       Kuwait und Bahrain – sind in Katar Gewerkschaften verboten.
       
       ## Keine Rechte, kein Pass
       
       Die insgesamt 2 Millionen ausländischen Arbeitskräfte in Katar, die 90
       Prozent der Bevölkerung ausmachen unterliegen dem Kafala-System, das die
       Arbeitnehmer unter Kuratel eines „Paten“, also ihres Arbeitgebers, stellt.
       Angewandt wird das Kafala-System auf der gesamten Arabischen Halbinsel, von
       den Vereinigten Arabischen Emiraten über Kuwait bis Saudi-Arabien.
       
       In Katar baut eine riesige Arbeiterarmee an sechs von sieben Wochentagen,
       winters wie sommers, bei Temperaturen von bis zu 50 Grad, die Stadien für
       die Fußballweltmeisterschaft 2022. Während ihres Aufenthalts in Katar sind
       die ausländischen Arbeiter praktisch rechtlos: Ihr Lohn wird sehr spät oder
       gar nicht ausgezahlt, ihre Wohnheime sind baufällig und unhygienisch, sie
       dürfen ohne Zustimmung des Arbeitgebers nicht den Job wechseln, und ihr
       Pass wird eingezogen; um das Land verlassen zu können, benötigen sie die
       Erlaubnis ihres Chefs.
       
       88 Arbeitsmigranten auf der Baustelle des Khalifa-Stadions in Doha
       bestätigten in einer Umfrage von Amnesty International, dass sie nicht das
       Recht haben, Katar zu verlassen. Sogar nach den Erdbeben im April und Mai
       2015 wurden sieben Nepalesen daran gehindert, in ihr Heimatland
       zurückzukehren, um nach ihren Angehörigen zu sehen. Das Verbot zur Ausreise
       kam von der Arbeitsagentur Seven Hills, die unter anderem dem malaysischen
       Konzern Eversendai billiges und grenzenlos einsatzfähiges Personal für die
       Bauarbeiten am Khalifa-Stadion vermittelt.
       
       Der IGB, ebenso wie Human Rights Watch und Amnesty International,
       verurteilen das herrschende Arbeitsrecht im Emirat als
       Quasileibeigenschaft. „Bis zum ersten Anpfiff bei der WM ist mit dem Tod
       von über 7000 Wanderarbeitskräften zu rechnen“, warnt die
       IGB-Generalsekretärin Sharam Burrow.
       
       ## Tod durch Verdursten
       
       Von solch alarmierenden Zahlen will die katarische Regierung nichts wissen:
       „Bis heute hat es keinen einzigen Todesfall in Zusammenhang mit den
       Infrastrukturvorhaben für die Weltmeisterschaft gegeben“, hieß es in einer
       offiziellen Stellungnahme vom Juni 2015. Das katarische
       WM-Organisationskomitee hat jedoch erst jüngst zwei „natürliche
       Todesfälle“ durch Herzversagen eingeräumt: Ein 52-jähriger Maler aus
       Indien, der auf der Baustelle des Khalifa International Stadiums gearbeitet
       hatte, sei im Oktober 2015 an einem Herzinfarkt gestorben. Anfang 2016 sei
       zudem ein 55-jähriger Fahrer mit Herzproblemen, ebenfalls aus Indien, trotz
       intensivmedizinischer Behandlung verstorben. Die Botschaften von Indien,
       Bangladesch und Nepal haben im Verlauf der letzten zwei Jahre aber bereits
       900 Todesfälle erfasst; bei der Hälfte davon wurden ein plötzlicher
       Herzinfarkt oder unbekannte Gründe als Todesursache angegeben.
       
       Ramachandra Kuntia, Vizepräsident der BHI und ehemaliger Abgeordneter der
       indischen Kongresspartei, macht für diese Todesfälle die außergewöhnlich
       harten Arbeitsbedingungen verantwortlich: „Zahlreiche Arbeitskräfte sind in
       Privathaushalten beschäftigt, wo sie die Toilette nicht benutzen dürfen.
       Auch bei extremer Hitze trinken sie deshalb von morgens bis abends keinen
       Tropfen, und manche sterben an Dehydrierung. Der Arzt stellt dann einen
       natürlichen Tod fest, und die Familie der Toten erhält keinerlei
       Entschädigung.“
       
       Als die Bilder aus den schmutzigen Arbeiterlagern öffentlich gemacht
       wurden, war die katarische Regierung um ihren Ruf besorgt und versprach im
       Mai 2014 erstmals, das Kafala-System zu reformieren. Am 27. Oktober 2015
       erließ Emir Scheich Tamim bin Hamad al-Thani schließlich ein neues Gesetz,
       das jedoch erst am 1. Januar 2017 in Kraft treten soll. Der Begriff „Pate“,
       der inzwischen als Synonym für schlechte Behandlung steht, wurde durch den
       unverfänglicheren Terminus „Arbeitgeber“ ersetzt.
       
       Künftig braucht ein Arbeitnehmer keine Genehmigung des Arbeitgebers mehr,
       wenn er das Land verlassen will – besonders diese Regelung hatte in
       westlichen Medien für Aufregung gesorgt. Ein Ausreiseantrag soll künftig
       als angenommen gelten, wenn der Chef nicht innerhalb von drei Tagen sein
       Veto einlegt. „Die Einspruchsmöglichkeiten werden zwar etwas verstärkt“,
       meint ein in Doha ansässiger europäischer Wirtschaftsanwalt. „Bei einem
       derart einseitig an den Interessen der Arbeitgeber ausgerichteten
       Arbeitsrecht wird die Ausbeutung aber so bald nicht aufhören.“
       
       ## Ohne Bankkonto keine Überweisung
       
       Nach dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate sieht die Reform auch
       ein System vor, das den Arbeitnehmern gewisse Garantien bietet, damit in
       Zukunft alle ihren Lohn auch tatsächlich erhalten. Jede im Arbeitsvertrag
       genannte Summe muss durch eine Überweisung belegt werden. „Dank dieser
       Maßnahme werden die Beschäftigten der in Katar ansässigen Unternehmen ihren
       Lohn per elektronischer Überweisung innerhalb von maximal sieben Tagen
       erhalten“, erklärte das Presseamt der Regierung. Das Problem: Nur sehr
       wenige Arbeitsmigranten besitzen überhaupt ein Bankkonto; nach Schätzungen
       von NGOs und Gewerkschaften etwa ein Fünftel.
       
       Die Zentralbank von Katar hat den Banken zwar Anweisung gegeben, Konten für
       die ausländischen Arbeitskräfte zu eröffnen. Aber die Banken haben es damit
       offenbar nicht eilig: „Sie wollen keine Horden von Arbeitern in ihren
       Filialen haben und stellen lieber mobile Geldautomaten auf“, sagt der
       Wirtschaftsanwalt. Die mittellosen „Horden“ sollen in ihren Behelfslagern
       bleiben, fern von den luxuriösen Bankhäusern Dohas, in denen Katarer und
       reiche Ausländer verkehren.
       
       Ein weiterer zarter Versuch ist die Reform der
       Unbedenklichkeitsbescheinigung (Non Objection Certificate, NOC), die laut
       Regierung eine „größere Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmer“ garantieren
       soll. Wenn ein „Pate“ bislang die Unterschrift unter dieses Dokument
       verweigerte, welches dem ausländischen Arbeitnehmer „beispielhaftes“
       Verhalten attestiert, dann musste der Betreffende das Land für mindestens
       zwei Jahre verlassen, bevor er wieder dort arbeiten durfte. Der kleine
       Fortschritt: Wer das Ende seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit
       erreicht hat, braucht diese Bescheinigung künftig nicht mehr vorzulegen,
       wenn er weiterhin in Katar bleiben will.
       
       Dasselbe gilt für unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer, die den
       Arbeitgeber wechseln möchten; sie müssen jedoch weiterhin nachweisen, dass
       sie bereits seit fünf Jahren für ein Unternehmen tätig sind.
       
       Am 1. November 2015 eröffneten Katars Premierminister Abdullah bin Nasser
       bin Khalifa al-Thani und Arbeitsminister Abdullah al-Khulaifi feierlich die
       erste „Stadt der Arbeit“: eine Wohnsiedlung, in der 70 000 Arbeitsmigranten
       zu angemessenen Bedingungen untergebracht werden sollen. Eine Woche nach
       der offiziellen Einweihung treffen wir Jassim al-Thani, den Pressesprecher
       der Regierung, zu einem persönlichen Besichtigungstermin. Der junge Mann
       aus der Königsfamilie trägt eine elegante Dischdascha und fährt seinen SUV
       mit weichen Ledersitzen selbst. Vor der bewachten Einfahrt zur „Stadt der
       Arbeit“ treffen wir Zoher D., der uns herumführen soll. Der libanesische
       Ingenieur war selbst am Bau der Anlage beteiligt.
       
       ## Die Arbeiterstadt der Zukunft
       
       Die Siedlung, die noch zu drei Vierteln leer steht, ist in einen
       Wohnbereich und einen Freizeit- und Konsumbereich unterteilt und ringsum
       von hohen Mauern umschlossen. Von zwei Polizeiposten aus patrouillieren
       regelmäßig Ordnungskräfte bis in den letzten Winkel der Siedlung. In jedem
       Gebäude sitzt ein Wachmann in einem Überwachungsraum mit vier Bildschirmen,
       die mit Kameras in den blitzblanken Gemeinschaftsräumen verbunden sind. In
       den 24 Quadratmeter großen Zimmern sollen je vier Menschen leben. Alles
       scheint perfekt in dieser Arbeiterstadt der Zukunft. Auch das
       Einkaufszentrum mit 200 Geschäften steht kurz vor der Eröffnung.
       
       Bis Ende 2017 sollen sechs weitere Wohnkomplexe errichtet werden und
       insgesamt 379 000 Menschen aufnehmen. Das ist nicht viel: Hunderttausende
       leben in engen und schmutzigen Baracken – und bis zur WM sollen weitere 500
       000 Arbeitsmigranten nach Katar kommen.
       
       Der philippinische Gewerkschafter Ambet Yuson, Generalsekretär der BHI,
       bestätigt, es habe bei der Unterbringung der ausländischen Arbeiter
       „Verbesserungen“ gegeben. Doch in Bezug auf Gesamtwirkung der Reform bleibt
       er skeptisch: „Das dritte Jahr in Folge schicken wir jetzt eine Delegation
       nach Katar, und im Grunde hat sich die Situation der Arbeitsmigranten kaum
       verändert.“
       
       Diese Einschätzung bestätigen auch die etwa 30 indischen Arbeiter, die zu
       einem Seminar der BHI ins Hinterzimmer eines Restaurants in Doha gekommen
       sind. Die Inder bilden mit 650 000 Arbeitskräften die größte Exilgemeinde
       in Katar, gefolgt von den Nepalesen (500 000) und Philippinern (250 000).
       Hat die Regierung ihr Versprechen gehalten, den Missbrauch des
       Kafala-Systems zu beenden? Skeptisches Gemurmel bei den Zuhörern. Nur acht
       der anwesenden Arbeiter sind im Besitz ihres Reisepasses. Die Pässe der
       anderen wurden von ihren Arbeitgebern einbehalten.
       
       Ein Arbeiter erhebt sich und zeigt sein Ingenieurdiplom: „Bei der Agentur
       in Indien, die mich angeworben hat, habe ich einen Vertrag als Elektriker
       unterschrieben. Aber als ich hier ankam, hieß es: ‚Du musst als Klempner
       arbeiten‘, für einen Lohn von 900 Riyal – das ist die Hälfte dessen, was
       mir zugesichert wurde.“ Der monatliche Durchschnittsverdienst der
       anwesenden Arbeiter liegt bei 1115 Katar-Riyal (circa 275 Euro), inklusive
       Wohngeld. Das steht in keinem Verhältnis zum Durchschnittseinkommen der
       rund 250 000 katarischen Staatsbürger, das auf monatlich 10 800 Euro
       geschätzt wird.
       
       ## Tödliche Unfälle auf Baustellen
       
       Die gezahlten Löhne wirken noch lächerlicher, wenn man die Gefahren der
       Arbeit berücksichtigt: „Gestern hat sich ein Kollege auf der Baustelle
       hinter dem Hotel Mercure den Arm abgeschnitten“, berichtet ein Arbeiter aus
       Sri Lanka. Ein anderer zeigt seine Wade, die vor einem halben Jahr von
       einer Maschine aufgeschlitzt wurde. Stürze oder Verletzungen durch
       Gegenstände oder Fahrzeuge: Nach einem offiziellen katarischen Bericht von
       2012, also vor Baubeginn für die WM, sind 22,8 Prozent der Todesfälle unter
       Arbeitsmigranten auf „äußere Ursachen“ zurückzuführen, vor allem auf
       Unfälle auf Baustellen.
       
       Die kämpferisch gesinnten Inder kritisieren das Kafala-System, verweisen
       aber auch auf die Verantwortung ihrer Unternehmen, zumeist westliche
       Konzerne, die sich oft noch unbarmherziger zeigen als das katarische
       Gesetz. Einer von ihnen berichtet, dass die Baufirma Qatari Diar Vinci
       Corporation (QDVC), ein Tochterunternehmen des französischen
       Vinci-Konzerns, die Pässe ihrer Beschäftigten einkassiert hat und sie erst
       ein halbes Jahr später auf starken Druck hin zurückgab. Dabei war die
       Einbehaltung der Pässe nach katarischem Gesetz zu diesem Zeitpunkt bereits
       verboten.
       
       Im März 2015 reichte die französische Nichtregierungsorganisation Sherpa
       eine Klage gegen QDVC ein; wegen „Zwangsarbeit“ und „Versklavung“. „Das
       Kafala-System schränkt die Bewegungsfreiheit der Arbeiter ein, aber manche
       Unternehmen halten noch nicht einmal die Mindestvorschriften ein“, erklärt
       die Sherpa-Anwältin Marie-Laure Ghislain. „Vinci hätte sicherstellen
       müssen, dass alle seine Beschäftigten, auch diejenigen, die bei
       Subunternehmern angestellt sind, über die gleichen Rechte verfügen, die
       auch im katarischen Gesetz garantiert sind.“
       
       Seit der Klageeinreichung hat sich Vinci bereit erklärt, die
       Wohnbedingungen eines Teils seiner Beschäftigten in Katar zu verbessern.
       Von den 3200 Arbeitern bei QDVC sollen mittlerweile mindestens 2000 in
       Zimmern mit höchstens vier Betten wohnen, wie es das katarische Gesetz
       vorschreibt. Die 4500 Beschäftigten der Subunternehmen hausen nach Angaben
       von Sherpa jedoch weiterhin in miserablen Unterkünften. Zudem soll künftig
       keiner der 7700 Arbeitskräfte bei QDVC mehr als 60 Stunden pro Woche
       arbeiten – die gesetzlich vorgeschriebene Höchststundenzahl. Allerdings
       hatte dies Maßnahme eine Gehaltssenkung von 10 Prozent zur Folge.
       
       ## Privilegierte Ausländer
       
       Das Kafala-System ist nicht für alle ausländischen Arbeitskräfte gleich
       bedrohlich. Leitende Angestellte multinationaler Konzerne, Unternehmer,
       Anwälte oder Verwaltungsfachleute aus anderen Ländern bilden eine kleine
       privilegierte Schicht, die von ihren Arbeitgebern nichts zu befürchten hat.
       
       Der Finanzmanager Andrew M. zum Beispiel würde seinen Posten in Katar für
       nichts in der Welt eintauschen. Der joviale Brite lebt und arbeitet seit
       sieben Jahren in Doha. Er empfängt uns in Bermuda-Shorts und Sandalen im
       Wohnzimmer seiner Villa in West Bay Lagoon, einer Gated Community, in der
       wohlhabende Ausländer und einige Katarer wohnen. An den Garten des Hauses
       schließt sich ein weitläufiger Park an, ein Spielparadies für die Kinder.
       Ein paar Schritte weiter erstreckt sich ein feiner Sandstrand mit Palmen
       und einer herrlichen Sicht auf die Bucht von Doha.
       
       „Das ist der beste Wohnkomplex in ganz Katar“, erläutert unser Gastgeber
       lächelnd. „Diese Villa kostet 7500 Euro Miete im Monat, sie ist 500
       Quadratmeter groß, dazu kommen Garten und Schwimmbad. Für die Katarer ist
       das ein bisschen klein, die wohnen lieber großzügiger, auf 1000 oder 2000
       Quadratmetern.“ Bei einem Monatsgehalt von 30 000 Euro hat der gewandte
       50-Jährige ausgesorgt.
       
       Wie erlebt er das Kafala-System? „Ich habe das Glück, ein Visum zur
       Mehrfachausreise zu besitzen, damit kann ich das Land verlassen, wann immer
       ich will, ohne meinen Arbeitgeber um Erlaubnis fragen zu müssen.“ Dieses
       Privileg genießen nur ein paar tausend Ausländer, meist aus dem Westen. Sie
       stehen unter Schutz der großen Konzerne, bei denen sie angestellt sind. Die
       Ausstellung der Unbedenklichkeitsbescheinigung ist für sie eine reine
       Formsache.
       
       ## Schutz durch Kafala
       
       Teilweise sind aber auch wohlhabende Ausländer von der Willkür des
       Kafala-Systems betroffen – vor allem wenn sie allein und ohne Unterstützung
       einem allmächtigen „Paten“ gegenüberstehen: Said F. verdient als Ingenieur
       beim katarischen Bauunternehmer Midmac 7400 Euro im Monat, ein gutes
       Gehalt. Doch der 40-jährige Libanese lässt kein gutes Haar an dem
       „unmenschlichen“ Kafala-System: „Ich erwarte keine großen Veränderungen.
       Reform hin oder her, meine Bewegungsfreiheit bleibt eingeschränkt.“ Auch
       wenn er nach dem neuen Gesetz keine Unbedenklichkeitsbescheinigung mehr
       bräuchte, da er bereits seit über zehn Jahren in Katar arbeitet, ist der
       Ingenieur sicher, dass seine Vorgesetzten ihn niemals gehen lassen würden.
       Ein anderer Fall ist der ehemalige Profifußballer Zahir Belounis aus
       Frankreich, der fast anderthalb Jahre in Doha festsaß, weil er einem
       Transfer an einen anderen Club widersprochen hatte.
       
       Ahmed al-Rayes, Generaldirektor eines Familienunternehmens, verteidigt das
       Kafala-System mit großer Verve. Er steht an der Spitze eines Konglomerats
       von 37 Firmen mit 1900 Beschäftigten im Wäscherei-, Transport- und
       Logistikbereich und ist einer der wenigen katarischen Arbeitgeber, der sich
       traut, seinen Standpunkt offen darzulegen: „Die Kafala abzuschaffen wäre
       gefährlich. Manche ausländischen Arbeiter könnten Lust bekommen, mich zu
       töten. Die Morde an Katarern und die Diebstähle würden sprunghaft
       ansteigen. Vergessen Sie nicht, dass die Ausländer mehr als 90 Prozent der
       Bevölkerung ausmachen. Kaum ein Katarer will das Kafala-System wirklich
       abschaffen oder reformieren. Nicht weil sie sich als Sklavenhalter
       verstehen, sondern weil sie vorsichtig sind.“ Kein Wunder, dass al-Rayes
       die Zulassung von Gewerkschaften vehement ablehnt: „Wenn ein Angestellter
       ein Problem mit seinem Arbeitgeber hat, dann kann er beim Gericht Klage
       erheben.“
       
       In einem Land, in dem man für jede Kritik am Emir im Gefängnis landen kann,
       ist es schwer, die wahre Meinung der Bürger zu erfahren. Selbst einfache
       Aussagen, die kein negatives Urteil enthalten und in offiziellem
       Zusammenhang fallen, können den Sprecher hinter Gitter bringen. Erst im
       März 2016 wurde ein katarischer Beamter verhaftet, weil er mit einer
       ILO-Delegation „zu viel geredet“ hatte.
       
       „Unser Gesetzgebungsprozess berücksichtigt alle unterschiedlichen
       Standpunkte“, heißt es in einer Erklärung des Regierungssprechers. „Die
       Reform des Kafala-Systems wurde im Ministerrat vorgestellt und am 28. Juni
       2015 der Beratenden Versammlung (Madschlis al-Schura) zur Stellungnahme
       vorgelegt.“ Der Emir trifft die Entscheidung als oberste Instanz – und muss
       er berücksichtigen, dass die Arbeitgeberseite jede Reform einhellig
       ablehnt. Gewichtige Unterstützung erhält sie von der Madschlis al-Schura,
       die sogar vorschlug, das Kafala-System noch zu verschärfen. Nach Meinung
       der Versammlung sollten Arbeitsmigranten, die ihren Arbeitgebern
       „Schwierigkeiten machen“ oder versuchen, das Unternehmen vor Ablauf ihres
       Vertrags zu verlassen, dazu gezwungen werden, mindestens das Doppelte der
       ursprünglichen Vertragslaufzeit für ihre „Paten“ zu arbeiten, bevor sie den
       Arbeitgeber wechseln dürften.
       
       ## Gute Absichten vorgetäuscht
       
       Im November 2015 beschloss der ILO-Verwaltungsrat, eine „hochrangige
       Delegation“ nach Katar zu schicken, um den Druck auf die Regierung zu
       erhöhen. Dieser Beschluss fiel, nachdem der IGB eine Klage wegen
       Zwangsarbeit eingereicht hatte. Es ist das erste Mal seit 2001, dass sich
       der Verwaltungsrat der ILO mehrheitlich zur Entsendung einer
       Kontrollmission in ein Land entscheidet, das unter Verdacht steht,
       internationale Arbeitsstandards zu missachten. „Die ILO hat sich nicht
       irreführen lassen vom Manöver der katarischen Regierung, ein paar Tage vor
       der Abstimmung eine Minireform zu verabschieden, um gute Absichten
       vorzutäuschen und gleichzeitig die rückschrittlichsten Prinzipien des
       Kafala-Systems beizubehalten“, erläutert Bernard Thibault, ehemaliger
       Generalsekretär der französischen Gewerkschaft CGT und Mitglied im
       ILO-Verwaltungsrat.
       
       Vom 1. bis 5. März 2016 wurde eine „Drei-Parteien-Delegation“ der ILO mit
       Vertretern der drei Gruppen im Verwaltungsrat (Staaten, Arbeitgeber und
       Arbeitnehmer) von den höchsten Amtsträgern Katars empfangen, jedoch nicht
       vom Emir selbst. Nur drei Tage bevor die Delegation die Baustelle der neuen
       Metro in Doha besuchte, war Juanito Pardillo, ein philippinischer Arbeiter
       der Firma Qatar Rail, auf einer Tunnelbaustelle gestorben.
       
       „Der Bericht der Delegation belegte – falls es dafür noch eines Beweises
       bedurft hätte –, dass die sogenannte Reform die Situation der Beschäftigten
       nicht verbessert hat“, sagt Thibault. „Die Vermittlungsgebühr wird immer
       noch von den Arbeitsmigranten selbst bezahlt, und die Verträge, die sie in
       ihrem Heimatland unterschreiben, haben nichts mit ihren tatsächlichen Jobs
       in Katar zu tun. Die Aufsichtsbehörde hat zwar mehr Mittel zur Verfügung,
       aber die 365 Arbeitsinspektoren, die für 2 Millionen Arbeitnehmer zuständig
       sind, verfügen lediglich über zehn Übersetzer – dabei spricht die
       überwiegende Mehrheit der Ausländer kein Arabisch.“
       
       Die Macht der ILO hat natürlich Grenzen; ihre Empfehlungen und
       Stellungnahmen sind nicht bindend, und keine Regierung kann dazu gezwungen
       werden, die Arbeits- und Sozialstandards der ILO umzusetzen. Es gibt jedoch
       nur wenige Regierungen, denen die Meinung dieser UN-Sonderorganisation
       völlig gleichgültig ist. Katar ist da keine Ausnahme: Das Emirat entsandte
       20 Regierungsvertreter zur Sitzung des ILO-Verwaltungsrats am 17. März, um
       möglichst viele seiner Mitglieder davon zu überzeugen, dass das Verfahren
       gegen Katar einzustellen sei. Schließlich kam der Golfstaat mit einer
       Fristverlängerung um ein Jahr davon, um das Gesetzesvorhaben zum Schutz der
       Arbeitsmigranten endlich umzusetzen.
       
       Am 22. April 2016 verkündete der neue Fifa-Präsident Gianni Infantino die
       Einrichtung eines „Aufsichtsgremiums zur Kontrolle der Behörden vor Ort, um
       ordnungsgemäße Arbeitsbedingungen auf den Baustellen für die WM-Stadien
       sicherzustellen“. Ob dieser Vorstoß und die Androhung einer
       Untersuchungskommission ausreichen werden, um die Arbeitsbedingungen in
       Katar zu verbessern, ist jedoch fraglich. Denn das Emirat ist nicht nur
       unermesslich reich, es besitzt auch mächtige westliche Verbündete, die auf
       fossile Treibstoffe angewiesen sind und für lukrative Vertragsabschlüsse zu
       vielem bereit sind.
       
       Aus dem Französischen von Sabine Jainski
       
       9 Jun 2016
       
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   DIR [1] http://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/qatar_de_web-2.pdf
       
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   DIR David Garcia
       
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