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       # taz.de -- Prozessauftakt in Hamburg: IS-Abtrünniger sagt umfassend aus
       
       > Angesichts von Doppelmoral und Brutalität verliert ein 27-jähriger
       > IS-Anhänger aus Bremen seinen Glauben an die Terrormiliz und flieht
       > zurück nach Deutschland.
       
   IMG Bild: Sagt vor dem Oberlandesgericht in Hamburg umfassend aus: früheres IS-Mitglied Harry S.
       
       Hamburg taz | Er ist ein guter Erzähler. Mit der Art, wie Harry S. gestern
       vor dem Oberlandesgericht in Hamburg von seinem Weg in den Islamismus,
       seiner Ausreise nach Syrien und schließlich von seinem Bruch mit der
       Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) berichtete, zog er alle in seinen
       Bann. Sachlich schilderte er seine Erfahrungen in Syrien und Irak.
       
       Die Bundesanwaltschaft wirft dem 27-jährigen Bremer die Mitgliedschaft in
       einer ausländischen terroristischen Vereinigung sowie Verstöße gegen das
       Kriegswaffenkontroll- und das Waffengesetz vor. Bevor er mit seinen
       Ausführungen begann, gestand S. und bestätigte die Richtigkeit der Anklage.
       
       Der in Bremen geborene S., dessen Eltern aus Ghana stammen, wuchs im armen
       Stadtteil Osterholz-Tenever in schwierigen Verhältnissen auf. Er
       radikalisiert sich nach eigenen Angaben, als er wegen eines
       Supermarkt-Überfalls und nicht erfüllter Bewährungsauflagen ins Gefängnis
       muss. Dort lernt er René Marc S., einen deutsch-malaysischen Salafisten,
       kennen, den Harry S. als beeindruckend und theologisch gebildet beschreibt.
       Nach seiner Haftentlassung verkehrt er regelmäßig in einer Moschee in
       Bremen-Gröpelingen, die zu, „Kultur- und Familienverein“ gehört. 2014 wurde
       der Verein vom Bremer Innensenator Ulrich Mäurer verboten.
       
       Im April 2015 habe er sich entschlossen, für den IS nach Syrien
       auszureisen, um sich dort militärisch ausbilden zu lassen. Er schloss sich
       einer Spezialeinheit an, die dazu da ist, Städte wie Palmyra und Kobane zu
       erobern. Männer vom IS-Geheimdienst versuchten ihn für Anschläge in Europa
       zu gewinnen. Als Deutscher, der ein paar Jahre in England gelebt hat, sei
       er für den IS doppelt interessant gewesen, sagte er gestern. Sie hätten ihm
       gesagt, dass sie Aktionen in Europa bräuchten. „Franzosen, die bereit sind
       zu sterben, haben wir mehr als genug“, hätten sie ihm gesagt. Doch er
       lehnte ab.
       
       Nach zwei Monaten habe er aus gesundheitlichen Gründen und wegen erster
       Zweifel seine Ausbildung im IS-Camp abgebrochen. Bereits auf der Suche nach
       einer anderen, zivilen Aufgabe innerhalb des IS wurde er zusammen mit
       anderen Deutschen für ein deutschsprachiges Propagandavideo eingespannt, in
       dem sieben Leute hingerichtet wurden. Er habe es aber abgelehnt, selbst zu
       schießen, sagt er, und habe beim Dreh nur die Flagge gehalten.
       
       Das macht juristisch einen Unterschied – der Vorsitzende Richter fragte
       besonders genau nach. Ob es ihn überrascht habe, dass er Hinrichtungen
       erlebt habe. Es sei die Doppelmoral, die ihn entsetzt habe, antwortete er.
       So habe etwa ein Gefangener kurz vor der Hinrichtung gesagt, dass er,
       anders als vom IS behauptet, gar nicht zu Assad gehöre, sondern selbst
       Sunnite sei, erklärte S. gestern.
       
       Nur wenige Wochen später sei ihm die Flucht aus dem IS-Gebiet in die Türkei
       gelungen. Zurück in Deutschland wurde Harry S. im Juli 2015 am Bremer
       Flughafen festgenommen und seither sitzt er in Untersuchungshaft. Vor
       Gericht beteuert er seinen Sinneswandel. Bei den Anschlägen von Paris habe
       er einen der Drahtzieher wiedererkannt. Auch für seine Frau und seine
       Mutter geht er einen anderen Weg: Harry S. hat sich entschlossen mit den
       deutschen Behörden zu kooperieren.
       
       Das Urteil wird erst Mitte Juli erwartet.
       
       22 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lena Kaiser
       
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