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       # taz.de -- Medienwissenschaftler über Talkshows: „Planwirtschaftliches Fernsehen“
       
       > Der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister über die Gegenwart der
       > deutschen Talkshow und warum das Format gefährlich ist.
       
   IMG Bild: Legendär: In Dietmar Schönherrs Talkshow „Je später der Abend“ kamen sich 1974 Romy Schneider und Burkhard Driest (li.) näher
       
       taz.am wochenende: Herr Hachmeister, haben Sie eine Lieblingstalkshow? 
       
       Lutz Hachmeister: „Playboy after Dark“, mit Hugh Hefner, aber das war Ende
       der 1960er Jahre. In Deutschland hat sich das Genre für mich überlebt, da
       gibt es kaum neue Entwicklungen. Ich sehe mir aber gern Talkshows in
       Italien oder Frankreich an, um Einblicke in die Mentalität dieser Länder zu
       bekommen.
       
       Was ist dort besonders? 
       
       Die französische Talkshow bietet eine Art intellektueller Folklore. Da
       sitzt eine Chansonsängerin neben dem Politiker und einem Philosophen. In
       Italien ist der Talk sehr schrill. Dieses Format gibt schon Einblicke in
       den kulturellen Haushalt einer Nation.
       
       Können Sie von den deutschen Talkshows auf die Gesellschaft schließen? 
       
       Das Format ist ja eigentlich unendlich. Wir reden von einer Talkshow, wenn
       mehr als zwei Leute beim Miteinanderreden gefilmt werden. Bei uns dominiert
       heute die pseudopolitische Talkshow, vor allem in der ARD. Und es gibt
       ältere Formate, die noch in den Dritten Programmen laufen, die stärker
       biografisch angelegt, aber auch stark auf die Promotion von Platten und
       Büchern gerichtet sind …
       
       … also „Riverboat“, „3nach9“? 
       
       Genau. Diese Variante ist ungefährlich und unspektakulär, da ist jede
       Kulturkritik fehl am Platz. Sie hat amüsante Momente.
       
       Was verrät sie über unsere Gesellschaft? 
       
       Sie zeigt eine Diskursentwicklung. Die Talkshow wurde, als sie aus dem
       angloamerikanischen Bereich importiert wurde, in Deutschland und Österreich
       auch benutzt, um über damalige Aufregerthemen, sagen wir: Homosexualität,
       Gleichberechtigung, zu reden, über die man vorher nicht vor einem
       Mainstream-Publikum redete. Aber das war eingebettet in eine andere
       gesellschaftliche Situation. Da war mehr Aufbruch, weil es mehr Tabus gab,
       und dadurch gab es interessantere Gespräche. Die Gesellschaft ist liberaler
       geworden, vielleicht mit Hilfe dieser Sendungen. Insofern ist das
       interessantere und gefährliche Format heute das der politischen Talkshow.
       
       Inwiefern gefährlich? 
       
       In den Vereinigten Staaten haben Talkshows, etwa bei Fox News, den
       politischen Diskurs nachhaltig verändert. Da dienen Talkshows direkt der
       medialen Radikalisierung von Standpunkten und der Bestätigung von
       Vorurteilen. Nun haben die USA eine ganz andere populistische Kultur, aber
       wir sehen, wohin das führen kann. Der Talkshow-Overkill im
       öffentlich-rechtlichen Fernsehen hat die AfD aufgewertet. Die AfD ist kein
       mediales Phänomen, es gibt allerdings einen Verstärker- oder
       Spotlighteffekt. Man hat in diesen Talkshows den Eindruck, es gibt
       eigentlich zwei Parteien, den bürgerlichen Mainstream und die widerständige
       AfD.
       
       Das heißt, die AfD rückt dort von einer Neben- in eine Protagonistenrolle. 
       
       Und das liegt daran, dass zwischen den vielen politischen Talkshows eine
       ungesunde Konkurrenz herrscht. Sie sind darauf angewiesen, die Temperatur
       der Themen und die Pseudokonfrontation zu erhöhen, um gegen die anderen
       Sendungen zu bestehen. Es gibt eine Beobachtung des österreichischen
       Philosophen Robert Pfaller, die mir zuzutreffen scheint. Er sagte, in
       früheren Talkshows seien Menschen mit interessanten Biografien miteinander
       ins Gespräch gebracht worden, während es heute One-trick-ponys sind. Die
       Leute werden gecastet für die Dramaturgie der Sendung. Ein politischer
       Diskurs wird nur simuliert, da werden die Rollen besetzt wie im Theater.
       Selbst die eingeladene Putzfrau darf nur in ihrer Rolle als sozial
       Benachteiligte sprechen. Und wer wirklich mächtig ist, geht nicht in eine
       Talkshow, sondern besteht allenfalls auf einem Einzelgespräch.
       
       In der ARD gab es einmal fünf Talkshows, nun nur noch drei. Ist die
       Konkurrenz noch so stark? 
       
       Es gibt Maybrit Illner im ZDF, alles Mögliche auf Phoenix oder n-tv.
       Irgendwo läuft fast jeden Tag eine. Da findet im Hegel’schen Sinne ein
       Umschlag von Quantität in negative Qualität statt.
       
       Warum gibt es so viele? 
       
       Weil es planwirtschaftliches Fernsehen ist. Man kann ungefähr die Quote
       absehen. Es ist im Vergleich zu anstrengenden Recherchen billig. Und es
       schafft eine strukturelle Regelmäßigkeit, die den Programmmanagern gefällt.
       Risikovermeidung ist das Lebenselexier technokratischer Programmplanung.
       
       Das Porträt eines Mannes, der bei 800 Talkshows im Publikum saß, lesen Sie
       in der taz.am wochenende [1][vom 18./19. Juni 2016.]
       
       17 Jun 2016
       
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