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       # taz.de -- Die Wahrheit: Dschingis Krans Gebet
       
       > Das Wahrheit-Märchen: Wie der Berliner Flughafen durch ein Wunder von
       > oben eines Tages doch noch fertiggestellt wurde.
       
   IMG Bild: Ballett der Bagger: Selbstreflektion im Diskurs fördert auch bei Baumaschinen das geistige Potenzial
       
       Kurz vor Arbeitsbeginn schien die Welt untergehen zu wollen. Dunkle Wolken
       hingen über der Großbaustelle, es blitzte und donnerte. Dabei prasselten
       dicke Hagelkörner auf den Bauplatz und seine Bewohner herab. Der Himmel
       spielte ein gemeines Spiel mit denen da unten, wenige Tage vor der
       geplanten Fertigstellung.
       
       „Wenn es mit dem Shitwetter so weitergeht, schaffen wir das nie“, schimpfte
       Bodo, der Bagger.
       
       Bodo wollte eigentlich nie auf einer Baustelle arbeiten, viel lieber wäre
       er Profischwimmer im russischen Olympiateam geworden. Doch er wusste, dass
       er auch mit Doping nicht weit gekommen wäre, denn er hatte nur einen Arm.
       Die anderen erzählten gern Witze über ihn wie: „Was ist gelb, hat einen Arm
       und kann nicht schwimmen? – Bodo!“
       
       Immer wenn es regnete, war er doppelt traurig. Er würde nie ein echter
       Schwimmbagger werden. Überhaupt wirkte die ganze Baustelle an diesem Morgen
       sehr betreten, obwohl jemand ein „Betreten verboten“-Schild aufgestellt
       hatte. „Dämm it“, schimpfte eine Packung Dämmstoff. „Tragisch“, jammerte
       ein Gerüst.
       
       ## Betonmischer mit Fug und Recht
       
       „Hat jemand eine rettende Idee?“, fragte der Erstehilfekasten. „Wir
       brauchen einen Plan“, ergänzte der Betonmischer verzweifelt. Er war kurz
       vorm Durchdrehen. Nur einer blieb ruhig – der Fugendichter. Der lag einfach
       da und dichtete ein paar Zeilen: „Ich spritze, / in jede Ritze. / Und ob
       du’s glaubst oder nicht, / danach sind alle Ritzen dicht.“ So schlicht
       diese Ritzitation auch klang, nur er konnte ebendies mit Fug und Recht
       behaupten.
       
       „Seien wir ehrlich, meine Herren, die momentane Situation ist äußerst
       beschissen“, warf das Dixi-Klo ein. Während der Wind die WC-Tür immer
       wieder heftig auf- und zuschlug, fuhr Dixi fort. „Nur etwas
       Außergewöhnliches, etwas Übernatürliches kann uns jetzt noch helfen.“
       
       „Pfff“, sagte der Kompressor ungläubig. „Und das wäre?“ – „Alles Gute kommt
       von oben“, rief in diesem Moment Dschingis Kran und machte eine elegante
       Drehbewegung. An ihm war ein Balletttänzer verlorengegangen. Viele hielten
       ihn indes für einen Hochstapler, doch er hatte den Überblick.
       
       „Dschingis Kran hat recht“, sagte Dixi. „Alles Gute kommt von oben. Und
       genau aus diesem Grund müssen wir den Gott der Baustelle anrufen und um
       Hilfe bitten.“ Die Baustellenbewohner blickten irritiert in Dixis Richtung.
       „Den Eiligen Vater?“, bohrte der Bosch-Schlagbohrer nach.
       
       Dixi nickte. „Der Eilige Vater, der Gott der Fertigstellung.“ – „Dadadann,
       lalalasst es uns tututun“, stotterte das Dieselaggregat.
       
       ## Geheime Rituale der Baumaschinen
       
       Umgehend machten sich alle ans Werk und das Ritual begann. Die Baustelle
       wurde zum Messe-Bau und die Kreissäge begann damit, an einem Stahlrohr
       Funken zu schlagen. Der Presslufthammer stampfte dazu einen tiefen,
       monotonen Rhythmus. Die Götter-Dämmerung beziehungsweise Götter-Dämmung
       hatte begonnen. Gemeinsam beteten die Maschinen, die Werkzeuge und die
       Baustoffe das „Baustellen Unser“, das Fundament ihres fast vergessenen
       Glaubens:
       
       „Großbaustelle unsere im Himmel, / Geheiligt werde dein Kostenrahmen. /
       Deine Fertigstellung komme, / Deine Einweihungsfeier geschehe, / Wie unter
       der Erde, so auch darüber. / Unseren täglichen Baufortschritt gib uns
       heute. / Und vergib uns unseren Lärm, / wie auch wir vergeben denen, die
       hier und dort gepfuscht haben. / Und führe uns nicht in Versuchung, /
       sondern erlöse uns von der Verzögerung. / Denn dein ist die Fertigstellung.
       / In all ihrer Herrlichkeit in Ewigkeit / Amen.“
       
       ## Baustellengott legt Gipsplatten auf
       
       Neugierig und ängstlich blickten alle Beteiligten gen Himmel. Wie aus dem
       Nichts stoppte der Hagel, und die dunklen Wolken verschwanden. Der
       Baustellengott hatte sie tatsächlich erhört. Zur Feier des Tages legte
       jemand eine Gipsplatte auf und machte Musik – ein Stück von den Gipsy
       Kings erklang. Endlich war der neue Flughafen in Berlin das, was er schon
       so lange hätte sein sollen – fertig.
       
       Klingt wie ein Lügenmärchen? Stimmt! Deshalb endet diese Geschichte wie
       jedes gute Märchen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann bauen sie noch
       heute . . .
       
       28 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sven Stickling
       
       ## TAGS
       
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