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       # taz.de -- Deutschland als Einwanderungsland: Nicht jeder ist erwünscht
       
       > Nur eine Minderheit hegt ein völkisches Verständnis von „Deutschsein“.
       > Einwanderer gehören dazu. Aber Muslime fühlen sich oft ausgeschlossen.
       
   IMG Bild: Repräsentanten einer „leistungsorientierten Einwanderungsgesellschaft“
       
       Berlin taz Die Staatsministerin bemühte zur Einleitung ein Nietzsche-Zitat:
       „Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ,Was ist deutsch?'
       niemals ausstirbt.“ Dieser Frage widmete sich auch eine Konferenz, zu der
       die Integrationsbeauftragte, Aydan Özoğuz, am Dienstag ins Bundeskanzleramt
       eingeladen hatte. Zwei Studien wurden dabei vorgestellt, die das deutsche
       Selbstverständnis im Jahr 2016 spiegeln.
       
       Eine Mehrheit der Menschen in Deutschland definiert „Deutschsein“ demnach
       nicht mehr über die Abstammung, sondern über die Beherrschung der deutschen
       Sprache oder den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Einen
       Arbeitsplatz halten ebenfalls viele für wichtig, um zur deutschen
       Gesellschaft dazuzugehören. Nur eine Minderheit hält es dagegen für
       ausschlaggebend, deutsche Vorfahren zu haben oder in Deutschland geboren zu
       sein. Dabei weichen die Ansichten von Befragten mit und ohne
       Migrationshintergrund nicht stark voneinander ab. Staatsministerin Özoğuz
       sieht darin eine Abkehr von einem völkischen Verständnis des
       „Deutschseins“, wie es AfD-Politiker wie Björn Höcke propagieren. Und
       Cornelia Schu vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen Integration und
       Migration (SVR) wertete die Ergebnisse als deutliches Zeichen, dass
       Deutschland „in einer leistungsorientierten Einwanderungsgesellschaft
       angekommen“ sei.
       
       Auch in den Vorstellungen, die sie mit Deutschland verbinden, ähneln sich
       Einwanderer und Alteingesessene. Viele verbinden es mit Sekundärtugenden
       wie Pflichtbewusstsein und Strebsamkeit, aber auch mit Demokratie und dem
       Bild einer Solidargemeinschaft. Das geht aus der Studie „Deutschland
       postmigrantisch“ des Berliner Instituts für Migrationsforschung (BIM)
       hervor. Bei den prägenden historischen Ereignissen denken die meisten an
       den Mauerfall und die Wiedervereinigung, Menschen ohne
       Migrationshintergrund (53,5 Prozent) häufiger als solche mit (28,8
       Prozent). Der Zweite Weltkrieg und die Nazizeit sind für Migranten (24,4
       Prozent) dagegen zentraler als für Deutsche ohne Migrationshintergrund.
       „Trotz aller bestehenden kulturellen oder religiösen Unterschiede gibt es
       eine gemeinsame gelebte deutsche Identität“, folgert die
       Integrationsbeauftragte Özoğuz daraus.
       
       Die Studien zeigen auch, dass das Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland
       insgesamt stark ausgeprägt ist, sowohl bei Alteingesessenen (87 Prozent)
       als auch bei Zuwanderern und deren Nachkommen (92,3 Prozent). Mehr als vier
       von fünf Menschen in Deutschland sagen sogar von sich: „Ich liebe
       Deutschland“ (82,4 Prozent mit und 85, 6 Prozent ohne
       Migrationshintergrund). Und mehr als jeder Zweite mit Migrationshintergrund
       sagt, er fühle sich „positiv berührt“, wenn er die deutsche Nationalhymne
       höre. „Umso bitterer ist es für die Betroffenen, wenn ihnen das Deutschsein
       aufgrund ihres Namens oder Aussehens trotzdem immer wieder abgesprochen
       wird“, schränkt Özoğuz ein. Denn es zeigen sich deutliche Unterschiede,
       wenn man verschiedene Herkunftsgruppen einzeln betrachtet.
       
       ## „Sippenhaft für Erdogan?“
       
       Am geringsten ausgeprägt ist das Zugehörigkeitsgefühl bei Zuwanderern aus
       der Türkei, mehr als ein Viertel von ihnen fühlt sich „eher nicht“ oder
       „gar nicht“ zugehörig. Auffällig ist auch, dass 59 Prozent der
       türkeistämmigen Muslime der Ansicht sind, Menschen ihrer Herkunft würden
       aus Deutschland ausgeschlossen. Bei Zuwanderern insgesamt sagen das nur 36
       Prozent. Die Forscherinnen führen das auf Ausgrenzungserfahrungen und
       rechtliche Benachteiligungen zurück – etwa bei der doppelten
       Staatsbürgerschaft, die vielen Einwanderern erlaubt, aber unter anderem
       Deutschtürken als größter Gruppe verwehrt werde. Auch müsse man aufpassen,
       die Deutschtürken nicht „für Erdogan in Sippenhaft“ zu nehmen, wie es eine
       von den Forscherinnen formulierte.
       
       Immerhin 39 Prozent aller alteingesessenen Deutschen findet, Frauen müssten
       aufs Kopftuch verzichten, um als Deutsche gelten zu dürfen. Bei den
       Befragten mit Migrationshintergrund stimmten auch noch 32,2 Prozent dieser
       Aussage zu. Noch mehr Menschen meinen, man müsse dafür Deutsch ohne
       ausländischen Akzent sprechen können .- das denken 39,1 Prozent der
       Menschen in Deutschland ohne und sogar 48 Prozent mit
       Migrationshintergrund. Den christlichen Glauben halten dagegen etwas mehr
       als ein Viertel der Deutschen ohne Migrationshintergrund für wichtig, um
       zur deutschen Gesellschaft dazu zu gehören – bei den Menschen mit
       Migrationshintergrund finden sogar 40,5 Prozent, das nur ein Christ ein
       richtiger Deutscher sein könne!
       
       Özoğuz plädierte für ein „erweitertes Integrationsverständnis“, das sich
       nicht nur an Zuwanderer, sondern auch an die Alteingesessenen richte. Dabei
       hat sie jene im Blick, die mit Migranten und Muslimen fremdeln, wie die
       Demonstranten in Dresden, oder die Muslimen sogar gleiche Rechte versagen
       wollen, wie es die AfD macht.
       
       Auf einem gemeinsamen Empfang mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier
       (SPD) in der Villa Borsig, dem Gästehaus des Auswärtigen Amtes in Berlin,
       warnte Özoğuz am Abend davor, Muslime zu Sündenböcken zu stempeln. In
       vielen Debatten würden „soziale Probleme regelrecht islamisiert“, sagte sie
       bei dem Empfang der beiden Minister zum Fastenmonat Ramadan. Aber wenn
       Menschen aufgrund ihrer Religion stigmatisiert und ausgegrenzt würden, sei
       das Verrat an den Grundwerten und „brandgefährlich“.
       
       29 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Bax
       
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