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       # taz.de -- Debatte Europa nach dem Brexit: Die Alten machen uns fertig
       
       > Das Friedensprojekt Europa wird verzockt, als ginge es um nichts.
       > Demokratie ist aber nicht das Aufpeitschen der Massen in schwierigen
       > Zeiten.
       
   IMG Bild: Wo ist eigentlich die Jugend dieses Kontinents? Sie fehlt nicht nur demografisch – auch als Haltung
       
       Im britischen Guardian stand, wenige Tage nach dem Brexit, zu Recht: In die
       Tonne mit all den Umfragen! Um die Welt zu verstehen, muss man wieder
       rausgehen, die Menschen befragen. Hätte es wirklich geholfen?
       
       Europa zersetzt sich, als hätte es Sehnsucht nach der eigenen
       Bedeutungslosigkeit. Statt gemeinsam nach vielschichtigen Antworten auf die
       Fragen unserer Zeit zu suchen, meint Großbritannien, die Fragen werden
       dadurch lösbar, dass die Grenze ums Königreich wieder etwas dicker wird.
       Die nationalistische Internationale steht schon, Hand in Hand, bereit und
       jeder träumt von seinem Exit. Immerhin das haben sie gemeinsam.
       
       Ein Freund aus London schrieb mir: I feel sick to the stomach. Die Alten
       machen uns fertig. Der Brexit hat seine Unterstützer vor allem bei den über
       60-Jährigen gefunden. Als wäre ihnen egal, was aus uns wird, vielleicht ist
       es eine seltsame Rache dafür, dass die junge Generation kaum noch Enkel
       zeugte.
       
       Das hier ist der erste Schritt eines langwierigen Abschieds. Europa ist zu
       einem Kontinent geworden, in dem jeder mittelmäßige Politiker dieses
       historische Friedensprojekt verzocken kann, als ginge es um nichts. Er kann
       sich dann, wenn er das Schicksal von Millionen Menschen verändert hat, in
       aller Ruhe vor die Mikrofone stellen und behaupten: Das ist eben
       Demokratie.
       
       Demokratie ist aber nicht das Aufpeitschen der Massen in schwierigen
       Zeiten. Demokratie ist kein Debattierklub for the sake of debate.
       Demokratie beginnt im Krankenhaus, bei der Qualität der Gesundheitssysteme,
       geht weiter bei bezahlbaren Wohnungen. Und setzt sich fort im Recht auf
       gute Bildung und Chancengerechtigkeit. Demokratie endet nicht bei einer
       vielfältigen Presselandschaft, aber diese ist die Grundlage für eine
       kritische Öffentlichkeit.
       
       ## Es regiert der maximale Profit
       
       All diese Bereiche sind derzeit dem Diktat der Wirtschaftlichkeit
       untergeordnet, Kultur eingeschlossen. Nicht nur Wirtschaftlichkeit regiert,
       sondern der maximale Profit. Wo öffentliche Räume dem Bürger nicht mehr als
       Räume des Gemeinwesens zustehen, ist so ein Referendum nichts weiter als
       ein Schaulaufen der Demokratie. Die Demokratie läuft Gefahr, ihre eigenen
       Werte auszuhebeln, weil keiner mehr Zeit und Mittel hat, zu reflektieren,
       was er verliert.
       
       Ich habe mir vor dem Referendum ein paar Talks im englischen Fernsehen
       angesehen. Vielleicht bin ich ja auf den Kopf gefallen, aber: Beim
       Schlagabtausch zwischen dem amtierenden Londoner Bürgermeister Khan und
       seinem Vorgänger Johnson, zum Beispiel, redete jeder so feingeschliffen, so
       logisch deduzierend. Der eine argumentierte und endete bei der künftigen
       Armut, der andere beim Wohlstand. Beide hatten ihre Zahlen so selbstsicher
       parat, dass in mir ein tiefes Misstrauen gegen das Argument im medialen
       Zeitalter aufkam.
       
       In Zeiten, in denen die Zusammenhänge so komplex sind, dass gewinnt, wer
       die beste Geschichte erzählen, die Welt am schlüssigsten reduzieren kann,
       ist Demokratie ein Vollzeitjob der Informationsbeschaffung geworden, den
       sich kaum noch einer leisten kann. In diesem Sinn ist der Versuch, die
       eigenen Probleme wieder nur innerhalb der eigenen Grenzen lösen zu müssen,
       ein eher demütiger Moment der Menschheit. Er kommt nur in einer Zeit, in
       der die Welt so verwoben ist, dass es bedeutet: Ihr stehlt euch aus der
       Verantwortung. Ihr macht Europa zu einem zahnlosen Kontinent im
       Zusammenspiel der globalen Kräfte.
       
       Aber ein Europa ohne Verantwortung gibt es nicht. Europa wurde aus einer
       Schuld heraus geboren. Befreit hat es sich nur durch die Verantwortung für
       das kalt organisierte, buchhalterische Töten von Millionen Menschen. Gegen
       dieses Alte Europa sollte das Neue Europa erwachsen, ein Bollwerk der
       Menschenrechte und des Wohlstands. Jetzt, wo es wieder darum geht, die
       Würde des Menschen universell gelten zu lassen, erklärt sich dieses Europa
       erneut für höherwertig. Es erklärt sich nur für die eigenen Interessen
       verantwortlich. Nicht einmal mehr innerhalb Europas soll noch geteilt
       werden.
       
       Ich gebe zu, ich verstehe den Laden auch nicht mehr. Er macht auf direkte
       Demokratie und zersetzt demokratische Kultur. Wo Politik den Bürger als
       Demos nicht mehr in den Mittelpunkt ihres Denkens stellt, sondern die
       Wirtschaftlichkeit, ist das Plebiszit nichts anderes als russisches
       Roulette. Demokratie ist nicht das Ventil für die Unzufriedenheit eines
       jeden Bürgers und die Inkompetenz der Politiker. Europa, das war ein
       Versprechen von Zusammenhalt, Offenheit. Und, so banal es klingt, das
       Versprechen einer besseren Welt.
       
       ## Stärke und Rechtsstaat
       
       Es ist nie der Plan gewesen, wie jetzt manche Intellektuelle behaupten, die
       Nationen hinfällig zu machen. Europa war nie das viel beschworene Europe of
       Regions; im Gegenteil, viele gestärkte Regionen wollen sich erst recht als
       Nationalstaaten verstehen, wie Schottland oder Katalonien. Europa war ein
       supranationales Projekt, aber kein transnationales, wie so gern behauptet
       wird. Die Stärke und Rechtsstaatlichkeit der einzelnen Nationalstaaten war
       die Voraussetzung für die Übertragung von Kompetenzen auf EU-Ebene.
       
       Deshalb machten uns die schwarzen Schafe zu schaffen. Deshalb wusste Europa
       nicht weiter, wenn einer die Grenzen öffnete und der andere sie schloss. Es
       muss eine Grundeinigkeit herrschen, eine Grundstruktur, der sich alle
       anschließen können, um diese einer übergeordneten Organisation zu
       übergeben.
       
       Brexit heißt, die Briten sind draußen. Der Kater danach wirkt, als wäre das
       Ganze nur ein Fußballspiel gewesen, als hätten die Akteure gedacht, man
       gewinnt das Spiel, dann kommt der Pokal und Schluss. Doch Nigel Farage
       revidiert schon am ersten Tag die Wahlversprechen, die er gegeben hat. Und
       Boris Johnson will so austreten, dass er auch gleich hätte bleiben können.
       
       Wo ist eigentlich die Jugend dieses Kontinents? Sie fehlt nicht nur
       demografisch, sie fehlt auch als Haltung. Als Kraft. Als Widerstand. Es
       gibt zwar Widerstand: Gegen Demokratie. Gegen Freiheit. Gegen Europa. Nur
       jung oder zukunftsträchtig ist das nicht.
       
       28 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jagoda Marinić
       
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