URI: 
       # taz.de -- Zeichen gelungener Integration: „Moscheen müssen sichtbar sein“
       
       > Der Hamburger Architekt Joachim Reinig plädiert dafür, nicht mehr
       > genutzte Kirchen abzureißen und auf den freiwerdenden Grundstücken
       > Moscheen zu errichten.
       
   IMG Bild: Sieht Muslime in Hamburg in eine Nischenlage gedrängt: Architekt und Michel-Sanierer Joachim Reinig.
       
       taz: Herr Reinig, warum machen Sie sich als fortschrittlicher Zeitgenosse
       für Moscheen stark – und nicht für säkulare Orte? 
       
       Joachim Reinig: Säkulare Orte sind ja unumstritten, klassischerweise die
       Museen als Orte der Selbstreflexion. Ich habe mich vor einigen Jahren stark
       gemacht für die Gründung eines Einwanderermuseums in Hamburg. Auf der
       Veddel gibt es schon ein Auswanderermuseum, aber die Geschichte der
       Einwanderer, der „Gastarbeiter“ muss jetzt dokumentiert werden, solange sie
       noch leben.
       
       Was ist daraus geworden? 
       
       Es gab viele Unterstützer, aber die Kulturbehörde hat die Initiative leider
       nicht mitgetragen.
       
       Und warum nun Moscheen? 
       
       Man sollte den Glauben nutzen und ihn für Integration aktivieren. Als
       jemand, der viele Kirchen saniert, glaube ich, dass das für die
       Gesellschaft wichtige Orte sind: Damit das Leben nicht nur vom Geld und der
       Arbeit bestimmt wird. Die Kirche schafft einen Bruch im Alltag, man kommt
       zur Ruhe, kann sich seiner selbst erinnern und reflektieren. Das ist die
       Aufgabe von Religion und in dieser Hinsicht ähnelt sie derer des Museums.
       
       Sind Sie religiös? 
       
       Ich bin getauft, konfirmiert und war zehn Jahre lang in einem Sufi-Orden.
       Ich kenne also mystische Wege der Religion und habe dabei viel gelernt. Mir
       ist aber bewusst geworden, dass die Aufklärung unsere europäische Kultur
       ist: Das ist das Wesentliche, was uns hier auszeichnet.
       
       Widerspricht es dem Geist der Aufklärung, sich für mehr religiöse Orte
       einzusetzen? 
       
       Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Ich glaube, in dieser
       durchorganisierten Gesellschaft, in der wir heute leben, in der viele Leute
       hart um ihre Existenz kämpfen müssen, ist es wichtig, dass Kirchen,
       Moscheen und Synagogen zeigen: Ihr werdet angenommen, auch ohne etwas zu
       leisten – als Menschen, so wie ihr seid.
       
       Ihr Engagement für den Moschee-Bau ist also durchaus ein Statement? 
       
       Was ich gelernt habe, ist, dass wir Moscheen brauchen, weil sie Zugang
       haben – zu Familien, aber auch zu vielen Jugendlichen, die durchaus hier
       und da Probleme machen, weil sie Probleme haben. Die Moscheegemeinden
       leisten eine aktive Integrationsarbeit für Menschen, die die staatlichen
       Stellen nicht erreichen. Insofern sind Moscheen ein positiver Faktor für
       die Integration von Migranten, auch für die, die jetzt als Flüchtlinge
       dazukommen.
       
       Ist das wirklich Integration oder eher ein Versuch, die angestammte Art der
       Lebensführung fortleben zu lassen? 
       
       Meine Grundthese ist, dass das Entstehen von Moscheen ein Zeichen der
       Integration ist – und nicht der Segregation. Eine Integration in der Fremde
       ist dann möglich, wenn man um seine Herkunftskultur und Familiengeschichte
       keine Angst zu haben braucht. Daraus leite ich als Architekt und
       Stadtplaner ab, dass die Moscheen sichtbar sein müssen. Das sichtbare
       Minarett in einer modernen Architektur ist die Botschaft an die Migranten:
       Ihr gehört dazu und müsst den Verlust eurer Identität in dieser
       Gesellschaft nicht fürchten.
       
       Warum ist das ein Zeichen der Integration? 
       
       Nehmen wir die türkischen Migranten, die als Gastarbeiter aus Anatolien
       gekommen sind: Die sind relativ säkular gewesen, waren zwar aus Tradition
       Muslime, haben den Islam oft aber gar nicht praktiziert. Sie haben hier
       gelebt mit der Vorstellung, irgendwann zurückzugehen. Nachdem sie hier
       Kinder und Enkel bekommen haben, haben sie die Entscheidung getroffen, hier
       zu bleiben. Im gleichen Augenblick haben sie sich an ihre Religion erinnert
       und es entstanden die vielen islamischen Gemeinden in Hamburg. Der Wunsch,
       deutscher Staatsbürger zu werden und die Aktivierung ihres Glaubens liefen
       parallel.
       
       Sie werden Michel-Architekt genannt, weil sie die Hamburger St.
       Michaeliskirche saniert haben. Wie kamen Sie überhaupt zur Moschee? 
       
       Ich wurde Mitte der 90er-Jahre von Freunden in Hamburg-St. Georg gebeten,
       der türkischen Gemeinde in der Böckmannstraße zu helfen. Sie hatten ein
       Nachbargrundstück von Mercedes Benz gekauft und ein großes Problem mit der
       Entwicklung dieses Geländes, sie hatten kein Baurecht. Sie bekamen es, weil
       Mercedes Geschäfte in der Türkei machen wollte. Ich habe damals
       mitgeholfen, einen städtebaulichen Vertrag auszuhandeln und eine Moschee zu
       planen. In einem „St. Georg Dialog“ wurden die Pläne diskutiert und in den
       Stadtteil eingebunden. Das hat viele Jahre gedauert und ist dann nach den
       Anschlägen vom 11. September 2001 gescheitert, weil keine Bank das Projekt
       finanzieren wollte.
       
       Ereignisse, die im Zusammenhang mit islamistischem Terror stehen, führen
       also unmittelbar zu Rückschlägen für die muslimische Gemeinden? 
       
       Ja, mit Sicherheit. Die Gemeinden stehen sehr stark unter Druck, weil das
       oft mit ihrer Arbeit verwechselt wird und sie unter einem ständigen
       Rechtfertigungsdruck stehen. Dabei gibt es in Hamburg 42 muslimische
       Gemeinden, die ein ganz normales Gemeindeleben führen – weit weg von jedem
       Terror.
       
       2013 haben Sie die Situation von Moscheen und Gebetsräumen in Hamburg
       untersucht. Mit welchem Ergebnis? 
       
       Unser Gutachten besagt, dass an sieben Standorten der dringendste Bedarf
       besteht. In der aktuellen Debatte wurde daraus gemacht: „Die
       Grünen-Politikerin Stefanie von Berg fordert eine Moschee in jedem
       Stadtteil.“ Die Frage ist aber, wo gibt es überhaupt Standorte für
       Moscheen. Den ersten Vorschlag machten wir für Wilhelmsburg als Ort für
       eine Stadtteilmoschee. Die ist nicht „gigantisch“, wie geschrieben wurde,
       sondern nur ein Drittel so groß, wie das benachbarte Berufsschulzentrum.
       Das ist auch erst mal nur ein Vorentwurf.
       
       Wie sind Sie vorgegangen? 
       
       Wir haben jede der 42 Moscheen erfasst, mit Außenbild und Innenbild, haben
       dokumentiert, in welcher Sprache gepredigt wird. Wir haben uns auch
       angeschaut, ob sie Frauen- und Kinderarbeit machen und wofür sie Flächen
       brauchen, zum Beispiel für Nachhilfe und Bildungsarbeit für Jugendliche. Es
       geht uns um reine Empirie: Wie viele Quadratmeter haben sie jetzt, was ist
       der konkrete Bedarf und woran scheiterten bisher ihre Baupläne? Aber wir
       sind tiefer eingestiegen und haben geschaut, wie engagiert sind die
       Ehrenamtlichen, wer trägt die selbst organisierte und finanzierte
       Gemeindearbeit?
       
       Wer hat Sie beauftragt? 
       
       Der Hamburger Senat hat mit der Schura, der türkischen Religionsanstalt
       Ditib und dem Verein der türkischen Kommunikationszentren und der
       Ahmadiyya-Moschee über einen Staatsvertrag verhandelt. Das hatte 2006 der
       damalige Bürgermeister Ole von Beust angestoßen. Die Moscheen beklagten in
       diesen Gesprächen, dass es Restriktionen für Moschee-Standorte gibt und
       dass sie keinen Platz, aber einen erheblichen Bedarf haben. Der Senat regte
       an, das zu untersuchen. Im Staatsvertrag ist vereinbart worden, die
       Verbände bei der Entwicklung neuer Moscheen zu fördern. Dann haben uns die
       Verbände beauftragt, ein Gutachten zur räumlichen Situation aller 42
       Hamburger Moscheen zu erstellen.
       
       Aber eine salafistische Moschee in Wilhelmsburg haben Sie ausgeklammert. 
       
       Sie gehört zu keinem Verband, wir haben sie nicht untersucht.
       
       Gibt es große Unterschiede hinsichtlich des sozialen Engagements in den
       Gemeinden? 
       
       Die afrikanischen Moscheen machen viel Bildungsarbeit, die haben richtige
       Klassenräume. Viele bieten Essen, Sozial- und Eheberatung an. Migranten
       haben genau die gleichen Probleme wie Deutsche, Ehe- und
       Erziehungsprobleme, Gewalt in der Familie oder Geldnöte.
       
       Wie viele Leute beten in Hamburgs Moscheen? 
       
       Die Größenordnung beim Freitagsgebet ist vergleichbar mit dem
       Sonntagsgottesdienst christlicher Kirchen. Die Kirchen beziffern das nicht
       so genau, aber es sind etwa drei Prozent der Christen, die zur Kirche
       gehen. Das wären 23.000 Menschen in Hamburg, bei den Moscheen sind es etwa
       17.000.
       
       Viele Muslime beten in Tiefgaragen oder Kellern. Werden Moscheen an den
       Rand der Gesellschaft gedrängt? 
       
       Ja, das sind völlige Nischenlagen. Die Gemeinden haben geschaut, woher
       kriegen sie überhaupt Flächen, die sie bezahlen können. An der
       Schilleroper…
       
       …einem leer stehendem ehemaligen Theater…
       
       …hat eine Gemeinde in einem weißen Eckgebäude zwei Wohnungen gemietet und
       einen Durchbruch durch die Wand gemacht. Auf der Veddel sitzen sie in einem
       alten Laden, den ihnen das städtische Wohnungsunternehmen Saga vermietet
       hat. Nach außen hin sind Moscheen und Gebetsräume oft nur durch ein Schild
       erkennbar.
       
       Warum ist es so wichtig, dass repräsentativer gebetet wird? 
       
       Wo gebetet wird, ob im Hinterhof oder in der allerschönsten Moschee, ist
       sicherlich für Gott ziemlich egal. Das Gebet hat überall seine Gültigkeit.
       Es geht darum, wie wir als Gesellschaft damit umgehen: Ob wir den Menschen,
       die sich gemeinsam zum Gebet treffen wollen, Entwicklungsspielraum
       zugestehen. Wir haben wunderschöne Kirchen, das sollten wir auch anderen
       Religionen zubilligen.
       
       Glauben Sie nicht, dass es vor allem daran liegt, dass es in Hamburg an
       Flächen mangelt? 
       
       Nein, allein die Kirchen, die aufgegeben werden, bieten jede Menge Platz.
       Der Kirchenkreis Hamburg-Ost schätzt, dass von den 160 Kirchen ein Drittel
       aufgegeben werden muss. Also hat man rein theoretisch 50 Standorte.
       
       Halten Sie es nicht für gewagt, ausgerechnet Kirchen umzunutzen – immerhin
       hängen daran viele Emotionen? 
       
       Wenn Kirchen umgenutzt werden, finde ich das problematisch. Das Modell der
       Kapernaumkirche, die als Al-Nour-Moschee genutzt wird, sollte eine Ausnahme
       bleiben. Dass aber Kirchen, die von Gemeinden aufgeben werden, abgerissen
       werden, finde ich hinnehmbar. Am besten wäre es, dort mit den
       Kirchengemeinden Moscheestandorte zu entwickeln. Juden, Christen und
       Muslime sind als abrahamitische Religionen theologisch Brüder und
       Schwestern und haben viele Gemeinsamkeiten, sie sollten keine
       Berührungsängste haben.
       
       20 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lena Kaiser
       
       ## TAGS
       
   DIR Moschee
   DIR Kirche
   DIR Architektur
   DIR Städtebaupolitik
   DIR Städtebau
   DIR Kolumne Hamburger, aber halal
   DIR Björn Höcke
   DIR Hamburg
   DIR Europa
   DIR Niedersachsen
   DIR Staatsvertrag
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Moschee-Verein
   DIR Krieg
   DIR Behelfsetikett
   DIR Islam
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Moscheen in Hamburg: Beten im Industriegebiet
       
       In Hamburg sind die Moscheen nicht da, wo die Menschen leben, sondern in
       Hinterhöfen oder Industriegebieten. Zur Stadtgesellschaft passt das nicht.
       
   DIR Flyer gegen Muslim-Hass: Wir sind die Guten
       
       Die friedliebende Ahmadiyya-Gemeinde macht aus ihrer Rolle als Minderheit
       der islamischen Minderheit eine Tugend
       
   DIR Denkmalschutz in Hamburg: Kampf um Schilleroper-Erhalt
       
       Bezirksamt stellt Pläne für Zukunft der denkmalgeschützten Schilleroper
       vor. Eigentümer wollen abreißen, Ateliers und Wohnungen bauen.
       
   DIR Debatte Europäische Identität: Bloß keine Leitkultur
       
       Wer eine europäische Identität fordert, irrt. Es gibt nämlich auch nicht
       mal „die eine deutsche Identität“. Nur Vielfältigkeit hat Zukunft.
       
   DIR Woran scheitert der muslimische Staatsvertrag in Niedersachsen?: Der Glaubenskrieg
       
       Seit Monaten torpediert die CDU die geplanten Verträge zur Anerkennung der
       300.000 Muslime in Niedersachsen. Ein Versuch, die AfD rechts zu überholen?
       
   DIR Staatsverträge mit MuslimInnen: Religion zweiter Klasse?
       
       Per Vertrag sichern Hamburg und Bremen islamischen Gemeinden ähnliche
       Rechte zu wie Christen. Aber nicht in allen Nord-Bundesländern laufen die
       Verhandlungen.
       
   DIR Antimuslimische Gewalt nimmt zu: Molotowcocktails gegen Moscheen
       
       Immer mehr Gewalttaten gegen Muslime: 2016 gab es bereits 24 Angriffe auf
       Gebetshäuser. Der Glaubensverband Ditib spricht von „alarmierenden“ Zahlen.
       
   DIR Missbrauchsverdacht: Begrabscht und befummelt
       
       Ein Angestellter der Wilhelmsburger Vatan-Moschee steht unter Verdacht,
       Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Polizei ermittelt – Gemeinde
       unterstützt.
       
   DIR Kauder und Seehofer für Überwachung: Der Staat soll Moscheen kontrollieren
       
       Im Zeichen des Kampfes gegen den Terror will der Unionspolitiker Volker
       Kauder Moscheen überwachen. Horst Seehofer findet das gut.
       
   DIR Kolumne Behelfsetikett: Mein erster Moschee-Besuch
       
       Lehren aus dem Berliner Ausland: Warum Muslime im Winter beim Beten keine
       kalten Füße bekommen.
       
   DIR Umbau in Hamburg: Moschee mit Kirchturm
       
       Die Kapernaum-Kirche in Horn wird zur Moschee umgebaut. Jetzt beginnt der
       zweite Bauabschnitt, gefördert mit Geldern aus Kuwait.