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       # taz.de -- Speisefotos in Online-Netzwerken: Butter, Sahne, Pornofreude
       
       > Der Foodporn-Wahn ebbt nicht ab. Die digitale Speiseshow nervt immer mehr
       > Deutsche. Sind die Nahrungsnarzissten zu stoppen?
       
   IMG Bild: Foodporner zeigen im Internet gerne Eier oder andere tolle Lebensmittel her
       
       Ein saftiger Coq au Vin, sinnliche Früchtchen oder ein aufreizender Pudding
       mit Sahneklecks: Schon seit Jahren bringen sich Menschen auf Facebook,
       [1][Instagram] und Twitter mit den Fotos ihres eigenen Essens kollektiv zum
       Sabbern. Über 92 Millionen Einträge tauchen unter dem Hashtag #Foodporn auf
       und der Trend, die Welt mit expliziten Darstellungen des eigenen
       Feinschmeckerfetischs zu erregen, ist noch längst nicht vorbei.
       
       Auch die Deutschen haben im Posten von Essensfotos ein neues Hobby entdeckt
       und verbreiten eifrig Pics fotogener Gerichte: der vegane Eiersalat,
       Avocados, Haiwaitoasts, die Boulette mit edlem Mangold-Deko werden meist
       unfreiwilig zu Objekten dieses pornografischen Akts, der anderen Lust
       machen soll, ihr „Gefällt-Mir“ darunter zu setzen – und vielleicht sogar
       ihren eigenen Senf in den Kommentarspalten zu hinterlassen. Am Ende stößt
       einem aber immer wieder diese eine Frage auf: Wen interessiert's? Und vor
       allem warum?
       
       Das Meinungsforschungsinstitut YouGov hat darauf nun eine mögliche Antwort
       gefunden. In [2][einer aktuellen Studie] wurden rund 1.000 Deutsche
       befragt, wie häufig und aus welchem Grund sie Essensfotos gemacht haben.
       Das Ergebnis: Die Kultur der Foodfotografie ist hierzulande inzwischen
       mehrheitsfähig. Mit knapp 61 Prozent haben zwei von drei Deutschen schon
       mindestens einmal das Essen auf ihrem Teller abgelichtet. Das
       Foodporn-Fieber erschließt hierzulande immer noch neue Zielgruppen. Selbst
       die Hälfte der Über-60 Jährigen gestand, schon einmal einen bekömmlichen
       Augenschmaus auf der SD-Karte für die Ewigkeit konserviert zu haben.
       
       Allerdings: Im Gegensatz zu den USA spielt sich der deutsche Nahrungsporno
       viel häufiger hinter verschlossenen Türen ab. Während nur jeder Vierte
       angab, sein Food-Pic auf Twitter, Facebook oder Instagram veröffentlich zu
       haben, knippst die Mehrheit deutscher Foodporner fürs „private Fotoalbum“
       oder schickt die Essensfotos an Freunde oder Bekannte. Der Mehrheit gehe es
       darum, das Kunstwerk aus der eigenen Küche vorzuführen. Als beliebtestes
       Fotomotiv rangiert dahinter: Essen aus dem Restaurant oder Imbiss, „wo das
       Essen gut war bzw. gut aussah“. Immerhin acht Prozent versprechen sich von
       Foodporn einen aufklärerischen Mehrwert. Sie fotografierten den versauten
       Döner, um „auf Misstände in Imbissen oder Restaurants“ hinweisen.
       
       ## Eine neue Form des Nahrungsnarzissmus?
       
       Doch geben die tieferen Beweggründe der Foodporner weiter Rätsel auf.
       Handelt es sich bei dem reflexhaften Greifen zum Smartphone, sobald ein
       schickes Stück Sushi auf den Teller kommt, um eine neue Form des
       Nahrungsnarzissmus? Ist das geteilte Foto eines gepflegten Abendessens im
       Sternerestaurant ein Statussymbol? Oder doch einfach nur eine weitere
       digitale Zwangsstörung, die keiner braucht?
       
       Die österreichische Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler ist
       überzeugt: Wer sein Essen fotografiert und hochlädt, inszeniert sich selbst
       und findet „ein wunderbares Mittel seine Individualität auszudrücken.“
       Ernährung sei schließlich Symbol für die eigenen Werte, Vorlieben und
       Orientierungsgrößen. Und was manche abschätzig als Foodporn-Wahn
       abstempeln, ist für andere ein wertvolles Endprodukt aus dem
       Verdauungstrakt der Popkultur: „Früher waren es Mode-Codes oder bestimmte
       Musikstile, mit denen man seine Individualität und zugleich seine
       Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen zum Ausdruck brachte“, sagte
       Rützler der dpa, „heute ist es Essen und Trinken.“
       
       Warum die digitale Lebensmittelshow aber mit Porno in Verbindung steht,
       darüber steiten Foodblogger und Fotoköche bis heute. Tatsächlich dürfte es
       für viele Vegetarier und Veganer anstößig sein, wenn nackte
       Hähnchenschenkel durch die Nachrichtenfeeds rollen und die
       Kochlöffel-Pornografen sie unter Hashtags wie #foodlove, #foodorgasm oder
       #instaporn zur Fleischbeschauung zwingen. Amanda Simpson, Betreiberin der
       Seite Food Porn Daily, verglich die visuelle Erfahrung deshalb mit
       Pornografie, weil Essensfotos im besten Fall ein Verlangen erzeugen würden,
       das nicht befriedigt werden könne. „Foodporn ist alles, was mich zum
       Sabbern bringt“, [3][sagte Simpson 2010] im Interview mit The Daily Meal.
       
       ## Pornographische Freude von Butter und Sahne
       
       Ironischerweise taucht der Begriff „Foodporn“ erstmals im US-Feminismus der
       Achtzigerjahre auf. In ihrem Buch Female Desire kritisiert die Journalistin
       Rosalind Coward es als eine Form der Knechtschaft, Essen zu kochen und es
       schön zu präsentieren. Hochglanzfotos, auf denen Fastfood-Ketten und
       Restaurants ihre Gerichte inszenieren, seien daher „Food Pornography“, die
       diesen Akt der Unterdrückung verbreite und meist auch die wahre Natur der
       Nahrungszubereitung verzerre. Möglicherweise rührt der Lebensmittelporno
       aber doch aus dem White-Trash-Fernsehen Großbritanniens und der dort in den
       Neunzigern ausgestrahlten Kochshow [4][„Two Fat Ladies“]. Am Ende bliebe
       derselbe Beigeschmack: Der Show-Produzent bezeichnete es als
       „pornografische Freude“, mit der die Moderatorinnen Unmengen an Butter und
       Sahne verührten.
       
       Inzwischen aber steht Foodporn weniger für Feminismus oder englische
       Kochshows, eher schon vesprühen die mit Filter aufgehübschten Speisepics
       den Glam, ein wahrer Genießer zu sein. Wenig verwunderlich ist es, dass nun
       auch US-Wissenschaftler bestätigen: Das Essen schmeckt sogar besser, sobald
       es abgelichtet wird. Der Akt des Fotografierens vor dem Essen – inklusive
       der Suche nach dem richtigen Licht und Kamerawinkel – macht den
       Grünkohl-Smoothie oder die Acai-Qinoa-Bowle wirklich schmackhafter,
       schreibt das New York Magazin und verweist auf eine Studie des [5][Journal
       of Consumer Marketing]. Der Grund: Allein die Beobachtung, wie andere ihren
       gesunden Ernährungsstil zur Schau stellen, reiche, das eigene Verlangen
       nach gesundem Essen zu steigern. Wird das Gericht dann durch das Smartphone
       begutachtet, macht es Klick – und selbst der Grünkohlsmoothie schmeckt
       plötzlich so gut wie er aussieht.
       
       Vor übereilter Euphorie sei allerdings gewarnt. Forscher aus Katar kamen zu
       dem Ergebnis, dass gesunde Gerichte auf Instagram zwar deutlich mehr Likes
       als ungesunde bekommen, was die Motivation für bessere Ernährung steigern
       könne. Auf der Mehrheit der 10 Millionen analysierten Fotos waren dann aber
       doch Schokolade, Kuchen oder Fast-Food zu sehen.
       
       Befeuert das #foodporn-Phänomen also gar einen problematischen Umgang mit
       Kalorienbomben? Oder ist der Nahrungsporno nicht vielmehr Ausdruck davon,
       wie die erste Welt sich am Luxus auf ihren Tellern aufgeilt und ihn dann
       dem restlichen Globus unter die Nase reibt? Besser ist es dem zu folgen,
       was die überrollte Minderheit über diese Mainstreamkultur des
       Speisesharings denkt. Laut YouGov-Umfrage finden inzwischen gut 40 Prozent
       der Deutschen die digitale Eierschau hartgesottener Foodporner nämlich
       schlicht „allgemein nervig“.
       
       21 Jul 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.instagram.com/explore/tags/foodporn/
   DIR [2] https://yougov.de/news/2016/07/12/foodporn-vor-allem-selbstgekochtes-wird-fotografie/
   DIR [3] http://www.thedailymeal.com/food-porn-qa-amanda-simpson
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=R8Wn2TVKe_E
   DIR [5] http://nymag.com/scienceofus/2016/03/the-psychological-case-for-instagramming-your-food.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Gruber
       
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