URI: 
       # taz.de -- Reform der Erbschaftsteuer: Wo Zufall und Willkür regieren
       
       > Erben ist ungerecht. Das zeigt auch ein Blick in die Ideengeschichte.
       > Schade nur, dass das die Große Koalition wenig interessiert.
       
   IMG Bild: So entstand die Reform der Erbschaftssteuer: im Schweinsgalopp
       
       Die CSU, die Stiftung Familienunternehmen und die Lobby der
       Besserverdienenden haben die Große Koalition weichgeklopft. Die
       Erbschaftsteuerreform ist keine Reform, sondern ein im Schweinsgalopp
       fabrizierter Geschenkkatalog für Firmenerben.
       
       Blamiert hat sich nicht nur die Koalition, sondern auch die neoliberale
       Ökonomie als Wissenschaft. Sie hat auf alle wichtigen Fragen immer
       wenigstens zwei sich ausschließende Antworten – oder gar keine: Ist
       Wachstum notwendig? Ist Erben in einer Gesellschaft gerechtfertigt, die
       angeblich auf dem Tausch von Äquivalenten und Vertragsfreiheit auf Märkten
       beruht?
       
       Die Ökonomieprofessoren Guy Kirsch und Volker Großmann haben die These
       begründet (Süddeutsche Zeitung vom 21. 3. 2016). Sie plädieren dafür, „den
       Nachlass reicher Menschen zu hundert Prozent“ zu besteuern. Feinheiten wie
       Freibeträge und Normen für Härtefälle kann man regeln. Die herrschende
       Lehrmeinung hält derlei für kommunistische Ketzerei oder – im gängigen
       Polit-Slang – für „wachstumsfeindlich“, „systemwidrig“,
       „arbeitsplatzvernichtend“ usw.: sämtliche Leitartikeltonarten rauf und
       runter. Die beiden Professoren schlagen vor, dass Erbschaften nicht an
       „Erbberechtigte“ verschenkt werden, sondern in einen Fonds fließen, aus dem
       Vorhaben finanziert werden, die der gesamten Generation Heranwachsender
       dienen.
       
       Mit Gleichmacherei hat das nichts zu tun, denn: „Wer den Einzelnen ernst
       nimmt, muss es geradezu als Ärgernis empfinden, wenn Söhne und Töchter
       reicher Väter im Zweifel nur deshalb besser als andere durch das Leben
       gehen können, weil sie reiche Eltern haben.“ Die beiden Autoren halten das
       für eine zwingende Konsequenz des „individualistischen Liberalismus“, auf
       den sie sich beziehen.
       
       ## Trivial-Litanei des Plusmachens
       
       Dieser Liberalismus, auf den sich auch die meisten Mainstream-Ökonomen
       berufen, hat seinen Ursprung im philosophisch radikalen Denken des
       Aufklärungszeitalters, im Gegensatz zum Vulgärliberalismus des 19. und 20.
       Jahrhunderts, der nur auf der buchhalterisch-trivialen Litanei des
       Plusmachens beruht.
       
       Der Brauch, Vermögen zu vererben, entspringt gerade nicht dem
       „liberal-individualistischen“ Denken, sondern „feudal-tribalen“ Bräuchen.
       Die wirklichen Väter liberaler Denkweise, also jenes Konzepts in
       Philosophie, Ökonomie und Sozialwissenschaft, das auf der Freiheit des
       Individuums und auf der Aufklärung beruht, haben noch gewusst, was heutige
       Ökonomen nicht mehr gelernt oder vergessen haben.
       
       Zu den Vätern des diskussionswürdigen Liberalismus gehört der Philosoph
       John Locke (1632–1704). Er erkannte nur zwei Formen von Eigentum an: das
       Eigentum „eines jeden Menschen an seiner Person“ und dasjenige an der
       „Arbeit seines Körpers und des Werks seiner Hände“. Vererbung von Vermögen
       erfüllt die zweite Bedingung nicht. Erben sind bloß Trittbrettfahrer des
       rechtmäßigen Erwerbs. Locke gab diesen den bündigen Bescheid: „Wer nicht
       den gleichen Rechtsanspruch wie der Vater, nämlich den der Zeugung, hat“,
       kann nicht Erbe sein.
       
       Lockes Gedanke richtete sich auch gegen die „natürliche“,
       aristokratisch-dynastische Erbfolge, mit der Namen, Titel sowie politische
       Gebiets- und Herrschaftsansprüche von Generation zu Generation angeblich
       rechtmäßig weitergereicht werden: „Niemand hat ursprünglich ein
       persönliches Herrschaftsrecht mit Ausschluss aller übrigen Menschen über
       irgendetwas.“ Darin liegt der Unterschied zwischen begründetem,
       „liberal-individualistischem“ Denken und bloß „feudal-tribalen“ Bräuchen,
       d. h. die Differenz zwischen Liberalismus und FDP-Fusel.
       
       Immanuel Kant (1724–1804) zählte zwar Vererbung – im Unterschied zu Locke –
       zu den zulässigen „Erwerbsarten“, hielt aber an der liberalen,
       antiaristokratischen und antidynastischen Pointe fest: Staaten können weder
       vererbt noch getauscht, gekauft oder verschenkt werden, weil sie nicht der
       Dispositionsfreiheit bzw. Willkür eines Eigentümers unterliegen.
       
       ## Befangene Interessentenprosa
       
       Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) machte auf ein Problem jeder
       Vererbung aufmerksam, das mit der Geschichte und der Stellung des
       vererbenden Familienvaters zu tun hat. Nach römischem Recht verfügt das
       Familienoberhaupt („pater familias“) über uneingeschränkte Gewalt, d. h.
       „die Macht über Leben und Tod“ („vitae necisque potestas“). Er konnte
       Frauen und Kinder töten lassen, in die Sklaverei verstoßen oder verkaufen.
       Auch die Erbfolge unterlag nur „der Willkür“ des Familienoberhaupts. „Das
       Unsittliche solcher und anderer Rechte“ (Hegel) ist evident. Die
       jahrhundertealten Versuche, die mit dem Vererben von Vermögen verbundene
       genuine Willkür und Unsittlichkeit in einem Prozess „tumultarischen
       Gesetzgebens“ (Hegel) rechtlich zu ordnen und in sittlich akzeptable Bahnen
       zu lenken, produzierten nach Hegel nur „das Schwierige und Fehlerhafte in
       unserem Erbrechte.“
       
       Ein „gerechtes Erbrecht“ blieb zu jeder Zeit ein Widerspruch, weil Willkür
       mit keinem noch so seichten Begriff von Recht und Gerechtigkeit
       zusammenzubringen ist. Davon hatten Sozialwissenschaftler in den 20er
       Jahren noch eine Ahnung, als sie im maßgeblichen „Wörterbuch der
       Staatswissenschaften“ 1926 trocken registrierten, dass „die Gerechtigkeit
       des Erbrechts Zufall“, also nichtig geworden sei. Alle bisherigen
       Erbrechts-„Reformen“ setzen nur den Zufall an die Stelle der Unsittlichkeit
       und Willkür bei der Vererbung.
       
       Die Debatten über die neueste Erbschaftsteuer-„Reform“ sind von solcher
       Einsicht weit entfernt. Sie reproduzieren nur Varianten der in
       „feudal-tribalem“ Denken befangenen Interessentenprosa im ökonomischen,
       juristischen oder politischen Jargon à la mode.
       
       Kirsch und Grossmann benannten den Kern jeder Debatte über
       Erbschaftsteuern: „Die Akzeptanz einer marktwirtschaftlichen Ordnung setzt
       Chancengleichheit voraus, welche ein urliberales Anliegen ist. (…) Es geht
       auch darum, dass wir Wachstum und Wohlstandsmehrung nicht zugunsten reicher
       Erben opfern, indem wir die Entfaltungsmöglichkeiten anderer
       beeinträchtigen.“ Daran erinnert zu haben, dafür können die beiden
       Schweizer Ökonomen nicht laut genug gelobt werden.
       
       30 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Walther
       
       ## TAGS
       
   DIR Erbschaftsteuer
   DIR Liberalismus
   DIR Immanuel Kant
   DIR Kinder
   DIR Schule
   DIR Steuer
   DIR Erbschaftsteuer
   DIR Erbschaftsteuer
   DIR Erbschaftsteuer
   DIR Erbschaftsteuer
   DIR Familienunternehmen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Uneheliche Kinder in Deutschland: Gericht rügt Ungleichbehandlung
       
       Keiner weiß genau, wie viele unehelich geborene Kinder in Deutschland vom
       Erbe ihrer Väter ausgeschlossen sind. Das ist Diskriminierung, urteilt das
       Straßburger Gericht.
       
   DIR Ernüchternde Pisa-Studie: Deutschland bleibt unfair
       
       Deutsche Schüler und Schülerinnen haben sich kaum verschlechtert. Doch
       immer noch ist mangelnde Chancengerechtigkeit ein Problem.
       
   DIR Kommentar Erbschaftsteuer: Die soziale Balance ist gefährdet
       
       Für neue politische Bündnisse nach der Bundestagswahl lässt der Kompromiss
       nichts Gutes erahnen: Begünstigt werden seit Jahren die Reichen.
       
   DIR Reform der Erbschaftsteuer: Da lacht der Juniorchef
       
       Ins neue Gesetz kommen ein paar Verschärfungen. Wer ein Unternehmen erbt,
       wird aber auch künftig ganz oder weitgehend von der Steuer befreit.
       
   DIR Vermögen und Erbe: Unfassbarer Reichtum
       
       Die Grünen streiten sich mal wieder über Steuerpolitik. Aber stoppen ihre
       Pläne das Auseinanderdriften von Arm und Reich? Eine Analyse.
       
   DIR Verfassungsbedenken bei Gesetzesnovelle: Erbschaftsteuer droht das Scheitern
       
       Die CSU hat im neuen Gesetz Vergünstigungen für Firmenerben durchgsestzt.
       Nun will Rot-Grün es im Bundesrat blockieren.
       
   DIR Kommentar Erbschaftsteuer: Zocken mit Karlsruhe
       
       Die neuen Regeln für die Erbschaftssteuer sind ein fauler Kompromiss.
       Vermutlich werden auch sie vom Verfassungsgericht kassiert.
       
   DIR Schäuble und die Erbschaftsteuer: Ist dieser Mann Kommunist?
       
       Der Finanzminister will, dass Erben großer Unternehmen Steuern zahlen.
       Lobbyisten beschwören den Untergang des Mittelstands herauf.