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       # taz.de -- Dystopischer Film zum Brexit: Zukunft war schon
       
       > Splendid isolation im Betonturm: In „High-Rise“ verfilmt der englische
       > Regisseur Ben Wheatley einen Roman von J. G. Ballards mit viel
       > Retro-Stilwillen.
       
   IMG Bild: Edle Fassade mit düsteren Aussichten
       
       Manchmal passen Kinostarts wie die Faust aufs Auge: Der von „High-Rise“
       etwa, mit dem der britische Regisseur Ben Wheatley, Spezialist für
       drastisch-kontroverse Stoffe, den gleichnamigen Kultroman seines Landsmanns
       J. G. Ballard adaptiert.
       
       In dem 1975 kurz nach dem Beitritt Großbritanniens in die (damals noch) EWG
       veröffentlichten Roman schildert der Autor in der ihm eigenen Sensibilität
       für das Wechselspiel zwischen techno-kulturellen Setzungen und Triebkräften
       des Subjekts, wie sich die auf engem Raum abgeschottete
       Rundum-Komfort-Utopie der Totalität eines als Wohn-, Freizeit- und
       Arbeitsraums durchstrukturierten Hochhauses zu jener Dystopie wandelt, die
       schon im ersten Satz anklingt: In diesem verspeist die Hauptfigur, Dr.
       Robert Laing (im Film gespielt von Tom Hiddleston), einen Hund und blickt
       zurück auf die Eskalationen der vergangenen drei Monate, denen weite Teile
       der über 2.000 Leute zählenden Hausgemeinschaft zum Opfer gefallen sind.
       
       Eine radikal auf sich bezogene Gemeinschaft verliert den Kontakt zur
       Außenwelt und zerfleischt sich selbst. Unter den frischen Eindrücken des
       Brexit und dessen Debattenhitze gewinnt „High-Rise“ noch einmal zusätzlich
       an Brisanz und wirkt wie die treffsicher im Kinoprogramm platzierte
       Allegorie zur Stunde: Der Rückzug in die Isolation, verknüpft mit den
       Hoffnungen auf eine kleine, in sich funktionale Welt, gibt diese dem Exzess
       widerstrebender Kräfte preis.
       
       Nicht zuletzt deshalb zerfleischt sich diese Gesellschaft, weil die
       Architektur dieses an brutalistische Klassiker erinnernden Kolosses
       theoretisch zwar einer sozialen Utopie Raum bietet, die realen
       Klassengegensätze in diesem Soziotop jedoch keineswegs überwunden sind. Im
       Gegenteil, indem die Gesellschaft von der räumlich horizontalen zur
       vertikalen Organisation übergeht, treten die Gegensätze zugespitzt,
       buchstäblich konkretisiert zutage: Unten wohnen die Familien in beengten
       Verhältnissen mit zu vielen, noch dazu geschmacklosen Möbeln. Darüber
       kämpft man um jedes bisschen Etagendistinktion. Ganz oben herrscht die
       Dekadenz all jener, die für die unteren Etagen nicht zu sprechen sind.
       
       ## Es häufen sich Grobheiten
       
       Von selbst versteht sich, wer im Gefälle dieser Miniaturgesellschaft unter
       den Kinderkrankheiten der störanfälligen Infrastruktur am ehesten zu leiden
       hat. Erst liegen Nerven blank, dann häufen sich Grobheiten, eine enthemmte
       Party samt Stromausfall später herrscht blanke Anarchie: Die Schlachtplatte
       ist angerichtet – Klassenkampf von oben nach unten und umgekehrt.
       
       Apollinische Architektur – dionysischer Exzess. Für diese Dynamik
       interessiert sich Wheatley besonders. Es geht ihm nicht um psychologischen
       Realismus in einer angespannten Situation, vielmehr setzt er auf deren
       eskalative Entgrenzung. Nicht nur aus Gründen der Werktreue hat er den
       Stoff mit beträchtlichem und ergiebigem Designaufwand in einer diffus
       retro-futuristischen Abzweigung der 70er belassen, sondern auch, weil ihm
       das Kino dieser Dekade, das in der Form freier und in den Inhalten
       drastischer wurde, als Stichwortgeber dient. Von Stanley Kubrick leiht er
       sich den zynisch-kalten Blick auf die Menschen und die Stilisierung der
       Form, vom psychedelisch angehauchten Kino den Trieb zum manischen
       Überschuss, vom Splatterkino die Lust an Blut und Beuschel.
       
       Das ist für Retro-Freunde und Hauntologen mit Faible fürs Weird 70s
       Britannia lange Zeit enorm gut anzusehen, kippt fortschreitend aber auch
       ins Erratische um: Wheatley hält die kühle Form recht lang, pendelt dann
       aber zu unentschlossen zwischen Plot, Ekstasen und surrealen Setpieces hin
       und her. Der Film entgleitet – und entgleitet doch nicht: Jedes Bild ist
       kontrolliert.
       
       Auch in anderer Hinsicht sind die 70er für Wheatley von Belang. Ballards
       Roman entstand zu einer Hochphase des Sozialstaates, des sozialen
       Wohnungsbaus, der europäischen Sozialdemokratie. Allen Krisen der 70er zum
       Trotz: Noch lag eine Ahnung von gesellschaftlicher Gestaltbarkeit in der
       Luft. Die Thatcher- und Reagan-80er, die Post-Histoire der 90er machten dem
       einen Garaus. Seitdem betrauern wir, mit dem Poptheoretiker Mark Fisher
       gesprochen, unrealisiert gebliebene Zukünfte.
       
       In dieser Hinsicht wirkt „High-Rise“ wie ein melancholischer Rückblick auf
       eine letzte Phase gesellschaftlichen Gestaltungswillens, auf die eine
       Depression des Sachzwangs folgte. Dazu zerdehnen Porthishead ABBAs „SOS“
       wie einen letzten bipolaren und entkräfteten Hilfeschrei. „Manchmal fiel es
       ihm schwer, nicht dem Glauben zu verfallen, dass sie alle in einer Zukunft
       leben, die bereits stattgefunden hat“, heißt es zu Beginn des Films.
       
       Das letzte Wort darin hat Margaret Thatcher, was einen Ausblick auf
       Künftiges gewährt. Zukunft mag man das schon nicht mehr nennen. Im Abspann:
       The Fall. Musik nach „No Future“.
       
       30 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Groh
       
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