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       # taz.de -- Kolumne Immer bereit: Ferien auf dem Fahrradsattel
       
       > Radeln ist toll – wenn man mal die Anfangsjahre voller Pannen, Kratzer
       > und Schadenfreude hinter sich gebracht hat.
       
   IMG Bild: Jetzt bloß nicht unfallen: Radfahren lernen ist kein Kinderspiel
       
       Heute will ich erzählen, wie ich Fahrrad fahren gelernt habe. Meine Eltern
       hatten kein Auto. Deshalb bin ich als Kind immer überallhin auf dem Fahrrad
       mitgenommen worden. Vorne im Körbchen, das hinter dem Lenker befestigt war.
       Meine Füße standen auf kleinen Halterungen zum Ausklappen. Sie hatten
       Plastikrillen, die waren unangenehm, wenn man barfuß draufstand. Und wenn
       Kopfsteinpflaster kam, mussten wir Ah sagen. „Ahahahahaha.“ Meine erste
       Begegnung mit Sprechkunst.
       
       Ansonsten sangen wir. Schön laut und falsch. Das gesamte deutsche Liedgut
       lernte ich auswendig. Nur Fahrrad fahren lernte ich nicht. Ich hatte
       einfach zu viel Angst. Deshalb schafften meine Eltern, als ich zu schwer
       fürs Körbchen wurde, ein Tandem an, auf dem vorne Papa und hinten ich
       sitzen sollte, und dann unternahmen wir Ausflüge ins Berliner Umland.
       
       Stundenlang tuckerten wir irgendwelche Brandenburger Landstraßen entlang,
       überholt von riesigen Lastwagen und Opel Kadetts mit überhöhter
       Geschwindigkeit. Manchmal gerieten wir auf ehemalige
       NVA-Truppenübungsplätze, weil Papa eine Abkürzung nehmen wollte. Das war
       nach der Wende. Dann schoben wir die Räder durch den märkischen Sand,
       schwitzten und fluchten.
       
       Das Problem mit diesem Tandem war, dass mein Papa drei Köpfe größer war als
       ich, doppelt so breit und fünfmal so stark. Auf dem Sattel hinter ihm
       spürte ich weder Wind noch Regen noch Berge, er hielt alles von mir fern
       und machte eh alles alleine, er war mal Rennradler gewesen. Aber statt des
       erhabenen Anblicks vorbeiziehender Landschaft, der sich ihm beim
       Fahrradfahren bot, sah ich nur Papas Rücken und die Muster, die der Schweiß
       auf seinem T-Shirt zeichnete. Oder ich starrte auf die Straße zwischen
       meinen Füßen. Und wenn wir über einen Huckel fuhren, tat mir der Hintern
       weh.
       
       Fahrradfahren ist eine intuitive Tätigkeit. Die Räder werden zu
       Fortsetzungen der Beine, der Lenker wird ein Teil des Oberkörpers. Man
       denkt nicht darüber nach, dass man atmen und treten muss, um das
       Gleichgewicht zu halten, man beschließt nicht, den Lenker zu neigen, um
       abzubiegen.
       
       Und wenn ein Bordstein kommt oder eine Delle im Asphalt, dann denkt man
       nicht darüber nach, den Hintern leicht vom Sattel zu heben und das Gewicht
       auf die Füße zu verlagern. Man tut es einfach. Unbewusst und ohne seinen
       Hintermann auf dem Tandem vorher Bescheid zu sagen oder seiner Hinterfrau,
       die die Delle nicht sehen kann, weil der Vordermann die Sicht versperrt.
       
       „Papa!“, schrie ich nach vorne.
       
       „Willst du mal Opa werden?“
       
       „Später vielleicht“, brüllte er
       
       nach hinten. „Warum?“
       
       „Weil: Wenn du so weiter-
       
       machst, kannst du es dir ab-
       
       schminken!“
       
       Genauso schön war es, wenn Papa plötzlich den Kopf einzog, weil über dem
       Radweg ein Ast zu tief hing. Er fuhr schadlos drunter durch, ich bekam das
       Grünzeug in die Fresse.
       
       „Mann, Papa!“, brüllte ich wütend.
       
       „Entschuldigung“, rief er glucksend vor Lachen und verscheißerte mich den
       Rest der Fahrt, indem er mehrfach plötzlich den Kopf einzog und sich tief
       über den Lenker beugte. Ich tat es ihm nach. Nichts passierte.
       
       „Was war denn?“, rief ich.
       
       „Ne Mücke!“, rief Papa.
       
       Sehr lustig.
       
       Zum Glück traf ich als Teenager kurz darauf meine erste große Liebe, deren
       Oma, die wir in den Ferien besuchten, mal Sportlehrerin an einer
       Sonderschule gewesen war. „Jeder kann Rad fahren“, sagte sie und holte ein
       altes Damenrad aus dem Schuppen. Den Rest des Sommers rannten sie und die
       Liebe hinter mir und dem Fahrrad her und zogen mich aus den Brennnesseln,
       wenn ich wieder den Absprung nicht geschafft hatte.
       
       Ich werde es ihnen nie vergessen.
       
       3 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea Streisand
       
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