URI: 
       # taz.de -- Kurswechsel in der SPD: Plötzlich links
       
       > Vizekanzler Sigmar Gabriel will sich von der Kanzlerin absetzen und die
       > EU sozialer gestalten. Aber wer nimmt ihm das ab?
       
   IMG Bild: Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras und Vizekanzler Gabriel am Donnerstag in Athen
       
       ATHEN/BERLIN taz |Der Retter der Europäischen Union sitzt in einem
       Stuhlkreis in der Altstadt von Athen. Genauer gesagt sitzt er mit 24
       griechischen Jugendlichen im ersten Stock des Impact Hub, eines hippen
       Bürogebäudes mit lackierten Dielen und Backsteinwänden. Normalerweise
       kommen junge IT-Unternehmer hierher, die eine gute Idee haben und nur noch
       einen Schreibtisch brauchen, um damit reich zu werden.
       
       Der Retter der Europäischen Union hat allerdings Größeres vor. „Wir müssen
       versuchen, wieder Verständnis füreinander zu entwickeln“, sagt er. Mit
       dieser Idee will der Mann aus Goslar den Kontinent einen – und nebenbei
       eine Wahl gewinnen.
       
       Sigmar Gabriel, Vizekanzler, Wirtschaftsminister und SPD-Chef, hat eine
       neue Mission. Und die heißt: Europa retten. Ob es mit der Rettung klappt,
       ist selbstverständlich noch nicht ausgemacht, aber nicht weniger als eine
       „Neugründung Europas“ will Gabriel. So steht es in einem Zehn-Punkte-Plan,
       den er mit seinem Freund Martin Schulz verfasst hat dem Präsidenten des
       EU-Parlaments.
       
       Die SPD veröffentlichte den Plan in der vergangenen Woche, als das Ergebnis
       des Brexit-Referendums gerade ein paar Stunden alt war. Gabriel hatte
       diesen Zug für den Fall des Falles gut vorbereitet. Wie so oft bei ihm
       mischen sich hier taktische Motive, eine sehr eilige Angriffslust und echte
       Überzeugung.
       
       Gabriel wird bei der Wahl 2017 wohl als SPD-Kanzlerkandidat Angela Merkel
       von der CDU herausfordern, mit der er – wenn nichts dazwischenkommt – noch
       ein Jahr zusammen regiert. Sein Zehn-Punkte-Plan liest sich wie eine
       brachiale Kritik von Merkels Sparpolitik. Eine „Politikwende“ fordern die
       beiden Top-Sozis, Staaten müssten im Abschwung mehr Geld für Arbeitslose
       und Investitionen ausgeben dürfen. Die „beschämend hohe
       Jugendarbeitslosigkeit“ gehöre bekämpft, es brauche eine „industrielle
       Renaissance in Europa“.
       
       ## Rezept für die Wende
       
       Das ist nicht nur ein neuer, linkerer Sound in der Sozialdemokratie, das
       ist auch eine klare Distanzierung. Die Bundeskanzlerin hat in Europa
       bisher auf harte Reformen gesetzt. Hilfe nur für den, der sich anstrengt –
       dieses Motto setzten Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) in
       der europäischen Krise durch.
       
       Ausgerechnet in Griechenland stellt Gabriel jetzt sein Gegenprogramm vor.
       Genau eine Woche nach dem britischen Referendum fliegt er nach Athen, eilt
       vom Präsidenten zum Ministerpräsidenten, dann zum Wirtschaftsminister, zum
       Energieminister, am Ende zum Finanzminister. Überall präsentiert er das
       Rezept, das er sich für die Wende in Griechenland zurechtgelegt hat.
       
       Erstens: Die Griechen haben in den vergangenen Monaten ordentlich gespart,
       das soll der Rest Europas ruhig anerkennen. Zweitens: Private Investoren
       kommen nur ins Land, wenn sie Planungssicherheit haben. Die griechische
       Regierung soll dafür sorgen, dass sich zum Beispiel die Steuersätze nicht
       ständig ändern. Drittens: Griechenland und die anderen Krisenländer
       brauchen staatliche Investitionen. Die EU muss dafür mehr Geld zur
       Verfügung stellen als je zuvor.
       
       Drei wichtige Fragen lässt er aber offen: Wie viel Geld? Woher? Und ab
       wann?
       
       Weil die Pläne der Sozialdemokraten bislang vage sind, bleiben CDU und CSU
       gelassen. Peter Ramsauer zum Beispiel, der mit Gabriel nach Athen gereist
       ist. Der Bundestagsabgeordnete aus Oberbayern gilt nicht als großer Freund
       der griechischen Regierung. Im Bundestag stimmte er im vergangenen Jahr
       gegen neue Griechenland-Kredite. Und jetzt, im Büro von Alexis Tsipras,
       muss er sich mit einem Fotografen herumstreiten.
       
       Der griechische Ministerpräsident empfängt Gabriel in der Villa Maximos,
       seinem Amtssitz. Ramsauer schaut aus der zweiten Reihe zu, als sich ein
       griechischer Fotograf an ihm vorbeirempelt. Der CSU-Politiker herrscht den
       Mann an, erst auf Deutsch, dann noch mal auf Englisch. Ramsauer ist keiner,
       der sich alles gefallen lässt.
       
       Die Offensive des SPD-Chefs lässt ihn aber kalt. „Der lässt halt ein wenig
       den Juso raushängen“, sagt er nur.
       
       Die Union schaut in Ruhe zu, wie sich die Sozialdemokraten nach dem Brexit
       selbst verleugnen. Die SPD ist ja nicht nur seit 2013 an der Koalition
       beteiligt. Sie hat zuvor auch in der Opposition alle europapolitischen
       Entscheidungen von Schwarz-Gelb mitgetragen. Gabriel erklärt also im
       Nachhinein für falsch, was seine Partei – zugegeben unwillig – die ganze
       Zeit mittrug.
       
       Und so wirft sein Kurswechsel Fragen auf: Macht Gabriel Ernst? Will er
       tatsächlich ein sozialeres Europa – und, ganz nebenbei, die SPD kurz vor
       dem Wahljahr neu positionieren? Oder ist der Vorstoß nur eine neue Laune
       von Gabriel, was bei ihm nie ausgeschlossen ist?
       
       Wie irritierend die ambivalenten Signale Gabriels sein können, zeigte sich
       schon vor einem Jahr, als die deutsche Politik monatelang kein anderes
       Thema kannte als das hochverschuldete Griechenland. Gabriel warb bereits
       damals für Wachstumsprogramme, funkte also solidarische Signale nach
       Griechenland. Dann aber, als sich die Deutschen von der linken
       Syriza-Regierung genervt fühlten, veröffentlicht er einen denkwürdigen
       Debattenbeitrag in der Bild-Zeitung.
       
       „Wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil
       kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre
       Familien bezahlen lassen.“ Gabriel bediente das Klischee, mit dem das
       Boulevardblatt seine Schmutzkampagne gegen die angeblichen
       „Pleite-Griechen“ orchestrierte. Kein deutsches Geld für griechische
       Luxusrentner.
       
       Und jetzt wirbt er ernsthaft für Wachstumsprogramme und Völkerverständigung
       in Europa?
       
       Wahrscheinlich weiß auch Alexis Tsipras nicht so genau, was er seinem Gast
       aus Deutschland glauben kann. Der griechische Ministerpräsident legt sich
       aber ins Zeug. Auf dem Sofa seines Arbeitszimmers redet er auf Gabriel ein.
       „Europa läuft herum wie ein Schlafwandler“, sagt er. „Ich hoffe, der Brexit
       ist ein Weckruf. Wir müssen die Austerität durch Wachstum ersetzen!“
       
       Tsipras will seine Chance nutzen. Seine Wähler haben genug vom Sparen,
       gerade erst haben sie gegen neue Rentenkürzungen demonstriert. Jetzt, nach
       dem Brexit, hofft er auf Nachsicht der Europäer. In Gabriel wittert er nach
       dessen jüngsten Äußerungen einen Verbündeten. Aber kann er dem Deutschen
       trauen?
       
       Beim Zuhören legt der SPD-Chef seine Hände in den Schoß. Sie formen eine
       Raute: Daumen an Daumen, Zeigefinger an Zeigefinger, so wie es Angela
       Merkel immer macht. Schließlich, als Tsipras fertig ist, rattert Gabriel
       seine drei Punkte herunter. „Wir brauchen eine Wachstumsagenda für
       Europa“, sagt er am Ende. Dabei spricht er leise, ganz so, als solle ihn
       der griechische Ministerpräsident bloß nicht zu gut verstehen.
       
       Tatsächlich sollte die Regierung in Athen nicht damit rechnen, dass die EU
       über Nacht einen neuen Wachstumsfonds in Milliardenhöhe aufstellt – Gabriel
       hin oder her. So ein Programm würde allein schon an der Bundestagswahl im
       nächsten Jahr scheitern: Würde das Vorhaben konkret, würde Brüssel die
       Deutschen um einen neuen Beitrag für Investitionen im Süden bitten, CDU und
       CSU würden da wohl kaum mitmachen. Zu groß wäre die Angst, noch mehr
       Stimmen nach rechts außen zu verlieren, an die AfD.
       
       Die SPD könnte die Zeit bis zur Wahl aber nutzen, um eine neue Erzählung
       über Europa und die Krise zu verankern. An diesem Punkt mischen sich bei
       Gabriel taktisches Kalkül und echte Überzeugung.
       
       Gabriel, dessen Vater ein überzeugter Nazi war, hasst Nationalismus in
       jeder Form, sein Werben für Europa hat eine tiefe, biografische Komponente.
       Dass EU-Gegner bei Wahlen und Referenden gerade in Arbeitervierteln so gut
       abschneiden, geht ihm gegen den Strich. Um diese Wähler zurückzugewinnen,
       wird er in den nächsten Monaten so argumentieren, dass es auch die
       Facharbeiter überzeugt: Nur wenn es den europäischen Nachbarn gut geht,
       können sie unsere Produkte kaufen. Nur wenn wir unsere Produkte verkaufen,
       können die Löhne steigen. Und deshalb brauchen wir Europa.
       
       ## Kein Wort über die Troika
       
       Am Donnerstagabend steht Gabriel im Konferenzsaal des Hilton-Hotels. Wenn
       es für die Griechen ein Symbol der Krise gibt, dann ist es dieses Gebäude:
       Die verhasste Troika der internationalen Geldgeber rückte regelmäßig
       hierhin an, verbunkerte sich hinter Hundertschaften der Polizei und
       verkündete der Regierung neue Sparauflagen. An diesem Ort will der deutsche
       Vizekanzler jetzt ein neues Zeichen setzen. Er spricht nicht über die
       Troika. Er spricht nicht über seinen Beitrag in der Bild-Zeitung. Er steht
       auf der Bühne und spricht über die Zukunft.
       
       „Der Süden Europas sieht im Norden oft diejenigen, die immer neue
       Sparvorgaben mache. Der Norden sieht im Süden oft diejenigen, die sich nie
       an Regeln halten. Beide Ansichten sind falsch“, sagt Gabriel. Dann
       appelliert er an die Gäste im Saal, an Politiker und Unternehmer aus
       Griechenland und Deutschland, ganz so wie zuvor bei den Jugendlichen im
       Stuhlkreis: „Gerade in der Situation nach dem Brexit müssen wir alles
       versuchen, um uns zumindest wieder besser zu verstehen.“
       
       Das ist tatsächlich eine Botschaft. Mehr aber auch nicht. Zumindest nicht
       in diesem Moment.
       
       1 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
   DIR Ulrich Schulte
       
       ## TAGS
       
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Kanzlerkandidatur
   DIR Griechenland
   DIR Sigmar Gabriel
   DIR SPD
   DIR Europäische Union
   DIR Bundestag
   DIR Kaiser's Tengelmann
   DIR Lesestück Meinung und Analyse
   DIR Martin Schulz
   DIR SPD
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Schwerpunkt Krise in Griechenland
   DIR Boris Johnson
   DIR Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Lebenslauf von SPD-Politikerin geschönt: Abgeordnete Hinz gibt Mandat auf
       
       Kein Abitur, kein Jurastudium, keine Staatsexamina: SPD- Frau Petra Hinz
       hat Teile ihres Lebenslauf erfunden. Deshalb räumt sie nun ihren Sitz im
       Bundestag.
       
   DIR Gabriel und die Supermarktkettenfusion: Lass das mal den Siggi machen
       
       Siggi goes Stromberg: In der Tragikomik seines Scheiterns gleicht Sigmar
       Gabriel einer Kultfigur des deutschen Fernsehens. Ein Drama.
       
   DIR Debatte Rechte Diskurshoheit: Vom Wohnen in der Defensive
       
       Brexit, Xenophobie, Nationalismus und Abschottung: Die Linke hat den großen
       Erzählungen von rechts wenig entgegenzusetzen.
       
   DIR EU-Reformpläne von Martin Schulz: Will er König von Europa werden?
       
       Schulz möchte die EU-Kommission in eine europäische Regierung umbauen. Die
       Idee ist in der SPD umstritten – und in der Union erst recht.
       
   DIR Kommentar EU-Politik der SPD: Ein Europa des Drucks
       
       Die Sozialdemokraten setzen nach dem Brexit auf eine Bestrafung der Briten.
       Nachahmer sollen abgeschreckt werden.
       
   DIR Konsequenzen aus dem Brexit: CDU und SPD streiten um die Lösung
       
       Schäuble kritisiert die EU-Investitionspläne von Gabriel. Er will dagegen
       zwischenstaatliche Verhandlungen auch ohne die Führung der EU-Kommission
       durchsetzen.
       
   DIR Europa-Debatte der SPD: Genossen ohne Fehl und Tadel
       
       In Berlin diskutiert die Parteispitze über die Herausforderungen der EU –
       und sieht in allem nur ein Verständnisproblem bei den Wählern.
       
   DIR Privatisierungen in Griechenland: Hafen von Piräus verkauft
       
       Der größte griechische Hafen geht an einen chinesischen Reederei-Konzern.
       Die Erlöse aus dem Verkauf staatlicher Beteiligungen sind noch gering.
       
   DIR Boris Johnson und der Brexit: Grandios gescheitert
       
       Boris Johnson will nicht Premierminister werden. Er ist ein skrupelloser
       Improvisator mit mehr politischem Gespür als manche seiner Kollegen.
       
   DIR Strategiedebatte Rot-Rot-Grün: Gabriel blinkt beinahe links
       
       SPD-Chef Gabriel wird von Jusos, Grünen und Linken für seinen Vorstoß für
       ein Linksbündnis 2017 gelobt. Alles klar bei der SPD? Nicht ganz.