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       # taz.de -- Kolumne Macht: Keine zweite Chance
       
       > Die große Gefahr für Europa ist: Wird das Brexit-Referendum nicht
       > umgesetzt, haben rechte Nationalisten mehr Zulauf.
       
   IMG Bild: Die Demos für Remain kommen zu spät, der Fehler sollte nicht mehr korrigiert werden dürfen
       
       Zwei harte Diskussionen – knapp vor persönlichem Streit – mit Leuten, die
       mir nahestehen und in Großbritannien leben. Eine ist Britin, einer ist
       Deutscher. Beide meinen: Es muss ein Recht auf eine zweite Chance geben,
       immer. Wenn die Briten jetzt verstünden, dass sie von den
       Brexit-Vorkämpfern belogen worden seien, dann müssten sie die Gelegenheit
       bekommen, ihren Fehler zu korrigieren.
       
       Nein. Ich will das nicht. Aus vielen Gründen hätte ich mir gewünscht, das
       EU-Referendum wäre anders ausgegangen. Aber nun ist es aus meiner Sicht zu
       spät. „Du willst uns leiden sehen?“, fragt meine Freundin. „Du möchtest die
       Briten also bestrafen?“, fragt mein Freund.
       
       Beides nicht. Ich vertrete meine Interessen. Wenn das Ergebnis des
       britischen Referendums nicht umgesetzt wird, dann – so fürchte ich –
       bekommen rechte Nationalisten so viel Zulauf, dass die EU zu implodieren
       droht. Es würde ihnen allzu leicht gemacht, zu behaupten, der Wille „des
       Volkes“ zähle nichts und „die da oben“ ließen so oft wählen, bis ihnen das
       Ergebnis gefalle.
       
       Meine Freunde halten meine Argumentation für falsch. Sie meinen, es gebe
       keinen besseren Weg, Nationalismus zu bekämpfen, als eine neue
       Volksabstimmung in Großbritannien. Weil der erwartbare Meinungsumschwung
       zeige, wie groß die Probleme seien, die mit einem EU-Austritt verbunden
       sind. Danach könne niemand mehr auf eine Mehrheit für einen Austritt aus
       der Europäischen Union hoffen. Mag sein, dass sie recht haben und ich
       unrecht. Ich weiß es nicht. Fest überzeugt bin ich allerdings davon, dass
       nicht nur ich, sondern auch meine Freunde vor allem unsere jeweils eigenen
       Interessen verfolgen. Das Hemd ist uns näher als der Rock. Das ist eine
       neue Erfahrung.
       
       ## Wir sind nicht blöd
       
       Nicht im Privatleben, da ist das Alltag. Urlaubsziel, WG-Regeln, Wahl der
       Kneipe, Aufteilung von Kosten: Natürlich haben wir unsere eigenen
       Interessen im Blick. Sehr freundlich lächelnd, sehr, sehr rücksichtsvoll.
       Manchmal sind wir sogar wirklich großzügig. Aber wir alle wissen immer, auf
       welcher Seite unser Brot gebuttert ist. Schließlich sind wir nicht blöd.
       
       Im Hinblick auf Politik war das bisher anders. Wer sich selbst als auch nur
       einen halben Millimeter links von der Mitte stehend definiert und in einem
       führenden westlichen Industriestaat zur Mittelschicht gehört – also keine
       unmittelbaren Existenzängste hat –, hat sich daran gewöhnt, auch gegen
       eigene Interessen zu wählen. Erhöhung von Erbschaftsteuern, Einführung
       einer Vermögensteuer? Gerne, selbst wenn es eigenes Geld kostet.
       Schließlich ist auch sozialer Friede ein hohes Gut. Und: Wir sind ja nicht
       in Not.
       
       Ich habe diesen Blick auf Politik – der sich global auf afrikanische Bauern
       oder asiatische Kinder erweitern lässt – immer als zivilisatorische
       Errungenschaft gesehen. Ich tue das noch. Seit ich eine politische Meinung
       entwickelt habe, fühle ich mich Leuten verbunden, die Gerechtigkeit für
       einen höheren Wert halten als die Durchsetzung individueller Interessen.
       
       Aber ich stelle fest: Sobald es um den Kern meiner Existenz geht, ist
       plötzlich alles anders. Wenn ich Inderin wäre, dann wäre ich – aus einer
       angenehm unbeteiligten Position heraus – vermutlich dafür, dass den Briten
       eine zweite Chance eingeräumt würde. Aber ich bin keine Inderin. Und ich
       stelle fest, dass ich vor allem etwas will: nämlich meine Welt verteidigen.
       
       Koste es, was es wolle. Und sei es noch so unfair gegenüber den Briten. Das
       finde ich zutiefst beunruhigend. Es ist ein Paradigmenwechsel. Wenn ich bei
       meiner Haltung bleibe: Unterscheide ich mich dann eigentlich – im Kern –
       noch von Nationalisten? Die Frage ist ernst gemeint. Ich habe darauf noch
       keine Antwort.
       
       2 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Gaus
       
       ## TAGS
       
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