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       # taz.de -- Rechtsruck beim Magazin „Cicero“: Ein neuer Ton
       
       > Seit Beginn der Flüchtlingsdebatte nähern sich Texte des „Cicero“ dem
       > rechten Rand. Was ist passiert mit dem Debatten-Magazin?
       
   IMG Bild: Auf dem Dach des „Cicero“ in Berlin: Chefredakteur Christoph Schwennicke und sein Vize Alexander Marguier
       
       BERLIN taz | „Das Boot ist voll“ steht im Dezember 2014 auf dem Cicero. Das
       Heftcover zeigt eine Frau, die auf einem Luxusschiff in einen Pool springt,
       im Meer unter ihr ertrinken Menschen. Die Schlagzeile dreht zynisch den
       Satz um, mit dem Politiker und Medien in den 90ern gegen Asylbewerber
       gehetzt haben. Die Titelgeschichte kritisiert die Abschottung Europas und
       porträtiert Geflüchtete. Für das Cover gewinnt das Heft einen Preis.
       
       Ein gutes Jahr später, im Februar 2016, druckt der Cicero wieder eine
       Titelgeschichte über Flüchtlinge. Diesmal zeigt das Cover Angela Merkel,
       sie sitzt auf einem Sofa und trinkt in aller Ruhe Tee. Hinter ihr steht der
       Kölner Dom in Flammen. „Nicht mehr mein Land“ steht darunter, „Deutschland
       zwischen Kontrollverlust und Staatsversagen“.
       
       Der Satz dreht Merkels Aussage von September 2015 um: „Wenn wir jetzt
       anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in
       Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein
       Land.“
       
       Im Heft schreibt eine Autorin von einer „Invasion der Machtlosen aus fernen
       Kulturen“, der Philosoph Peter Sloterdijk spricht im Interview ohne
       kritische Nachfragen über den „Souveränitätsverzicht“ der Bundesregierung
       und von einer „Überrollung Deutschlands“ durch Geflüchtete. Deutschland
       habe das „Lob der Grenze“ verlernt. „Es gibt schließlich keine moralische
       Pflicht zur Selbstzerstörung.“
       
       ## „Zensur“, sagt ein Autor
       
       Titelbilder sollen zuspitzen. Und doch erzählen diese beiden etwas darüber,
       wie sich der Cicero, das „Magazin für politische Kultur“, in den
       vergangenen Monaten verändert hat.
       
       Der Cicero war schon immer ein eher liberal-konservatives Blatt. Seit
       Beginn der Flüchtlingsdebatte im vergangenen Sommer nähern sich viele Texte
       allerdings dem rechten Rand. Da schreibt ein Autor von der „Staatsdoktrin
       Willkommenskultur“, die in Deutschland herrsche, der stellvertretende
       Chefredakteur beschwert sich über die „linksideologischen
       Willkommens-Medien“ und den „sich selbst gleichschaltenden“
       öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der Kulturressortleiter schreibt über die
       „Umstrukturierung der Bevölkerung Deutschlands“ durch die Flüchtlinge.
       
       Dieser neue Ton gefällt nicht allen. Michael Kraske, ein freier Autor,
       dessen kritischer Text über Thilo Sarrazin von der Chefredaktion abgelehnt
       wurde, spricht von „Zensur“. Ein anderer Autor, Stefan Buchen, der auch für
       die NDR-Sendung „Panorama“ arbeitet und für den Cicero über die zynische
       Flüchtlingspolitik der EU und über Abschiebungen geschrieben hatte,
       beschließt, nicht weiter für den Cicero zu schreiben, weil ihm die Inhalte
       „peinlich“ sind. Im Januar nennt ein Spiegel-Redakteur die Chefredakteure
       des Cicero „Salonhetzer“, ein Redakteur der Frankfurter Allgemeinen
       Sonntagszeitung (FAS) nennt den Cicero-Kulturchef einen Mann, der auf
       Islamversteher und Flüchtlingskrisenverharmloser „eindrischt“, aber nicht
       annähernd so gut einstecken kann, und der zu Populismus neigende Jakob
       Augstein schreibt bei Spiegel Online, Cicero-Chefredakteur Christoph
       Schwennicke betreibe „völkische Propaganda“. Was ist passiert mit dem
       Magazin, dessen Chefs es als Ort der Debatte verstehen?
       
       Im Februar dieses Jahres verkauft der Schweizer Ringier Verlag, der den
       Cicero 2004 in Deutschland gegründet hat, das Heft. Christoph Schwennicke,
       seit 2012 Chefredakteur, und sein Stellvertreter Alexander Marguier
       übernehmen es mit finanzieller Starthilfe von Ringier. Der Erfolg des
       Cicero ist ab jetzt für sie auch von ganz persönlichem finanziellem
       Interesse. Schwennicke hat bereits das Hauptstadtbüro der Süddeutschen
       Zeitung geleitet und stellvertretend das des Spiegels. Marguier leitete den
       Gesellschaftsteil der FAS.
       
       Der Zeitpunkt der Übernahme ist perfekt, dem Heft geht es so gut wie noch
       nie. Der Cicero hat seine Auflage in den vergangenen Monaten gesteigert:
       allein im ersten Quartal 2016 um rund 10 Prozent auf knapp 85.000 Hefte.
       Der Cicero wächst, und das in einer Zeit, in der alle anderen Magazine
       verlieren.
       
       ## Merkel ist schuld
       
       Der neue Ton des Cicero ist auch in anderen Kreisen längst angekommen. Seit
       Beginn der Flüchtlingsdiskussion im vergangenen Sommer, seit dem Terror von
       Paris und den sexuellen Übergriffen zu Silvester in Köln hat sich der
       gesamtgesellschaftliche Diskurs verschärft. Das zeigen Fernsehtalkshows,
       Umfragen und der Erfolg der AfD. Davon profitiert vermutlich auch der
       Cicero.
       
       Der Tenor seit einigen Ausgaben: Merkel ist schuld. Merkels Satz „Wir
       schaffen das“ sei ihr „verhängnisvollster“, ein „katastrophaler“ Fehler,
       eine „kolossale Fehlentscheidung“ gewesen, schreibt Schwennicke im Herbst
       2015. Das ist das Grundrauschen in vielen Texten – zu Flüchtlingen, zum
       Terror, zum Brexit.
       
       „Wir hatten von der ersten Minute am 31. August letzten Jahres eine
       Grundhaltung, und die war, dass dieser bedingungslose, unkoordinierte
       Alleingang von Frau Merkel in der Flüchtlingsfrage falsch war. Wenn das
       meine Meinung ist, wieso soll ich sie nicht genauso formulieren? Das ist
       weder xenophob, noch rassistisch. Das ist ein Befund“, sagt Schwennicke.
       
       Die Einschätzung, Merkel hätte mit ihrem „Wir schaffen das“ einen Fehler
       gemacht, teilen auch manche Linke und Liberale. Und ein Magazin mit
       konservativen bis rechtskonservativen Standpunkten gehört genauso zum
       Zeitschriftenmarkt wie linke Medien.
       
       ## Kaum Gegenstimmen
       
       Den vielen Merkel- und islam-kritischen Texten stehen nur selten welche mit
       anderer Meinung gegenüber. Obwohl Flüchtlingsfragen hoch und runter
       diskutiert werden, gab es im gedruckten Cicero seit Beginn der
       Flüchtlingsdiskussion keinen Text über Brandanschläge auf Asylbewerberheime
       und die zunehmende Gewalt gegen Flüchtlinge. Online erschien im vergangenen
       halben Jahr bis Redaktionsschluss dieser Zeitung ein einziger Text zu dem
       Thema und ein paar Nebensätze in anderen Artikeln.
       
       Dass liberale Gegenstimmen im Cicero weniger zu finden sind, liegt auch
       daran, dass man sie in der Redaktion kaum noch vertritt. Auch von freien
       Autoren kommen sie immer seltener.
       
       Michael Kraske ist einer von ihnen. Er schrieb über das Behördenversagen im
       Fall NSU, über Rassismus und über die rechtsextreme Seite der AfD. „Die
       liberalen Stimmen in der Redaktion sind schon lange in der Minderheit“,
       sagt er. „Ich habe mich immer als Gegenstimme verstanden.“ Anfang des
       Jahres wurde er von der Cicero-Redaktion beauftragt, einen Text über Thilo
       Sarrazin zu schreiben, den Bild prominent interviewt hatte. „Ahnherr der
       neuen völkischen Bewegung“ nannte Kraske den Text, eine kritische
       Auseinandersetzung mit Sarrazins Thesen. Kurz darauf eine Mail: Die
       Chefredakteure würden den Text nicht auf cicero.de sehen wollen. Für Kraske
       ist die Zusammenarbeit damit beendet.
       
       Eine ähnliche Geschichte erzählt Andreas Püttmann, liberalkonservativer
       Publizist aus Bonn. Noch im April 2015 hatte er für Cicero online über
       religiöse Rechte und Kirche geschrieben. Zuletzt bot er der Redaktion
       einen Text über die „rechtskonservative Radikalisierung“ in einst
       liberalen Gruppierungen an. Ein Redakteur befindet den Text für gut, kurz
       darauf erhält Püttmann eine knappe Absage: Der Text sei „nichts für den
       Cicero“. Eine Begründung gibt es nicht. Püttmann hatte vorher in einer
       Studie für die Konrad-Adenauer-Stiftung über Radikalisierungstendenzen am
       rechten Rand der Kirchen den Cicero-Kulturchef Alexander Kissler kritisch
       erwähnt. Er glaubt, dass das der Grund für die Absage sei.
       
       Alexander Marguier stellt beide Fälle anders dar: Bei Michael Kraske sei
       ein Text über das neue Buch von Sarrazin bestellt gewesen. „Was er
       geliefert hat, war dasselbe Sarrazin-Bashing, wie wir es seit Jahren
       hören. Das war gotterbärmlich langweilig.“ Aber Kraske bleibt dabei: In der
       Mail, mit der der Text bestellt wurde, sei Sarrazins Buch gar nicht
       vorgekommen. Zu Püttmann sagt Marguier, der Autor habe seinen Text
       ungebeten angeboten. Ihn abzulehnen sei ein normaler Vorgang.
       
       ## Twitterherzen für die AfD
       
       Wenn die liberalen Stimmen weniger werden, bekommen die radikalen mehr
       Gewicht. Dafür steht namentlich der Kulturressortleiter des Cicero,
       Alexander Kissler. Früher arbeitete er im Feuilleton der Süddeutschen
       Zeitung, dann beim Focus.
       
       Er schreibt oft an der Grenze zum Rechtspopulismus. Er verteidigt Akif
       Pirinçci und Thilo Sarrazin, kritisiert den liberalen Kurs des Papstes,
       prangert linke Gewalt an, ohne es gleichermaßen mit rechter zu tun. Im
       Februar veröffentlichte er den Text „Wo steckt denn nun das Volk?“, in dem
       er mit Verweis auf den Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek von der
       „Umstrukturierung der Bevölkerung Deutschlands“ schrieb. Die entscheidenden
       Fragen dieses Jahres seien: „Sind wir Zeuge einer demokratisch nicht
       gedeckten, fundamentalen Veränderung des Staatsvolkes? Treibt Merkel diese
       offensiv voran?“ Jakob Augstein sah darin den nationalsozialistischen
       Kampfbegriff der „Umvolkung“. Dennoch bewegen sich Kisslers Texte im
       Rahmen des Grundgesetzes. Anders sieht das in seinem Twitterprofil aus.
       
       Wer sich die Mühe macht, die gut 21.000 Tweets anzuschauen, die er
       favorisiert hat, findet Eindeutiges. Kissler vergibt Twitterherzen für
       Tweets, in denen Flüchtlinge als „Rapefugees“ bezeichnet werden, als
       „perverse Kifis“, die „ihrem Trieb frönen“ und gierig seien auf
       „Kinderfleisch“. Tweets, in denen behauptet wird, die Gesellschaft würde
       verdummt, den Migranten zuliebe; in denen der Islam als „die schlimmste
       Seuche“ bezeichnet wird, die die Menschheit je gesehen habe, oder als
       „Faschismus unserer Zeit“. Kissler favorisiert Tweets von der AfD, der
       rechten Jungen Freiheit und deren Redakteuren, von noch weiter rechts
       stehenden Publikationen und Usern, die auf ihrem Twitteraccount zur
       Verteidigung der europäischen Zivilisation gegen „Islamisierung“ aufrufen.
       
       Er empfehle allen Kollegen, die Twitterei zu lassen, sagt Christoph
       Schwennicke, ohne dezidiert auf Kissler einzugehen. „Weil man als
       Journalist nie nur als Privatperson, sondern immer auch in einer
       professionellen Rolle twittert.“ Auf den Kollegen lassen Schwennicke und
       Marguier trotzdem nichts kommen: „Wir schätzen Alexander Kissler als
       ausgezeichneten Kollegen, auch wenn er manchmal Meinungen vertritt, die
       nicht immer unsere sind.“
       
       In einem Debattenmagazin komme es gut an, sagt Christoph Schwennicke, wenn
       auch abweichende, aber gut begründete Ansichten erörtert würden. In ihrer
       Grundhaltung seien sich aber alle Redaktionsmitglieder einig: In der
       Flüchtlingsfrage vertrete der Cicero die „Position der politischen
       Vernunft“.
       
       Richtigstellung: 
       
       In einer früheren Version war die Rede davon, dass in Cicero von
       „Invasoren“ geschrieben wurde. Tatsächlich wurde im Zusammenhang mit
       Flüchtlingen von der „Invasion der Machtlosen“ geschrieben. In einer
       früheren Version war die Rede davon, dass Schwennicke meine, dass auch
       abseitige Standpunkte zu drucken seien. Das hat er nicht gesagt, sondern
       von „abweichenden Standpunkten“ gesprochen. Es hat auch durchaus kritische
       Betrachtungen von Gewalt gegen Flüchtlinge in Clausnitz gegeben, und es
       sind auch schon mal Artikel erschienen, die andere Thesen als Sloterdijk
       vertraten.
       
       Die Redaktion
       
       2 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anne Fromm
       
       ## TAGS
       
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