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       # taz.de -- Mythos Mutterschaft: Ach, Mutter
       
       > Die eine bereut, Mutter geworden zu sein. Die andere hat ihre Kinder nach
       > der Trennung beim Vater gelassen. Wie Frauen eine alte Rolle neu
       > interpretieren.
       
   IMG Bild: Darf eine Mutter ihrem alten Leben nachtrauern? Darf sie ihre Mutterschaft bereuen?
       
       Leipzig/Berlin taz | Mit 14 oder 15 Jahren, so genau weiß sie das nicht
       mehr, hatte Karo Weber einen Traum. Es war Sommer, sie trug die Haare offen
       und lief in einem weißen langen Kleid barfuß über die Wiese. Unter dem
       luftigen Kleid steckte ein dicker Bauch. „Ich hab mich so glücklich gefühlt
       in diesem Traum, es war so ein tiefes Gefühl, endlich komplett zu sein. Und
       dieses Gefühl wirkte auch nach dem Aufwachen nach“, erzählt die 33-Jährige
       auf ihrem Balkon im Leipziger Stadtteil Connewitz. Am Geländer dreht sich
       ein buntes Windrad, sie zieht an ihrer Zigarette, Marke Davidoff. Sie bläst
       den Rauch in die Luft und sagt: „Ich wollte immer Mutter werden.“
       
       Frau sein.
       
       Schwanger sein.
       
       Komplett sein.
       
       Jetzt, gegen ein Uhr an diesem warmen Tag im Mai, sitzt Weber eine Stunde
       lang entspannt da, mit einem Kaffee in der Hand, isst ein Stück Schokolade
       und erzählt. Mit 27 Jahren, mehr als ein Jahrzehnt nach ihrem Traum, wurde
       Karo Weber wirklich schwanger. Sie empfand das tatsächlich als etwas
       Erfüllendes. Bis zur Geburt. Bis zu dem Septembertag im Jahr 2010, als sie
       im Krankenhaus lag, nackt, mit gespreizten Beinen.
       
       Wenn sie über die Geburt ihres Sohnes spricht und die Zeit danach, macht
       sie oft Pausen zwischen dem Reden. Dann schweift Karo Webers Blick über die
       Wiese mit den Ahornbäumen, in denen Vögel zwitschern. Und weil es in dieser
       Geschichte nicht nur um sie, sondern auch um ihr Kind geht, hat sie darum
       gebeten, dass sie beide nicht mit ihren richtigen Namen darin auftauchen.
       Es ist eine Geschichte über das Leben als Mutter. Über das Hadern damit.
       
       ## Am Ende Kaiserschnitt
       
       „Der Geburtsprozess hat mich traumatisiert“, erzählt Karo Weber. „Ich kam
       mir vor wie beim Fleischer. Ab und zu kommt jemand rein, zack, greift dir
       zwischen die Beine und guckt, wie weit dein Muttermund schon geöffnet ist.“
       Am Ende wurde es ein Kaiserschnitt. Weber erinnert sich an diesen Moment
       nach dem Aufwachen: Ein Baby lag neben ihr. Ihr Baby. Aber bevor sie
       glücklich darüber war, war da die Panik: „Oh Gott, was soll ich jetzt
       machen.“
       
       Es ließe sich sagen, dass zwar nicht alles planmäßig lief, es aber mit
       einem Happy End ausging. Karo Weber war gesund, ihr Sohn auch. Aber ihre
       Geschichte ließe sich auch so erzählen, dass die Idee, wie eine gute Mutter
       zu sein hat, schon früh in uns verankert ist. Dass es erschreckend sein
       kann, wenn das eigene Gefühl vom Ideal abweicht. Wenn man eben nicht
       intuitiv weiß, was man mit einem Baby anfangen soll. Und Webers Geschichte
       erzählt davon, wie eine Frau die Kontrolle verliert. Über ihren Körper, ihr
       Leben.
       
       Blauäugig sei sie gewesen, sagt Karo Weber. „Ich dachte, ich werde mein
       Baby haben, wir werden uns lieb haben, alles wird gut.“ Sie hat ihr Kind
       lieb. Aber es wurde nicht alles gut.
       
       Karo Weber sagt: „Wenn ich die Wahl hätte, unter den gleichen Umständen,
       dann würde ich das Kind nicht noch einmal bekommen.“
       
       Die ersten anderthalb Jahre hat Weber genossen, doch mit der Zeit verlor
       sie ihren Freundeskreis, in dem noch niemand Kinder hatte. Sie zog aus
       Berlin weg, zurück in ihre Heimatstadt Leipzig, um ihre Eltern in der Nähe
       zu haben. Der Vater des Kindes verließ sie. Er kümmert sich nicht, zahlt
       keinen Unterhalt. Sie rechnet im Supermarkt, ob sie Geld für das
       Küchenpapier mit dem eingestanzten Muster hat. Details sind ihr wichtig. In
       ihrem Wohnzimmer sind die Farben von Gardine, Teppich und Teelicht
       aufeinander abgestimmt – Lila und Fliedertöne.
       
       Wieder ein Zug an der Zigarette. Sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie
       ungeduldig ist, laut wird. Sie möchte eine gute Mutter sein.
       
       ## Wer ist im Jahr 2016 eine gute Mutter?
       
       Karo Weber muss nicht lange überlegen. „Eine gute Mutter ist immer
       präsent“, sagt sie. „Sie ist immer ein gutes Vorbild. Sie ist immer
       glücklich. Sie trinkt keinen Prosecco um vier. Und sie benutzt nie das böse
       S-Wort.“ Eine gute Mutter ist eine, die nicht „Scheiße“ sagt.
       
       „Wenn ich mit meiner Freundin am Rand des Spielplatzes sitze, mit meiner
       Zigarette und einem Piccolo in der Hand und keine Lust habe, Sandburgen zu
       bauen“, sagt Karo Weber, „dann scherzen wir immer: Wir schlechten Mütter.“
       
       Gute Mutter, schlechte Mutter. Gibt es nichts dazwischen? In unseren Mythen
       symbolisieren zwei Figuren recht gut das schwarz-weiß gezeichnete
       Mutterbild in Westeuropa: Maria und Medea. Medea, die Königstochter aus der
       Argonautensage, bringt aus Eifersucht ihren Exmann um und ihre Kinder. Sie,
       manchmal dargestellt mit zwei Kindern und einem Dolch, ist das
       Worst-Case-Szenario der Mutterschaft: rachsüchtig, impulsiv, mörderisch.
       
       Mit Maria beginnt das Neue Testament, die Grundlage des Christentums, sie
       gebiert Jesus, ohne vorher Geschlechtsverkehr zu haben. Unbefleckt. Rein.
       Maria wird oft mit einem langen Mantel dargestellt, unter dem sie eine
       Schar von Gläubigen schützt, die Kinder Gottes.
       
       ## Der Sonne entgegen
       
       Heute holen Lucas Großeltern ihn von der Kita ab. Nur deshalb hat Weber
       Zeit, über ihr Leben mit ihrem 5-jährigen Sohn zu reden. Der Morgen fing
       rasant an. Zehn vor sieben trällerte noch eine Frauenstimme aus dem Radio,
       da rief Karo Weber aus der Küche: „Komm Schatz, jetzt anziehen.“ Dann
       huscht sie in türkiser Jogginghose und pinken Pantoffeln ins Kinderzimmer.
       
       Luca sitzt in Unterhose mit halb hochgezogener blauer Jeans auf seinem
       Hochbett und brabbelt vor sich hin. Beim Anblick seiner Mutter zieht er
       sofort seine Hose hoch. Es muss jetzt schnell gehen. Während Luca ins Bad
       geht und sich langsam die Zähne putzt, kämmt sich Karo Weber rasch die
       langen blondierten Haare, dann läuft sie ins Schlafzimmer, Luca tippelt
       hinterher, schmeißt sich mit Schwung aufs Bett. Die sorgsam gefaltete Decke
       neben ihm plustert sich auf. Er rollt sich auf den Rücken und macht
       Babygeräusche.
       
       „Hör auf damit. Du bist kein Baby. Und ich bin auch kein Baby.“
       
       Karo Weber zieht sich um. Luca will spielen.
       
       „Hör, bitte auf damit. Kannst du nicht etwas anderes machen? Etwas
       spielen?“, ruft Weber. Luca rennt ins Kinderzimmer, schnappt sich ein
       Comicheft mit Robotern, ruck, zuck hat er es durchgeblättert. Er greift
       nach seinem Plastikgewehr, lädt es und schießt orange Bälle durch den Raum.
       Dann die Autos, brumm, brumm fahren sie über den Teppich, ein Propeller
       surrt in die Höhe. Das aufgeräumte Zimmer versinkt im Chaos.
       
       ## Sie taucht nie ab
       
       Karo Weber trägt jetzt einen Jeansminirock, Stulpen und Chucks, ein T-Shirt
       mit einem Peacezeichen. Sie wirft einen Blick ins Kinderzimmer, und
       schüttelt den Kopf: „Das waren keine fünf Minuten.“ Aber für Aufräumen
       bleibt keine Zeit. Um 7.15 Uhr müssen beide das Haus verlassen. Luca
       versucht sich im Flur die Jacke zuzumachen. „Dieser blöde Reißverschluss“,
       sagt er und zerrt daran. Karo Weber hilft ihm, sagt „ach, Männer“ und
       drückt ihm eine Sonnenbrille in die Hand.
       
       „Komm Hase, wir fahren der Sonne entgegen“, sagt sie und schließt die
       Wohnungstür.
       
       Bevor es los zur Kita geht, muss Luca einen Fahrradhelm aufsetzen, blau mit
       Rennautos, er steigt aufs gelbe Fahrrad und düst los. Weber schwingt sich
       auch aufs Rad und überholt ihn. Routine. Im Fahren gibt sie Anweisungen:
       „Komm, die Ampel kriegen wir noch.“ „Nein, halt, hier stehen bleiben.“
       
       Meist sieht Luca seine Mutter von hinten, wie ihre langen Haare über die
       Jacke wehen. Manchmal tritt er in die Pedale, überholt sie kurz. Aber mit
       der Geschwindigkeit von Karo Weber mitzuhalten, ist nicht leicht. Kaum bei
       der Kita angekommen, geht sie mit schnellen Schritten zur Glastür, an der
       steht: 6 Fälle Windpocken 1 Fall Influenza B. Dann eilt sie den langen Gang
       entlang, während Luca hinterherschlurft und die rechte Hand über die Wände
       zieht. Karo Weber dreht sich um: „Komm jetzt.“
       
       In der Umkleide plaudert Karo Weber nebenbei mit einem Vater, Hausschuhe
       an, Küsschen Hase, viel Spaß und kaum ist Luca verschwunden, schwingt sich
       Karo Weber wieder aufs Rad, zur Schule, sie überfährt mindestens drei rote
       Ampeln. Sie macht eine Umschulung zur Kauffrau für Büromanagement. Mit
       ihrem Bachelor in Interkulturellen Europa- und Amerikastudien fand sie
       keinen Job. Heute ist der letzte Tag vor den Prüfungen. Sie besprechen
       Übungen, gleichen Ergebnisse ab. Karo Weber dreht sich zu ihren Mitschülern
       um, sitzt kaum still, scherzt. Sie taucht nie ab. Sie spielt an ihrem
       Computer Solitär und ruft dabei Lösungen in den Raum.
       
       ## Überhöhtes Bild
       
       Frauen können in Deutschland heute selbst bestimmen, ob, wann und wie sie
       Mutter werden wollen. Sie haben sich auch das Recht erkämpft, ein Kind
       nicht zu wollen. Am 6. Juni 1971 titelte das Magazin Stern „Wir haben
       abgetrieben“. 374 Frauen bekannten sich öffentlich zu ihrer Abtreibung,
       damals war das noch illegal. Heute haben Frauen in Deutschland die
       Kontrolle über ihren Körper. Eigentlich.
       
       Das Bild der guten Mutter ist in Deutschland besonders überhöht. Auch weil
       die Nationalsozialisten die Idee von der Frau als Gebärende und
       Kinderkümmerin mit ihrem Mutterkult noch einmal richtig groß machten und
       diese Vorstellung in der Nachkriegsrepublik lange überlebte. Bis heute
       müssen sich Frauen erklären, wenn sie keine Kinder haben wollen.
       
       Oder schlimmer noch, wenn sie bereuen, welche bekommen zu haben. Am
       vergangenen Mittwoch veröffentlichte das amerikanische Netzmagazin Slate
       wieder eine Geschichte darüber, die Autorin fordert: „Germany, Set Free the
       Rabenmutter!“. Und es war Deutschland, wo eine Studie über bereuende Mütter
       besonders großen Aufruhr auslöste.
       
       ## Darf man Kinder bereuen?
       
       23 Frauen hat die israelische Soziologin Orna Donath für ihre Doktorarbeit
       interviewt. Diese Frauen, egal ob 26 oder 73 Jahre alt, ob Arbeiterklasse
       oder Mittelschicht, ob verheiratet oder getrennt, beantworteten alle eine
       Frage gleich: „Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, mit den
       Erfahrungen die Sie heute haben, wären Sie dann Mutter geworden?“
       
       Die Antwort: Nein.
       
       „Wir können so vieles bereuen, sagt Orna Donath bei der Vorstellung ihres
       Buches „Wenn Mütter bereuen“ im März in Berlin. „Einen Job. Eine
       Schönheits-OP. Eine Ehe. Ein Tattoo. Warum nicht auch die Mutterschaft?“
       
       Nachdem die Studie veröffentlicht war, folgte in Deutschland eine
       emotionale Debatte. Inklusive neuen Büchern wie „Die Mutterglück-Lüge“,
       „Die falsche Wahl“ und „Wenn Mutter sein nicht glücklich macht“. Unter dem
       Hashtag #regrettingmotherhood stritten sich in den Foren des Internets
       Frauen und Männer, die sich solidarisierten mit solchen, die den bereuenden
       Müttern eine Entwertung der Mutterschaft und Gefühlskälte vorwarfen.
       
       Könnte nicht beides zugleich existieren? Dass Frauen bereuen, Mutter
       geworden zu sein, und ihr Kind trotzdem lieben?
       
       „Ich liebe mein Kind, aber ich habe mich selbst geopfert“, sagt Karo Weber
       auf ihrem Balkon. „Ich bin das übrig gebliebene Elternteil, eingeschränkt
       in meinen Handlungsoptionen, auch in der Jobwahl, selbst meinem Bedürfnis,
       mit jemanden persönlich zu sprechen, kann ich nicht immer nachkommen. Ja,
       klar, ich kann telefonieren, aber das ist nicht das Gleiche.“
       
       Weber bereut nicht, dass es Luca gibt. Aber sie würde gern anders leben.
       Sie sagt: „Womit ich nach wie vor nicht klarkomme, ist, dass ich meinen
       Impulsen nicht nachkommen kann. Dass dieses Zwanglose, Unkomplizierte
       verloren gegangen ist.“
       
       Sie hat gern getrunken und gefeiert. Aber es gehe ihr nicht darum, jede
       Woche in einer Bar abzuhängen. Ihr macht das Gehetzte und Pausenlose zu
       schaffen: Kind anziehen, Kita, Schule, abwaschen, saugen, ihre Hausaufgaben
       machen, Spielplatz, zum fünften und sechsten Mal ermahnen, nein, das darfst
       du nicht. Das dauernde Warten auf Luca, wenn sie viel zu tun hat. „Ich
       mache das alles allein“, sagt Karo Weber. „Ich fühle mich manchmal allein.“
       
       Dass es nicht nur ihr so geht, weiß sie. Wissen schließlich alle. Nahezu
       jede dritte Ehe wird geschieden, Frauen verdienen weniger, arbeiten öfter
       in Teilzeit, übernehmen den Großteil der Erziehung und der Hausarbeit.
       
       Seit zwei Jahren hat sie einen neuen Partner. Der überlasse die Erziehung
       von Luca vollständig ihr. Sie habe ihn bisher auch nicht um Hilfe gebeten.
       „Aber er sieht doch, wie ich lebe“, sagt Karo Weber.
       
       ## Wie sähe eine Welt aus, in der sie gern Mutter wäre?
       
       „Es gibt doch eine Idealsituation: Man hat einen Partner, der sich kümmert,
       einen Job, Sicherheit. Und die Mutter macht nicht alles allein. Die
       Großeltern, die Geschwister oder gute Freunde wirken bei der Erziehung
       mit.“
       
       Wenn die Umstände besser wären, dann wären auch die Mütter glücklicher?
       Einige sicher. Nicht alle.
       
       In ihrer Untersuchung befragte Orna Donath Frauen die generell lieber kein
       Kind geboren hätten. Als sie ihr Buch in Berlin vorstellt, sagt Donath, es
       sei wichtig, dass auch Frauen, die es mühsam finden, Mütter zu sein, sich
       äußern. Frauen wie Karo Weber. Sie alle sollen Reue ausdrücken können,
       Bedauern.
       
       Wenn die Aktion gegen Abtreibung 1971 im Stern gezeigt hat, dass Frauen um
       die Hoheit über ihren Körper kämpfen, so demonstriert Donaths Studie
       vielleicht, dass Frauen jetzt um die Hoheit über ihre Gefühle kämpfen.
       Warum sollte jemand Frauen vorschreiben können, wie sie zu empfinden haben?
       
       Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied. Die 374 Frauen im
       Stern ließen sich mit Foto und Namen ablichten. Die meisten Mütter, die
       bereuen, ein Kind bekommen zu haben, bleiben anonym. Wie Karo Weber. Wer
       will schon als Rabenmutter gelten?
       
       ## Die Rabenmutter
       
       Anne Bonnie Schindler hat sich genau dieses Wort geschnappt: Rabenmutter.
       Das Schimpfwort für Frauen, die ihre Kinder vernachlässigen, weil die Leute
       einmal glaubten, Raben würden ihre Jungen zu früh aus dem Nest jagen.
       Schindler, 35 Jahre alt, will einen Verein gründen, der diesen Namen trägt:
       Raben-Mütter e. V. Ihr Herzensprojekt, wie sie es nennt, soll über die
       Mutterrolle und ihre Mythen aufklären. Sie sitzt mit ihrem Sohn im
       linksalternativen Café Kollektiv in Berlin-Neukölln und erzählt, wie sie im
       März 2015 einen Onlineaufruf startet und Unterstützung sucht.
       
       Sie will Müttern wie Karo Weber helfen, Müttern wie sie selbst. Schindler
       bekommt mit 18 Jahren ihr erstes Kind, mit 21 das zweite. Jeweils vier
       Monate nach der Geburt geht sie wieder arbeiten. Mit ihrem
       Hauptschulabschluss jobbt sie hier und da, in Kantinen, sie geht putzen,
       steht am Fließband. Sie und ihr Mann arbeiten, teilen sich den Haushalt,
       beide kümmern sich um die Kinder. Aber die Trennung verändert die
       gleichberechtigte Elternschaft: Als Schindler mit 23 Jahren auszieht, sind
       die Kinder zweieinhalb und fünf Jahre alt.
       
       Anne Bonnie Schindler geht. Sie sagt ganz bewusst „gehen“. „Bei dem Wort
       ‚verlassen‘, kriege ich Haare auf den Zähnen“, sagte sie, während sie Said
       einen Löffel vom Gläschen feines Bio-Früchtemus in den Mund schiebt. Said
       ist Schindlers drittes Kind. Aber dazu später.
       
       Sie geht aus ihrer Heimat Bayern nach Berlin, um auf dem zweiten
       Bildungsweg ihr Abitur nachzuholen. Ihre beiden ersten Kinder bleiben beim
       Vater. Männer tun das öfter einmal, Mütter, die nach einer Trennung nicht
       bei den Kindern bleiben, gibt es weniger. Vielleicht treten sie auch nicht
       so an die Öffentlichkeit. In Schindlers Nachbarschaft rumort es: Sie sei zu
       jung Mutter geworden, sie sei überfordert, sie sei egoistisch. Irgendetwas,
       so viel ist klar, kann mit ihr nicht stimmen. Das Jugendamt fragt sie, ob
       sie drogenabhängig sei. Gewalttätig.
       
       „Warum konnte ich nicht wie tausend andere Väter agieren?“, fragt sie.
       „Warum ist eine Frau ein krankes Miststück?“ Sie kommt ins Stocken, sucht
       nach Worten, fängt sich. Dann sagt sie: „Ich bereue nichts, weder dass ich
       Kinder bekommen habe, noch dass es so gekommen ist.“
       
       ## Kein Kontakt mehr
       
       Seit Anfang 2015 hat Schindler erneut keinen Kontakt mehr zu den beiden
       ersten Kindern. Manchmal schmerzt das. Ihre Entscheidung bedeute doch
       nicht, dass sie nicht mehr Mutter sein, ihre Verantwortung nicht wahrnehmen
       wolle.
       
       Sie verlor immer wieder den Kontakt zu ihren Kindern. Sie stritt sich mit
       ihrem Exmann vor Gericht. Nach der Scheidung will auch ihre Mutter mit ihr
       nichts mehr zu tun haben.
       
       „Mütter, die gehen, werden pathologisiert, weil wir davon ausgehen, dass
       Mutterschaft etwas Intuitives ist“, sagt Schindler. Fernab von
       gesellschaftlichen Konventionen habe sie bei der Trennung eine bewusste,
       rationale Entscheidung getroffen: „Was kann er? Was kann ich? Und dann bin
       ich einen großen Verlust eingegangen.“ Mehr will sie dazu jetzt nicht
       sagen.
       
       Sie holt in Berlin ihr Abitur nach, fängt eine Ausbildung zur Erzieherin
       an, bricht sie ab, arbeitet als Türsteherin, eröffnet mit einer Partnerin
       den alternativen Sexshop „Other Nature“ in Berlin. Sie steigt wieder aus
       und beginnt eine Ausbildung zur Heilpraktikerin, die sie unterbricht, als
       sie erneut schwanger wird – mit Said.
       
       ## Das dritte Kind macht sie unangreifbar
       
       Sie freut sich, sagt sie. Über das Kind. Aber auch darüber, dass sie das
       mit dem Verein nun durchziehen kann. Sie sagt, sie habe diesen Schritt nur
       gehen können, weil sie wieder schwanger war.
       
       „Ich wusste, wenn Said da ist, kann mich keiner mehr treffen“, sagt Anne
       Bonnie Schindler. Zweifel und Schuldgefühle seien irgendwie auch immer da
       gewesen: „Hat das mit einem Mangel, mit fehlender Mutterliebe zu tun?“
       
       Schindler muss erneut Mutter werden, um den Verein Raben-Mütter gründen zu
       können, „bunt, alternativ und Freundinnen aller Familienmodelle“. Offen für
       heterosexuelle Männer, Schwule, Lesben, Queere und Transmenschen. Der
       Verein soll für die soziale Familie einstehen – Bindungen sollen mehr
       zählen als Blutsverwandtschaft. Ein Ziel von Raben-Mütter e. V. ist, dass
       mehr als zwei Personen in die Geburtsurkunde eines Kindes eingetragen
       werden können.
       
       Was Familie ist und was eine Mutter, hat sich schließlich nicht zum ersten
       Mal verändert. Vor der industriellen Revolution arbeiteten viele Frauen
       selbstverständlich auf dem Feld, im Haus, im Garten, in Geschäften mit. Die
       Großfamilie produzierte, was gebraucht wurde. Geschlechterteilung gab es.
       Aber zwischen unbezahlter Hausarbeit und entlohnter Erwerbsarbeit außer
       Haus zu unterscheiden, etablierte sich erst mit dem Auslagern der
       Produktion in Fabriken und andere Betriebe. Sich um Kinder zu kümmern,
       wurde zunehmend Aufgabe der leiblichen Mutter.
       
       Anne Bonnie Schindler scheitert. Raben-Mütter e. V. scheitert. Am 7. März
       2016, einen Tag vor dem Internationalen Frauentag, postete der Verein auf
       Facebook: „Nach langem Überlegen wird der Zusammenschluss, einen Verein für
       alleinstehende Mütter zu gründen, nicht weiter nachgegangen. Es haben sich
       trotz viel positiven Feedbacks leider nicht die nötigen Mitglieder gefunden
       und die gesetzten Ziele wurden nicht erreicht.“
       
       ## Eine harte Zeit
       
       Es hätten sich viele Frauen gemeldet, sagt Schindler, aber sie wollten nur
       in einem geschützten, nicht öffentlichen Raum sprechen. „Kaum jemand war
       bereit, die Probleme nach außen zu tragen.“
       
       Anfang Juni steht sie in Leggins und buntem T-Shirt in ihrer Küche am Herd
       und kocht Kaffee. Sie sagt: „Die Ideen sind im Ordner.“ Auf dem linken Arm,
       der bis zu den Händen tätowiert ist, hält sie Said. Ein Jahr ist er jetzt
       alt, er kränkelt. Sie stellt eine Schale Heidelbeeren auf den Tisch. Sie
       scheucht den Hund hinaus, um den sie sich gerade mitkümmert. Sie hebt Said
       auf seinen Kinderstuhl, dann setzt sie sich selbst.
       
       „Die letzte Zeit war hart“, sagt Schindler, steht wieder auf und testet, ob
       die H-Milch noch gut ist. Sie flockt. Seit drei Monaten klafft eine Lücke
       unter der Arbeitsplatte. Der Kühlschrank fehlt, das Geld für einen neuen
       auch. Das Jobcenter hat sie zu Rückzahlungen verpflichtet, also hat sie die
       letzten Monate von 250 Euro gelebt.
       
       Dazu das Auf und Ab mit dem Vater des Kindes, von dem sie zwar getrennt,
       aber um eine gute Beziehung bemüht ist. Sie versucht wieder Kontakt zu
       ihrer Mutter zu bekommen. Die Frau, mit der sie den Raben-Mütter-Verein
       gründen wollte, möchte nicht mehr mitmachen. Schindler hat ihre Ausbildung,
       die sie wegen Said unterbrochen hat, wieder angefangen. Sie fehlt an vielen
       Tagen, Kind krank, sie krank, Tagesmutter krank.
       
       Said nuckelt an seinem Schnuller und versucht mit einem Löffel Heidelbeeren
       aus der blauen Schüssel Richtung Mund zu transportieren. Die meisten
       kullern auf den Küchenboden. Sie küsst ihn überall auf den ganzen Bauch. Er
       läuft ein paar wackelige Schritte zum Hund. Laufen kann er erst seit
       kurzem.
       
       Said rollt einen Ball zu seiner Mutter und lacht. Sie lacht auch und rollt
       ihn zurück.
       
       ## Die Rolle abgeben
       
       Seit ihre Tochter Streit mit ihrem Vater hat, hat Schindler wieder Kontakt
       zu ihr. Schindler weint, während sie das erzählt, schnappt sich Said und
       küsst ihn auf den Kopf. Sehr lange habe sie auf diesen Moment gewartet. Die
       Tochter habe viele weibliche Bezugspersonen in Bayern. „Doch sie braucht
       mich jetzt, als biologische Mutter.“
       
       Mutter zu sein sei eine Rolle, sagt Anne Bonnie Schindler. Gerade für sie,
       „denn eigentlich bin ja ein zorniger Mensch.“ Das müsse sie kontrollieren.
       „Aber das kann ich“, sagt sie, „ich war ja auch Türsteherin und
       Geschäftsfrau.“ Wenn Mutter eine Rolle ist, müsste es dann nicht auch
       möglich sein, diese Rolle abzulegen? Die Feministin Simone de Beauvoir hat
       in ihrem Klassiker „Das andere Geschlecht“ 1951 geschrieben: „Man wird
       nicht als Frau geboren, man wird es.“ Wird eine Frau mit der Geburt eines
       Kindes nicht automatisch zur Mutter?
       
       Karo Weber schenkt sich an dem Freitagabend im Mai auf ihrem Balkon in
       Leipzig ein Glas Rotwein ein. In ein paar Tagen wird sie ihre
       Abschlussprüfung schreiben. Sie sagt: „Heute war es ruhig.“ Sie hat den
       Kleinen fertig gemacht, zur Kita gebracht, war in der Schule, einkaufen,
       hat den Kühlschrank abgetaut und sauber gemacht. Gleich nach dem Abendessen
       muss Luca ins Bett. „Ach, wären wir einfach zum See gefahren“, sagt Karo
       Weber. „Oder ins Café.“ Normalerweise geht die Berufsschule länger als
       heute, ihre Eltern können oft nicht auf Luca aufpassen.
       
       Dann muss sie zur Kita rennen, ihn am Dienstag zur Logopädie bringen, zum
       Schwimmunterricht am Mittwoch. Heute schiebt sie Tiefkühlpizza in den Ofen
       und tröstet Luca, als er erzählt, dass er seinen Propeller verloren hat.
       Sie macht ihm den Fernseher an. Es läuft „Heidi“ – die Geschichte über ein
       Waisenkind, das nach dem Tod der Eltern zum mürrischen Großvater in die
       Berge ziehen muss.
       
       Karo Weber hat seit der Geburt ihres Kindes zwei Kleidergrößen abgenommen.
       
       Wenn es gerade gut läuft mit ihrem Freund, in den schönen Momenten, da
       denkt sie über ein neues Kind nach. „Irgendwie ist es doch immer noch so“,
       sagt sie und trinkt einen Schluck Rotwein , „ein Kind ist doch die Krönung
       einer Liebe.“
       
       10 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jasmin Kalarickal
       
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